Ein planloses Leben – Teil 1. Heinz Suessenbach

Ein planloses Leben – Teil 1 - Heinz Suessenbach


Скачать книгу
Direkttreffer gegeben. Es war eine dreistöckige Villa, die als Lazarett diente. Die erlitt einen Volltreffer mitten ins Dach. Die Frauen wurden zu Hilfe befohlen, aber Renate und ich mussten im Haus in der Küche bleiben. Draussen gab’s Geschrei und Befehle und lauter Stimmengewirr. Als Muttl mit Annelies zurückkam – mein Gott, die sahen aus. Muttl war grau und alt. Ihre Haare hingen in Strähnen, und ihre Lippen waren weiß und so zusammengepresst. Renate hat mir dann zugeflüstert, dass es viele Tote und Verwundete gegeben hat, und viele Verwundete waren auf unserem Hof aufgebahrt. Als wir am nächsten Tag raus durften, hatte man die Toten schon weggeschafft, und die Frauen weinten über sie. Die armen Kerle waren an der Front verwundet, wurden dann Gott sei Dank in die Heimat transportiert und dankten dem Lieben Gott dafür, und dann wurden sie doch noch getötet. Ich dachte, daß Gott ein böser Kerl war, aber Renate sagte sofort „pssssst!“ Wir durften im Hof zwischen den Bahren der Verwundeten umherwandern und haben mit manchen gesprochen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite standen viele stolze Villen, die reichen Juden gehörten. Diese Juden waren alle reich, wurde uns immer erzählt, aber die Juden, die ich gesehen hatte, sahen nie reich aus, eher sehr verarmt und zottelig. Sie wanderten umher in schwarzen Mänteln, Hüten und langen Haaren und rochen immer nach Zwiebeln. Ihre Kinder taten uns immer leid, denn die sahen zerlumpt aus und hatten große, hübsche, fragende, dunkle und traurige Augen. Diese Juden gingen von Tür zu Tür und wollten Sachen tauschen – keipeln. „Haben Sie was zu keipeln?” Muttl wollte die Mädls von der Schule zurückhalten, aber das war streng verboten. Sie mussten zur Schule gehen, „denn der Krieg wäre bald zu Ende!“ Außerdem war in der Schule ein großer Keller, also keine Ausrede. Manche Esswaren sind schon ’ne ganze Weile rationiert. Jeder Erwachsene bekam 200 g Brot am Tag, 200 g Kartoffeln, 10 g Zucker, 5 g Malzkaffee (also Ersatzkaffee), 2 g Salz und 25 g Fleisch. Das waren die täglichen Rationen für Erwachsene. Die Kindermarken hatten andere Farben. Wieso ich das alles weiß? Die Mädels hatten mir es immer wieder eingetrichtert und aufgeschrieben, dabei musste ich Zahlen lernen und auch, wie man addiert. Ich konnte addieren, bevor ich zur Schule kam, aber buchstabieren und lesen konnte ich nicht richtig. Es gab auch rationsfreie Kost, z. B. verschiedene Arten von Rüben und Kartoffelmehl. Zuckerrüben waren sehr begehrt, denn da bekam man einen ganzen Berg. Die Rüben musste man schälen, in Stücke schneiden und dann in der Waschküche in dem großen Kessel kochen. Dabei durfte ich rühren, so wie ich das auch beim Wäschekochen durfte. Wie aus diesem Rübenbrei aber Sirup gemacht wurde, das weiß ich nicht, aber daß der prima schmeckte, weiß ich genau. Nach ’ner Weile wurde einem der Sirup-Geschmack aber zuwider.

      Uns im Hof ging’s wirklich nicht schlecht, denn der Schweinebauer hat uns oft Schweinefleisch gegeben, und für jedes übrige Pfund Schweinefleisch konnte man Butter, Brot und Mehl eintauschen. Also uns ging’s wirklich gut. Dann begannen die Nachtbombardierungen. Es war so wundervoll für mich.

Renate, Annelies und ich

      5 Wir sind die Front

      Die Kolonnen der zurückziehenden Armee waren endlos. Unser ganzer Hof war nun gerammelt voll mit Soldaten und Fahrzeugen. Das war wahnsinnig interessant – wunderbar. Ans Spielen war überhaupt nicht mehr zu denken, wo es doch so viel zu bewundern gab. Die Soldaten lagen, saßen, aßen, scherzten mit uns oder wuschen sich. Da parkten Laster, Pferdewagen, Motorräder und sogar Fahrräder, und ich durfte oft auf Fahrzeugen sitzen. Mann, das war doch wirklich herrlich, und die Männer waren so lustig und haben sogar ihr Essen mit uns geteilt, und die Mädels haben sie immer geneckt. Ich durfte sogar Gewehre tragen und oft damit marschieren – es war zum Jauchzen schön. Natürlich hatte ich immer Vatls Käppi auf und die Pfeife in der Hand gehabt, und manchmal haben die Soldaten mir sogar Feuer angeboten, aber die wussten, dass da kein Tabak drin war. Den Frauen haben sie zugeflüstert, daß der Krieg nicht gut aussah, aber das sollte nicht zu laut geflüstert werden. Sie rieten den Frauen, nur das Nötigste zu packen und gen Westen zu flüchten. Goebbels brüllte weiter im Radio, daß an Flucht überhaupt nicht zu denken sei, denn wer flüchtet, ist ein Vaterlandsverräter und wird auf der Stelle erschossen, denn unser Sieg ist vollkommen sicher. In jeder Stadt in Deutschland wird der Volkssturm gebildet, wo alte Männer und Knaben bereit sind, den Endsieg zu erringen. Frau Major hat uns erklärt, warum wir nicht zum Volkssturm brauchten; die zweite Zone, d. h. die letzte, war bei uns schon vorbei und liegt nun zwischen uns und der Oder. Keine von unseren Frauen verstand, was das überhaupt bedeutete, und was mir Renate zuflüsterte, verstand ich gleich gar nicht. Aber da die Frau Major es geflüstert hat, fühlten wir uns informiert. Trotz Goebbels’ endlosen Drohens sahen wir viele Flüchtlinge zwischen den vorbeiziehenden Militärkolonnen mit Handwagen oder Pferdewagen, und sie sahen alle arm und müde aus. Wir erfuhren, dass diese Flüchtlinge aus Gebieten kamen, wo der Feind schon ist. Renate sagte mir, dass wir nicht nur gegen die Russen, sondern auch gegen den Feind kämpfen müssen, aber wer dieser Feind war, wusste sie auch nicht. Manchmal haben unsere Frauen Flüchtlinge eingeladen, so daß die sich richtig waschen konnten, und sie gaben ihnen auch zu essen. Die Leute sprachen ein komisches Deutsch und erzählten uns von Plünderern, Raub, Vergewaltigung und Mord, von den Polen und Tschechen ausgeführt. Aber immer wieder wurde geseufzt von der größten Gefahr – der roten Horde. Diese Berichte haben unsere Frauen restlos beunruhigt, und das Flüstern hörte nicht mehr auf. Muttl wollte sofort packen und abhauen, aber die Frau Major mahnte, daß es besser sei, noch ’ne Weile zu warten. „Ich muss euch unbedingt erst eine amtliche Bescheinigung besorgen und hernach auch den richtigen Moment zur Abreise vorschlagen“, beschwor uns die liebe Frau. Die Frauen hatten nur drei Leiterwagen, und so wurde beschlossen, daß es ratsamer sei, einen Pferdewagen mit Pferd zu besorgen für unser gemeinsames Gepäck. Schade – der Schweinebauer hatte keine Pferde. Die Soldaten rieten immer wieder: Mensch, Frauen, packt und haut ab westwärts zur Oder! Es ist viel viel besser, von den Alliierten gefangen zu werden als von den Russen! Manchmal waren es nun sogar Kanonen und Panzer, die vorbeizogen. Mann, das war ein Krawall; die Panzer klapperten, rumpelten, quietschten und polterten. Wenn die Frauen die Soldaten fragten, wie’s denn aussieht mit dem endgültigen Sieg, meinten sie, daß der Traum vorbei sei. „Aber sagt das ja nicht laut, denn die SS-Bluthunde sind überall und erschießen jeden, der ein einziges Wort äußert von wegen Niederlage oder Krieg verlieren!“ Wir mussten aber noch bleiben, obwohl Reichenbach ja im Mittelpunkt der „Zone“ lag, wie es geflüstert wurde. Zu der Zeit war ich 5 Jahre alt und hörte manches Flüstern, aber viel bedeutete es mir oft nicht. Immer wieder fragte die Mutter die Truppen, was die Chancen waren für unseren Vatl, und als sie zugeben mußte, daß sie von ihm seit zwei Jahren nichts gehört hatte, sehe ich heute noch den verlegenen Ausdruck der Soldaten. Muttl hat das auch mitgekriegt, obwohl die Soldaten immer versucht haben, tröstend zu sein. Meine Schwestern waren auch am zweifeln über Vatls Schicksal, aber ich sollte das ja nicht mitkriegen. Jeden Abend im Bett betete Muttl immer laut für Vatl und für uns alle und unsere Oma, alle Onkels, Tanten und deren Kinder. Die meisten davon kannte ich gar nicht, aber am Ende der Gebete hat sie immer dem lieben Gott gedankt, weil er uns alle immer beschützt. Das verwirrte mich ein bissel, weil ich doch wusste, dass sie Angst und Zweifel hatte. Eines Tages nahm mich Muttl auf eine Eisenbahnfahrt mit, das wurde ganz schnell geplant. Wir mussten zur Oma, Vatls Muttl in Oppeln. Muttl wollte wissen, ob Oma mitmacht, wenn wir auf die Flucht gehen. Daß wir flüchten werden, stand nun fest, aber wann, das hing von der Frau Major ab. Bei der Oma, kann ich mich erinnern, waren ein paar Frauen, und wir saßen im Wohnzimmer um den Tisch herum. Oma sah immer streng aus mit schneeweißsem Haar, und wenn sie mich gedrückt hat, was sie oft tat, war es immer ein festes Drücken. Das Wohnzimmer war halb dunkel, ein richtig düsterer Winternachmittag, aber woran ich mich genau erinnere, ist der feine Duft von Kaffee und Kuchen. Plötzlich klingelte es, und es war ein Polizist, der leise mit der Oma sprach. Als sie wieder zurückkam – oh mein Gott, sie sah furchtbar aus, vollkommen erschüttert, und sie stotterte. Natürlich wurde ich wieder abgeführt, wie immer, wenn’s spannend wurde. Durch die Wand konnte ich aber das Heulen und Seufzen der Frauen vernehmen. Ich glaube, erst auf der Heimfahrt im Zug hat Muttl mir die Tragödie erklärt. Oma hatte ja 6 Kinder; unser Vatl und sein Bruder, der Onkel Otto und vier Schwestern, meine Tanten. Meine einzige Erinnerung an Onkel Otto ist, wo er in Uniform in unserer Stube mich auf seinem Knie hatte und ganz zärtlich mit mir sprach. Seine Verlobte war Tante Wally. Sie hatten sich, kurz bevor


Скачать книгу