Ein planloses Leben – Teil 1. Heinz Suessenbach
saßen oder lagen. Muttel führte uns in eine Ecke, wo wir unser Gepäck unter dem letzten Fenster hinlegten. Renate und ich sollten uns niederlassen, und Muttl ging wieder runter zu Annelies wegen des Rests unserer Habseligkeiten. Muttl und Annelies waren total fertig, als endlich alles Gepäck in der Ecke gestapelt war. Dann lagen wir alle darauf und aalten uns, und auf einmal weinte Muttl. Sie war total fertig. Wir müssen alle geschlafen haben, denn ich träumte von der Landstrasse, als plötzlich Befehle über einen Lautsprecher kamen, daß alle Erwachsenen runterkommen müssen. Wir waren bestimmt nicht die Einzigen, die eingenickt waren, denn es gab ein lautes Stöhnen und Strecken. Renate und ich mussten beim Gepäck bleiben, und es tat uns so leid, Muttl und Annelies lostaumeln zu sehen. Es stellte sich heraus, daß der Schulkeller ein Waffenarsenal war, und alles sollte herausgetragen und ins Feld geschmissen werden. Es wurden zwei lange Schlangen gebildet, durch die dann Waffen und Munition von Hand zu Hand rausgefördert wurden bis weit ins Feld hinein. Wir konnten das alles von unserem Fenster aus sehen. Der Schulmeister rannte hin und her und gab laufend Anweisungen. Sogar wir Kinder verstanden diese mühsame Arbeit nicht, denn man konnte doch die Haufen von Waffen sowieso klar sehen. Später erzählte uns Annelies, was andere Flüchtlinge während dieser Arbeit alles berichteten. Grausamkeiten von Polen und Tschechen an deutschen Zivilisten, als die Wehrmacht weg war. Da wurden Frauen, Kindern und Greisen Augen ausgestochen und Kehlen durchgeschnitten. Mann, was fühlten wir uns da immer glücklich, und wir hatten das alles dem lieben Gott zu verdanken. Wenn Renate fragte, warum die armen Leute nicht gebetet haben zum lieben Gott, hatte Muttle keine Antwort. Ich dachte, dass der liebe Gott die Leute vielleicht nicht verstehen konnte, weil die eben doch ein komisches Deutsch sprachen. Die Sonne ging schon unter am hellroten Horizont als Muttl und Annelies endlich hochkamen. Annelies sagte, dass ihr alle Knochen wehtaten, und beide ließen sich schwer seufzend niederfallen. Meine große Schwester stöhnte, daß sie nicht mehr weiterkonnte, komme da, was wolle, und dann weinte sie. Mensch, das tat mir so leid. In solchen Situationen fühlte ich mich immer so nutzlos. Ich hatte Hunger, aber wie immer sagte Renate leise, daß ich das nicht laut sagen sollte, denn das täte Muttl so weh. Wir hatten ja noch Proviant in zwei Beuteln, aber wir mussten abwarten. Obwohl nun fast alle Familien müde auf ihrem Platz lagen, gingen doch lauter Gespräche hin und her durch den Saal, und die liegenden Frauen sprachen laut zur Decke hoch. Es war wirklich interessant zuzuhören, bis auf einmal eine Frau laut fragte, ob jemand Kanonendonner gehört hat den ganzen Tag. Totenstille! Eine Frau hoffte, daß die Russen vielleicht an Mittelsteine vorbei sind auf dem Weg nach Berlin oder sonst wohin. Oder war der Krieg vielleicht doch schon zu Ende? Plötzlich rochen wir Essen! Meine Renate war die Erste, die das erschnupperte. Und wieder krachte der Lautsprecher: Es gibt genug Essen und die Leute sollen etagenweise runterkommen, d. h. die Landsleute vom dritten Stock sollten zuerst runterkommen usw. Annelies ließ sich nicht überreden aufzustehen, sie drehte sich um und schlief weiter. Jeder hatte sein kleines Töpfel oder eine Pfanne oder was auch immer wir hatten und sind dann mit eifriger Erwartung runtergegangen. Da gab’s ein arges Gedränge, wenn Leute von den unteren Stockwerken reindrängeln wollten vor Hunger. Das tat einem so leid, aber immer wieder sagte der Lautsprecher, daß ja garantiert genug Essen für jedermann da war. Im Hof standen zwei Kessel Gulaschkanonen mit Suppe, wo sogar Fleisch drin war. Mann, haben wir uns gefreut, und jeder bekam eine Kelle voll. Man durfte nicht für eine andere Person mitnehmen, d. h. jeder musste sein sein eigenes Gefäß haben. An einer langen Tafel standen zwei Fässer mit heißen Kartoffeln, und jeder bekam eine. Herrlich. Wieder oben angelangt, kippten wir das alles in unseren großen Topf, woraus wir löffelten. Aber erst mussten wir warten, bis Muttl Annelies geweckt hat, und die musste erst zum Abort, und dann ging’s Löffeln los. Muttl hatte einen runden Laib Brot aus einem Sack und bröckelte den in den Topf, und dann ging’s los. Immer wieder ermahnte uns Muttl, ja schön langsam zu essen, denn das sättigte mehr, aber dem Rat zu folgen war überhaupt nicht leicht. Mann, hat das geschmeckt, und ich bilde mir ein, daß ich das heute noch schnuppern kann. Jetzt konnte ich mich auch mit anderen Kindern unterhalten, und die hatten Geschichten zu erzählen, was denen passiert war auf ihrer Flucht. Da musste ich natürlich auch mithalten und hab erzählt, daß mein Vatl mit seinem Panzer schon in Moskau war und daß der Krieg bald zu Ende ist. Hab auch gleich mein Käppi aufgesetzt, damit ich bissel ernst genommen wurde, aber doch merkte ich, daß ich meinen Zuschauern nicht groß imponierte. Schade, daß ich denen nicht das Bild zeigen konnte, wo mein Vatl an ’nem Strassenschild steht, auf dem stand: 100 km bis Moskau, denn das war ja verpackt. Vom offenen Fenster hörten wir eine Zugpfeife, und wie haben wir uns da wahnsinnig gefreut, daß wir vielleicht morgen schon losdampfen konnten nach Dresden, Frankfurt oder Bayern, denn diese klassischen Namen hatten wir schon dauernd von Leuten gehört. Die Frauen haben oft über den Schulmeister gespottet mit seiner emsigen Waffenzerstreuung aus dem Keller und seinem „Heil Hitler“. Nun gingen wir gemeinsam zur Toilette auf unserem Flur, wo eine ganze Reihe Klos und Waschbecken waren, und da haben wir uns so herrlich geschrubbt. Aber man musste sich beeilen, denn es warteten viele darauf, auch dranzukommen. Zurück in unserer Ecke, war ich bestimmt wieder der Erste, der ins Traumland schwebte. Wie oft haben mir später meine Mädels erzählt, daß ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit hinlegen und schlafen konnte. Ich hörte aber noch eine Frau sagen, daß wir Gott danken sollen, daß der vernarrte Schulmeister uns nicht bewaffnet hat, um uns gegen die Russen zu verteidigen.
16 Vatl lebt
Nun kamen Renate und ich oft zur gleichen Zeit nach Hause. Sie hatte immer den Schlüssel, bis uns bissel später Fleischers drei neue verschafften, dann hatten wir jeder einen. Fleischers hatten Beziehungen zu allem, und sie nannten sich geschickte und herzliche „Schieber“. An diesem Tag lag eine kleine Karte bei unserer Stubentür. Post wurde damals immer hochgebracht und in den Türschlitz gesteckt. Die Postfrauen müssen ganz schön fit gewesen sein, und eine Dicke sah man nie; überhaupt sah man keine wohlbeleibten Personen damals. Übrigens wohnte unsere Postfrau über uns im vierten Stockwerk mit ihrer Tochter; deren Vater auch im Krieg gefallen war. Mein Schwesterlein guckte die Karte an, schrie auf, und sofort kamen ihr die Tränen. Sie schnappte mich, umarmte mich und wirbelte mich herum, bis wir beide umfielen. Heinzelmann, Heinzelmann, die Nachricht ist vom Vatl!, schreit sie außer Atem. Sie schluchzt und kann kaum sprechen. Es war eine Karte von einem Kriegsgefangenenlager in Russland, von wo sie den Weg zu uns gefunden hat durchs Rote Kreuz in der Schweiz und über unsere Tante Emmy und Onkel Emil Kluge in Chemnitz. Tante Emmy war Vatls Schwester. Renate umklammerte und küsste mich, und immer wieder stammelte sie heulend, daß wir unseren Vatl wiederhaben.
Vatls erste Karte aus der Gefangenschaft
21 Die Martinschule
22 Die Humboldt-Schule