Sprechen über Sex. Karina Kehlet Lins
Klienten aktiv anzusprechen.
Beide Tendenzen führen im ungünstigen Fall dazu, dass das Thema Sex sowohl auf Klienten- als auch auf Therapeutenseite zwar als bedeutsam, aber auch als so schwierig und heikel empfunden wird, dass ein Gespräch darüber eher vermieden wird. Die damit verbundene – situative – Erleichterung, um ein schambesetztes Thema herumgekommen zu sein, ist aber nur um den Preis zu haben, dass ein therapeutisch höchst relevanter Erlebens- und Erfahrungsbereich in der Therapie ausgeblendet wird oder sehr zu kurz kommt.
Die immer noch verbreitete Idee, dass die Bearbeitung von sexuellen Themen Gegenstand einer eigenen Disziplin, nämlich der Sexologie oder der Sexualtherapie, vorbehalten bleiben sollte, verstärkt dabei eher noch die Hemmungen, diese Bearbeitung in die eigene psychotherapeutische Praxis zu integrieren. Umso erfreulicher ist es, dass mit diesem schlanken und gut geschriebenen Band der dänischen Psychotherapeutin Karina Kehlet Lins ein eindrückliches Plädoyer für einen entspannten, souveränen und leichtfüßigen Umgang mit dem Thema Sexualität in der alltäglichen therapeutischen Arbeit mit Einzelnen und Paaren vorliegt, das dazu ermutigt, sich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es bietet zunächst eine Fülle von sachlichen Informationen, die die alltägliche Relevanz des Themas aufzeigen und geeignet sind, das Thema aus der „sexologischen“ Ecke herauszuholen.
Die zentrale Botschaft lautet, dass die Verantwortung für eine behutsame, aber dennoch entschiedene Thematisierung der sexuellen Erfahrungen und Beziehungen der Klienten im therapeutischen Prozess ganz bei den Therapeuten liegt – wobei den Klienten jederzeit die Kontrolle über das Maß und den Zeitpunkt der damit verbundenen Selbstöffnung zugestanden werden muss. Auf diese Weise kann von Anfang an deutlich gemacht werden, dass das Thema Sex im therapeutischen Gespräch einen guten Platz hat, der genutzt werden kann, aber nicht muss.
Wie man ein gutes „Sprechen über Sex“ initiieren kann, dafür gibt es in diesem Buch viele hilfreiche, praxisbezogene Beispiele und Formulierungen. Mindestens genauso wichtig wie die Frage des „Wie“ ist jedoch die Klärung der eigenen Haltung und der möglichen Hemmungen, Tabus, Vorurteile oder negativen Reaktionen der Professionellen: in Bezug auf Sexualität im Allgemeinen wie auf spezifische sexuelle Präferenzen und Praktiken im Besonderen. Ohne eine ausreichende Selbstreflexion und Selbsterfahrung – deren es bedarf, um den therapeutischen Prozess nicht mit eigenen Einstellungen und Projektionen, Ängsten oder Bedürfnissen aufzuladen – wird man den Klienten nicht wirklich gerecht werden können.
Auf alle diese Fragen geht Karina Kehlet Lins auf eine angenehme und direkte Art ein. Sie ermutigt diejenigen, die sich diesem Thema bislang eher zögerlich genähert haben, nicht darauf zu warten, ob und wann es von den Klienten angesprochen wird, sondern es selbst und aktiver als bisher aufzugreifen. Das Buch vermittelt gleichzeitig, dass das Sprechen über Sex nicht anstrengend sein muss, sondern wie auch Sexualität selbst mit Interesse, Neugier und einer positiven Einstellung einhergehen sollte. Sprechen über Sex kann man lernen – das gilt für Klienten und Therapeuten gleichermaßen.
Tom Levold
Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung
Vorwort
Wenn ich in meiner eigenen Praxis signalisiere, dass das Ansprechen sexueller Themen willkommen ist, erlebe ich immer wieder, wie erleichtert meine Klienten darüber sind – viele Menschen haben Fragen oder Sorgen sexueller Art. Auch in meinen Kursen für medizinische Behandler im Gesundheitswesen wird deutlich, dass die Nachfrage nach qualifizierter Hilfe bei sexuellen Problemstellungen groß ist. Viele Therapeuten, Ärzte und andere Fachkräfte äußern das Bedürfnis zu lernen, wie sie sexuelle Themen leichter ansprechen und ein konstruktives Gespräch über Sex führen können. Leider gibt es dazu erstaunlich wenig Literatur. Ich bin auch gebeten worden, dieses Buch zu schreiben, weil es immer noch viele Pflegekräfte, Therapeuten und Ärzte gibt, die sich nicht trauen, das Thema anzusprechen.
Es hat mir großes Vergnügen bereitet, dieses Sachbuch zusammenzustellen, und zugleich war es eine große Herausforderung. Das Thema ist nahezu unerschöpflich, und es fiel mir nicht immer leicht, mich zu beschränken. Das Anliegen, im Gesundheitswesen häufigere und gute Gespräche über Sexualität anzuregen, ist mir so wichtig, weil die Befähigung dazu potenziell vielen Menschen nützt (Graugaard, Møhl og Hertoft 2006). Von daher ist es problematisch, dass viele Fachkräfte im Gesundheitsbereich sich in dieser Hinsicht nicht gut vorbereitet fühlen, weil sie nie darin geschult worden sind, über Sex zu sprechen.
Darüber hinaus stellen die zahlreichen komplexen Problemstellungen, die mit dem Thema Sexualität verbunden sind, eine Herausforderung dar. Es besteht Unsicherheit, wie man mit schwierigen Themen wie z. B. nachlassender Lust oder Affären umgehen kann. Viele Menschen glauben, dass man über besonderes Spezialwissen verfügen muss, um über sexuelle Fragestellungen zu sprechen. Auch Ärzte und Therapeuten weichen aus diesem Grund oft vor Gesprächen über Sex zurück.
Die Beschäftigung mit der Sexualität ist jedoch schon deshalb wichtig, weil ein gutes Sexualleben bei 90 % aller Dänen ganz oben auf dem Wunschzettel steht. Im deutschsprachigen Raum liegt die Zahl etwas niedriger, aber es stimmen immerhin 75 % der Befragten der Aussage »Sex ist mir wichtig« zu.1 Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen ihr Leben als gesund, sinnvoll und gut empfinden, erhöht sich, wenn sie ein erfülltes Sexualleben haben (Graugaard, Pedersen og Frisch 2015).
Klienten, denen es schwerfällt oder die es als grenzüberschreitend erleben, selbst ein sexuelles Thema anzusprechen, nehmen es oft als befreiende Einladung auf, wenn sie nach ihrem sexuellen Befinden gefragt werden. Leider »vergessen« viele Fachkräfte, ihr Sachwissen einzubringen, wenn ihre Klienten Bedürfnisse und Probleme sexueller Art haben (Johansen, Thyness og Holm 2001).
In den Medien wird nahezu ununterbrochen über Sex gesprochen. Paradoxerweise tragen die vielen gut gemeinten Ratschläge, die beispielsweise in Zeitschriften verbreitet werden, in weiten Teilen der Bevölkerung noch zusätzlich zur Unsicherheit bei (Tiefer a. Hall 2010). Sexuelle Herausforderungen sind ganz normal – alle Menschen haben irgendwann im Laufe ihres Lebens Probleme mit ihrer Sexualität. Viele Untersuchungen aus den vergangenen Jahrzehnten verdeutlichen den Widerspruch zwischen den saftigen Beschreibungen in den Medien, wie Sex sein sollte, und dem spartanischen sexuellen Alltag, den viele Menschen erleben (Schmidt 1996).
Das Ziel dieses Buches ist es, professionellen Helfern im Gesundheitswesen Unterstützung zu bieten, um besser auf Gespräche über Sex vorbereitet zu sein. In diesem Bereich kommen alle Fachkräfte auf die eine oder andere Weise mit der Sexualität von Klienten in Berührung. Und es wäre schön, wenn wir auch hier eine Fachkompetenz einbringen könnten, wie wir sie uns während der Ausbildung angeeignet haben. Dieses Buch stellt daher eine Ergänzung zu dem bereits vorhandenen Wissen dar. Es besteht aus einer Mischung aus Theorie, Praxis und Übungen. Zusammen mit Einführungen in die verschiedenen Aspekte, die zu einem guten Gespräch über Sex dazugehören, geben sie dem Leser das Rüstzeug für die weitere Arbeit mit. Die Lektüre ersetzt jedoch keinesfalls die Erfahrung – Übung kann man nur dann erlangen, wenn man den Anstoß für die entsprechenden Gespräche gibt. Ist man offen für das Thema, werden sie sich schnell von selbst ergeben.
Ich benutze den Begriff »Sprechzimmer« nicht nur, um die Arbeitsräume des Therapeuten zu bezeichnen; das Wort wird hier in einem weiteren Sinne verwendet und bezieht auch solche Gesprächssituationen und -räume mit ein, die sich bei passender Gelegenheit ergeben, z. B. in einem Krankenzimmer oder Behandlungsraum.
Auch wenn das Thema Verhütung für manche Leser in Gesprächen über Sexualität die größte Rolle spielen mag, werde ich dieses Thema hier nicht behandeln. Ich bin eine begeisterte Anhängerin von »Safer Sex« und hoffe, dass ich niemanden daran erinnern muss, dass dieser sowohl Schwangerschaften als auch vielen geschlechtlich übertragenen Krankheiten vorbeugen kann.
Wenn ich in diesem Buch das Wort »Paar« benutze, dann fasse ich den Begriff so inklusiv wie möglich und meine damit sowohl verheiratete Paare als auch Paare, die »ohne Trauschein« zusammenleben, Paare in offenen Beziehungen, Paare, die nicht zusammenwohnen, und polyamouröse Beziehungen.