Sprechen über Sex. Karina Kehlet Lins
anderen fehl am Platze wirken. Wenn jemand Ihnen zum Beispiel tief in die Augen blickt und »Dirty Talk« verwendet, kann das abhängig von den Begleitumständen sehr erregend sein oder ganz und gar verkehrt wirken.
Long stem roses are the way to your heart
But he needs to start with your head
Satin sheets are very romantic
What happens
When you’re not in bed
MADONNA – EXPRESS YOURSELF
Von daher könnte man sagen, dass sich unsere sexuell wichtigsten Körperteile nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren befinden – dass unser Gehirn also die erogenste Zone darstellt. Die individuelle Interpretation des Kontextes ist ein entscheidender Faktor dafür, ob jemand eine Situation als sexuell auffasst. Möchte man Menschen helfen, eine befriedigende Sexualität zu entwickeln, muss man herausfinden, wie das erotische Profil jedes einzelnen Klienten beschaffen ist.
Das erotische Profil setzt sich aus diesen Elementen zusammen:
•bisherige Erfahrungen
•Fantasien und Wünsche
•erotische Fähigkeiten und erotisches Repertoire
•aktuelles Sexualleben
(Clement 2006)
Physische Faktoren wie zum Beispiel die Erektionsfähigkeit sind keinesfalls unwesentlich, aber ein breiteres Verständnis der Sexualität ist erst dann möglich, wenn die psychischen Faktoren ebenfalls Beachtung finden. »Sex haben« ist ein komplexer Prozess, und möchte man einem Klienten helfen, eine zufriedenstellende Sexualität zu erlangen oder zu bewahren, ist es wichtig, sein sexuelles Potenzial zu untersuchen und seine Gedanken und Träume zu berücksichtigen (Csíkszentmihályi 2002). Entscheidend ist, dass die spezifischen persönlichen Faktoren in einer Situation aufgedeckt werden: Was erregt diese Person hier, und wodurch verliert sie die Lust? Das erotische Profil eines Menschen ist viel größer, umfangreicher und vielfältiger als seine sexuelle Physiologie oder sein Repertoire an sexuellen Techniken. Die mechanischen Aspekte der Sexualität sind relativ leicht wahrnehmbar und messbar, aber unsere eigene sexuelle Geschichte und unsere Vorlieben und damit auch unser sexuelles Profil sind sehr persönlich und schwer quantifizierbar (Morin 1995). In Gesprächen über Sex können die Wünsche, Gedanken und ungenutzten Möglichkeiten des Klienten erkundet werden. Bildlich ausgedrückt kann eine noch so detaillierte Seekarte nie alle Einzelheiten darstellen, die sich unter der Wasseroberfläche befinden. Es wird immer mehr zu entdecken geben als das, was sich oberflächlich zeigt, und die Dinge verändern sich stetig, sind Momentaufnahmen und ständig im Fluss, wandeln sich. So verhält es sich auch mit der menschlichen Sexualität, die eine eher flüchtige Größe darstellt.
Selbstverständlich dürfen mögliche physische Faktoren, die bei sexuellen Problemen eine Rolle spielen könnten, nicht ignoriert werden und sollten aktiv erfragt werden. Idealerweise sind diese fächerübergreifend anzugehen, d. h., falls der Klient einverstanden ist, sollte der Kontakt mit seinem behandelnden Arzt aufgenommen werden. Es könnte zum Beispiel der Fall auftreten, dass der Klient ein Medikament einnimmt, das die Sexualität beeinflusst. Obgleich die psychischen Folgen bei sexuellen Problemen oft die schwerwiegendsten sind, ist es wichtig, dass begleitende physische Faktoren entweder ausgeschlossen oder berücksichtigt werden können. Besonders dann, wenn die Probleme allgemein und nicht situationsbedingt sind, sollte auf jeden Fall der Kontakt zum Arzt des Klienten gesucht werden. Eine physiologische Untersuchung kann nicht nur nützlich sein, sondern wirkt auch beruhigend. Der Austausch zwischen den im Gesundheitsbereich in verschiedenen Funktionen Tätigen, zum Beispiel zwischen einem Arzt und einem Psychologen, ist langfristig der beste Weg, um dem Klienten zu helfen.
Mögliche relevante Probleme
•Allgemeine Probleme: Sie treten ohne Ausnahme immer ein Bsp.: ein Mann, der in allen Situationen Erektionsprobleme hat.
•Situationsbedingte Probleme: Sie treten nicht immer auf. Bsp.: ein Mann, der im Zusammensein mit einer anderen Person Erektionsprobleme hat, jedoch Morgenerektionen erlebt.
Viele Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten – das gilt auch für zahlreiche Psychologen –, sind zurückhaltend, wenn es darum geht, das Thema Sexualität in ihre Arbeit einzubeziehen, weil – wie oben bereits erwähnt – der Eindruck entstanden ist, dass dafür spezialisiertes Wissen benötigt wird. Während die Pioniere Masters und Johnson bahnbrechende Forschung im Bereich der Sexualwissenschaft lieferten, trugen sie leider zugleich dazu bei, dass diese als etwas Neues und Andersartiges aufgefasst und so weitgehend aus den übrigen psychotherapeutischen Fachrichtungen herausgelöst wurde.
2SEX AUF DIE TAGESORDNUNG
Wie im vorherigen Kapitel bereits aufgezeigt wurde, hat die historische Entwicklung der Sexualwissenschaft eine Entfremdung der Sexualtherapie von der restlichen Psychotherapie zur Folge gehabt. Diese wurde von einem zunehmend medizinischen Zugang zur Sexualität mit dem Fokus auf sexuelle Störungen begleitet, der an die Stelle einer inklusiveren und positiveren Definition von Sexualität trat. Die Gefahr ist groß, dass sexuelle Probleme nur im Lichte der behandelten technischen Beschwerden verstanden werden, ohne Berücksichtigung der psychologischen, relationalen und situationsbedingten Faktoren, die die Beschwerden mit verursacht haben. Es ist sehr wichtig, dass nicht nur die Symptome behandelt werden, da sonst die Situation noch verschlimmert werden könnte, weil die Ursachen außer Acht gelassen wurden. Wie schon gesagt, ist der gesamte Kontext für das Verständnis des Symptoms entscheidend.
Beispiel
Wenn eine Klientin keine vaginale Lubrikation erzeugt (eine feuchte Scheide) und ihr die Verwendung eines Gleitmittels oder Öls empfohlen wird, ohne dass das Problem eingehender besprochen wurde, lässt man die Möglichkeit außer Acht, dass es einen Grund für den Lubrikationsmangel geben könnte. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Partnerin es zu eilig hat und die Klientin nicht genug Zeit hat, erregt zu werden. Dies wäre jedoch nur eine von vielen möglichen Ursachen. Werden die zugrundeliegenden Zusammenhänge nicht genau untersucht und wird nur das Symptom behandelt, kann dies zu neuen Problemen führen – die Klientin könnte z. B. Lustlosigkeit entwickeln.
Wie bereits aufgezeigt, hat die Ausgrenzung der Sexologie als Fachbereich zur Folge, dass sie als Spezialgebiet aufgefasst wird. Es handelt sich dabei jedoch um ein Spezialgebiet ohne eigens definierte theoretische Richtung. In ihrem Artikel über die Zukunft der Sexualtherapie schreiben Binik und Meana (2009) sehr treffend, dass ein derartiger Sonderstatus nicht angemessen ist, da es tatsächlich nichts gibt, was die Sexualtherapie von anderen Formen der Psychotherapie unterscheidet. Andererseits ist es gerade dieses Bild von der Sexologie als besonderem Bereich, das dazu geführt hat, dass Menschen mit sehr unterschiedlichem fachlichen Hintergrund sich in diesem Feld tummeln.
Viele Menschen würden gerne über mehr Information zu sexuellen Themen verfügen oder Hilfe bei diesbezüglichen Fragestellungen und Herausforderungen erhalten, aber sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Es gibt eine verwirrend große Menge an Angeboten, für Laien ist es jedoch nicht leicht, beispielsweise zwischen einem klinischen Sexualtherapeuten mit akademischer Ausbildung und einem selbsternannten Sexualtherapeuten mit zweifelhaftem Fachwissen zu unterscheiden. Diese Unübersichtlichkeit wird von den Beteiligten im Gesundheitswesen leider kaum thematisiert oder kritisiert (Binik a. Meana 2009). Einige der eher pseudowissenschaftlichen Maßnahmen innerhalb der Sexualtherapie haben dazu beigetragen, dass die akademische Welt die Sexologie an den Rand gedrängt hat und Sexualwissenschaft höchstens als Wahlfach angeboten wird, ein Fach, das nicht wirklich ernst zu nehmen ist. Soll diese Entwicklung umgekehrt werden, müssen Psychologen und andere im Gesundheitswesen Tätige sich hierfür engagieren und der Sexualwissenschaft den notwendigen Stellenwert einräumen.
Diejenigen, die