Der sanfte Wille. Georg Kühlewind
– wenigstens auf das Denken – schauen, sie gebrauchen kann. Dieses Ich-bin oder Selbst ist die Erfahrung des eigenen geistigen Seins, deshalb auch unabhängig von Erfolg, Misserfolg, Anerkennung, Zurückweisung, der Meinung anderer Menschen, auch gefeit vor überflutenden Emotionen. Anstatt derer beginnt das erkennende Fühlen aufzuwachen und eine wachsende Rolle im Leben zu spielen. Das Aufblitzen dieser Wesenheit – die richtige Selbst-Erkenntnis – wird in der Anthroposophie Selbstbewusstseinsseele, wenn sie Dauer hat, Geistselbst genannt.
Durch die Denk- und Vorstellungsübungen erreichen wir zwei Veränderungen. Die eine betrifft unser Innenleben: In der Erfahrung «es denkt» wird nicht nur ein Ich-bin oder Selbst erzogen, das nicht mehr mit dem Denken / Vorstellen vermischt ist, sondern das diese nicht ihm gehörende Denkkraft lenken kann. Der Zeuge nimmt sie in seine Verwaltung.
Andererseits erhalten die Themen, sofern sie einfache menschengeschaffene Nützlichkeitsdinge sind, dadurch, dass sie nicht ihrem Zweck gemäß, sondern als Übungsthemen verwendet werden, Bedeutung und Sinn. Man kann sagen, es wird ihnen eine neue Würde zugesprochen, eine neue Sakralität, indem sie das Denken des Übenden durch die Bahnen ihrer Funktion, ihrer Erfindungsidee führen und dadurch in das sinnschaffende Tun der Übung selbst assimiliert werden.
Auch das Weltbild verändert sich dramatisch mit dieser Erfahrung: Alles in der Welt wird als ein Werden, als Vorgang oder Geschehen erlebt, nichts mehr als ein statisches «ist». Das ist die Welt des Kleinkindes in einem schwer bestimmbaren Alter und auch die der archaischen Kulturen, in denen die Menschen auch alles als Geschehen erfahren haben, sei es ein Fels oder ein Berg.
Erst jetzt weiß der Mensch aus Erfahrung, was das heißt, «es denkt in mir», was ja auch das Geheimnis des guten gewöhnlichen Denkens ist, wir lassen es geschehen und beschränken uns auf die richtunggebenden, sanften Lenk-Gebärden, wie ein Schäfer, der die rechts und links abschweifenden Schafe in Richtung der Herde zurücklenkt. Wenn ich erfahre, «es denkt», bin ich ein gegenwärtiger Zeuge, nicht vermischt mit der Seelenfunktion des Denkens, ein geistiges Wesen.
Eigentlich geschieht durch die geschilderte Übungsfolge eine Ausweitung des Reflektierens: Das gegebene Reflektieren kann sich lediglich auf die Vergangenheit des Denkens / Vorstellens richten, nun gewinnt man das Erfahren der Gegenwärtigkeit auch dazu.
Durch diese Grunderfahrung nähert sich das Bewusstsein der sonst überbewussten, das Denken orientierenden, es im Rahmen der Logizität haltenden Kraft an, die ein Fühlen kognitiver Art ist, das Fühlen der Logizität, der Evidenz, des Verstehens oder Nichtverstehens – der Weg zum erkennenden Fühlen hat hier seinen Anfang. Es kann dem Übenden auch ahnungsweise aufdämmern, dass hinter dem Denken-Lassen ein überbewusster Denkwille, ein Wille, der nicht im Voraus weiß, was er will, ein improvisierender Wille verborgen ist.
Besinnung/Meditation 14: Der wahre Zeuge zeugt nicht im Nachhinein.
Zweiter Auftakt
Wir wissen nicht, wie wir denken, weil wir gewöhnlich das Fühlen, welches das Denken lenkt, nicht erfahren.
Wir fühlen dieses Fühlen nur in seiner Wirkung, nicht von innen her, nur seine Außenseite. Das Fühlen, welches das Denken leitet und im Wahrnehmen verborgen wirkt, bleibt hinter den Wolken des inneren Himmels.
Wird das erkennende Fühlen nicht gebraucht, nicht bewusst verwendet, gerät es größtenteils in nicht erkennende Formen ohne Bedeutung. Die erste dieser Formen ist das Mich-Fühlen. Auf diesem lagern sich weitere Gewohnheitsformen an, die zunächst irreversibel sind und unterbewusst, weil das wahre Ich sich nicht in sie hineinbegibt.
Geformte Gefühle, das heißt Emotionen, verhindern das Erkennen, auch im Fühlen. Diese Formen haben keine Bedeutung, sie teilen nichts mit, sind keine Botschaften. Sie können im Laufe der Übungen oder – selten – im Laufe des Lebens aufgelöst, zur formfreien Fähigkeit des Fühlens werden. So beginnen wir das Fühlen von innen her, im fühlenden Verstehen zu erleben. Ein Gefühl – keine Emotion – ist ebenso verständlich für das Fühlen wie ein Gedanke für das Denken. Nur ist das Verstehen im Fühlen eine Erfahrung, während einen Gedanken zu verstehen nur dann zur Erfahrung wird, wenn man die Worte auflöst, durch sie hindurchdringt und auf diese Weise erlebt, was sie verdecken, indem sie auf die Erfahrung nur hinweisen. Man müsste durch sie hindurch, sie auflösen können. Sie lösen sich im Fühlen auf.
II.
Vom Denken zum Fühlen
Gedanken und Gefühle, Denken und Fühlen
Die Denkübungen sind möglich, weil das Denken / Vorstellen autonom ist. Wir können denken, was wir denken / vorstellen wollen, wenigstens eine Zeit lang, solange Assoziationen diese Autonomie nicht beeinträchtigen und das Bewusstsein von seinem Vorsatz abschweifen lassen. Was als Reinigung des Denkens oder seine Konzentrierung beschrieben worden ist, kann durchaus als ein Streben zur Kontinuität aufgefasst werden. Die Kontinuität des Denkens wird durch auftauchende Elemente unterbrochen, die keine Denkelemente, sondern Assoziationen sind, dann auch durch Wahrnehmungselemente, die für das Denken nicht «lesbar», nicht durchsichtig sind, dann durch Wörter und Begriffe als Haltestellen des kontinuierlichen Verstehens. Durch die stufenweise Eliminierung dieser Elemente im Konzentrieren sind wir zum reinen Denken, zur begriffsbildenden Denkbewegung gelangt, die wir im Fließen zu halten bestrebt sind.
Wenn wir diese Prozesse mit dem Fühlen vergleichen, so ist der erste Unterschied, dass wir im Fühlen keine Autonomie haben, wir können nicht beliebig fühlen, was wir wollen, wir können aus der Palette der Gefühle nicht eines dazu erwählen, dass es das Bewusstsein erfülle, wie es in der Konzentrationsübung mit einem Bild oder Gedanken geschieht. Wenn wir etwas fühlen, so lösen fast immer äußere Anlässe, auch Vorstellungen oder körperliche Vorgänge, das Fühlen aus. Wir können im Fühlen kein Neues erzeugen, während dies auf dem Gebiet des Denkens möglich ist.
Das Ziel der Übungen im Fühlen ist, ein erkennendes Fühlen zu entwickeln. Gewöhnlich verstehen wir unter «Fühlen» Emotionen, nicht-erkennende Gefühlswallungen, wie Ärger, Neid, Eifersucht, Depression und Ähnliches, die uns überwältigen. Das heißt, wir können ihre Erscheinung zum Teil in unserem Verhalten regeln, nicht aber über ihre An- oder Abwesenheit bestimmen. Nur am Rande des Gefühlslebens tauchen erkennende Gefühle auf, in Bezug auf künstlerische Erlebnisse oder im günstigen Falle im Beruf, etwa bei Therapeuten oder Pädagogen.
Wir haben hinter dem Denken als orientierende Kraft das Fühlen der Logizität entdeckt. Wenn erkennendes Fühlen erübt werden will, kann man das reine Denken nicht überspringen: Das erkennende Fühlen kann nur von dieser Seite her bewusst entwickelt werden. Dies bezieht sich nicht auf das ästhetische Fühlen, damit hat es eine andere Bewandtnis, auf die wir noch zurückkommen werden.
Der Ursprung des Denkens liegt im erkennenden Fühlen, das kann man anhand des Evidenz- und Logizitätsfühlens ahnen; die Beobachtung des Kleinkindes und das Studium archaischer Kulturen bestätigen es. Das Kleinkind erhält durch erkennendes Fühlen die Bedeutung der ersten einigen hundert Wörter und der grammatischen Formen.10 Die technischen, medizinischen, baulichen Leistungen der archaischen Völker, die ohne eine analytische, auf das Denken gegründete Wissenschaft zustande kamen, zeugen von einer verlorenen Fähigkeit, mit den Gegebenheiten der Natur erfolgreich umzugehen.
Je kontinuierlicher das Denken wird, umso mehr geht es in das erkennende Fühlen über, aus dem es stammt, löst sich im Fühlen auf, wird «global» – erinnern wir uns an den globalen Blick auf ein Gesicht –, wird weniger scharf und analytisch, aber umso umfassender. Der Weg zum erkennenden Fühlen führt durch das konzentrierte reine Denken. Das ist das ursprüngliche Fühlen, sowohl beim einzelnen Menschen als auch bewusstseinsgeschichtlich.
Es entsteht die Frage: Wann ist dieses Fühlen verloren gegangen, wohin ist es entschwunden? Die Antwort kann wiederum beim Kleinkind und auch kulturgeschichtlich beobachtet werden: Wenn das Kind oder die Menschen in einer Kultur beginnen, in der ersten Person (ich, mich, mein) über