Wille und das Ungeheuer vom Vechtesee. Mathias Meyer-Langenhoff
ist jetzt, gehen wir?“, fragte Wille Andy noch einmal.
Der nickte. Sie packten ihre Sachen, zogen sich an und verließen das Freibad. Patrick, Lars und Ole lagen in der Nähe des Ausgangs auf dem Rasen, sodass die beiden Freunde an ihnen vorbeimussten.
„Haltet einfach die Klappe!“, knurrte Andy die drei Grinsegesichter an und setzte dazu seinen grimmigsten Blick auf. Tatsächlich trauten die drei sich nicht, etwas zu sagen.
Nachdem er und Wille in dem Fahrradmeer vor dem Freibad ihre Räder wiedergefunden hatten, fuhren sie langsam über die Bentheimer Straße und den Heideweg zu Wille nach Hause. Es war noch immer sehr heiß, obwohl es schon nach sechs Uhr war, trotzdem war auf dem Eintracht-Gelände Training der C-Jugend.
Wille war froh, nicht mehr im Verein zu sein. Bis zur D-Jugend hatte er noch gespielt, doch im Laufe der Zeit verlor er immer mehr die Lust auf Fußball, erst recht auf das regelmäßige Training. Kurz vor dem Übergang in die C-Jugend war der Druck größer geworden. Immer wieder hatte sein damaliger Trainer Mike Schuh bei seinen Eltern angerufen, um sie davon zu überzeugen, Wille in die Auswahlmannschaft zu schicken.
Aber zum Glück hatten sie die Entscheidung ihrem Sohn überlassen und sich nicht eingemischt. Jetzt empfand er für seine ehemaligen Mannschaftskameraden fast Mitleid.
„Coole Sache, bei der Hitze zu trainieren“, grinste Andy, „gut, dass du Fußball geschmissen hast.“
Wille nickte.
Kurze Zeit später bogen sie in die Klarastraße ein, wo Willes Eltern ein Häuschen gekauft und nach und nach umgebaut hatten.
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Sensation im Vechtesee
Sie stellten ihre Räder in der Einfahrt ab und gingen durch die Garagentür in den Garten.
„Ach, da seid ihr ja“, begrüßte sie Willes Mutter. Sie saß auf der Terrasse und hielt ihre Füße in eine Plastikwanne mit kühlem Wasser. „Wie war es im Freibad?“
„Super wie immer“, antwortete Wille, „nur blöd war, dass ich beim Sprung vom Dreier auf dem Bauch gelandet bin, hat ein bisschen gebrannt.“
Frau Willerink richtete sich auf und zog erschrocken ihre Füße aus der Wanne. „Meine Güte, Gerwin, wie oft soll ich dir noch sagen, dass das gefährlich ist?! Das Einmeterbrett reicht doch völlig aus. Zeig mir mal deinen Bauch.“
„Mama, jetzt lass doch, war halb so wild“, wehrte Wille ab, „wir wollen in mein Zimmer. Und, bitte, nenn mich nicht Gerwin!“
Frau Willerink schüttelte den Kopf. Sie war zu müde, um sich jetzt noch mit ihrem Sohn zu streiten. Der lange Tag im Supermarkt saß ihr in den Knochen. Mit einem wohligen Seufzer ließ sie ihre Füße wieder in das kühle Wannenwasser gleiten und lehnte sich in ihrem Gartenstuhl zurück. „Kannst du ihm das Springen vom Dreier nicht mal abgewöhnen, Andy?“, wandte sie sich an Willes Freund.
„Was soll ich machen, Frau Willerink, da lässt er sich nicht reinreden“, antwortete Andy etwas verlegen.
Wille war schon in die Küche gegangen und rief nach draußen: „Mama, haben wir noch Saft?“
„Im Kühlschrank nicht mehr, guck mal im Keller nach!“
Er spurtete nach unten und griff eine Flasche Apfelsaft aus dem Kasten, während Andy – froh, Frau Willerink entkommen zu sein – in der Küche die Gläser nahm, die Wille schon auf dem Tisch bereitgestellt hatte. Schnell folgte er seinem Freund in dessen Zimmer im Obergeschoss.
„Was machen wir, FIFA spielen?“, wollte Wille wissen, der den PC schon hochgefahren hatte.
„Meinetwegen, wenn du wieder verlieren willst“, lachte Andy.
Obwohl Wille der PC-Freak war, hatte er es bislang nicht geschafft, seinen Freund an der Spielkonsole zu besiegen, da war Andy einfach unschlagbar.
Auch diesmal verlor Wille ein Spiel nach dem anderen, sodass er schließlich seine Konsole verärgert auf sein Bett warf. „Mann, Alter, wie machst du das?“, knurrte er und knuffte seinen Freund in die Seite.
„Keine Ahnung, vielleicht habe ich mehr Training?“
Das war es wohl, denn Andy spielte jeden Tag mindestens zwei Stunden, oft auch online gegen Gegner, die noch viel besser waren als Wille und denen er trotzdem regelmäßig zeigte, was eine Harke war. Im Moment verbrachte er sogar noch mehr Zeit an der Konsole als sonst, weil er sich zu einem Turnier der Jugendzentren in der Grafschaft angemeldet hatte.
„Was ist, hast du keinen Bock mehr?“, wollte er von Wille wissen.
„Genau, für heute reicht’s mir.“
„Okay. Was machen wir jetzt?“ Andy erhob sich von Willes Schreibtisch.
„Mal eben gucken, was in Nordhorn sonst noch so los ist“, meinte Wille und ging ins Internet, um die Online-Ausgabe des Grafschafter Boten aufzurufen. Das tat er jeden Tag. Es interessierte ihn, was in Nordhorn und im Landkreis vor sich ging, und er fand es spannend, sich die Online-Kommentare der Leser anzusehen. Langsam scrollte er die Seite von oben nach unten durch. Eine Weile blieb er bei einem Bericht über das Fest der Kulturen hängen, das einmal im Jahr im Kloster Frenswegen stattfand. Die Redaktion hatte viele schöne Bilder veröffentlicht. Besonders die Aufnahmen einer türkischen Tanzgruppe gefielen ihm. Man sah die bunten Kostüme der Mädchen und das Publikum, das begeistert mitklatschte.
„Hey, Andy, guck mal hier, Fest der Kulturen, saucool, wir sind auch drauf.“
Sie waren zusammen da gewesen und hatten es genossen. Es herrschte eine tolle Atmosphäre, der ganze Innenhof des Klosters war voller Menschen gewesen, viele bunt gekleidet in ihren Landestrachten, es roch nach Kebab aus der Türkei, gegrilltem Fisch aus Portugal oder nach orientalischen Gewürzen. Mit dem leckeren Essen, das nicht viel kostete, hatten sie sich die Bäuche vollgeschlagen. Mit einem Kebabspieß hatten sie begonnen, danach gönnten sie sich echten Grafschafter Weggen mit Butter und selbst nach einer Portion Fisch waren sie noch nicht satt.
Willes Opa sagte immer: „Ich glaube, Junge, du hast einen Bandwurm, du kannst an einem Tag so viel essen wie Oma und ich in einer Woche!“
Manchmal wunderte sich Wille selbst darüber, aber weil er groß und schlaksig war, machte er sich darüber weiter keine Gedanken.
Auf dem Foto jedenfalls standen sie beide direkt vor der Bühne mit dem Kebabbrötchen in der Hand und sahen den Tänzerinnen zu.
„Mann, sehe ich scheiße aus“, kommentierte Andy, der über Willes Schultern hinweg auf den Bildschirm starrte, das Foto.
„Wieso? Das Foto ist doch typisch für dich.“
„Na und, muss es deshalb in der Zeitung stehen?“, antwortete Andy. „Klick’s lieber weg.“
Wille schloss die Seite mit den Fotos und scrollte weiter. Vieles war langweilig und interessierte ihn nicht, aber dann stieß er auf einen Artikel, dessen Überschrift ihn sofort elektrisierte. „Alter Falter, guck mal hier, da steht was Geiles.“
„Schon wieder Fotos von uns?“, fragte Andy.
„Nein, aber ein Artikel über den Vechtesee. Ist der Vechtesee der Loch Ness der Grafschaft? Frau glaubt, Ungeheuer gesehen zu haben.“
„Was ist denn das für ein Quatsch? Da ist wohl jemand aus der Klapse ausgebrochen. Ungeheuer im Vechtesee ... tsss.“ Andy tippte sich an die Stirn.
„Jetzt hör doch mal“, entgegnete Wille und las den Artikel vor.
Nordhorn. Eine Urlauberin aus dem Ruhrgebiet ist sich sicher, bei einem Spaziergang in der Dämmerung des Mittwochabends am Nordhorner Vechtesee ein „Ungeheuer“