Sinfonie der Lust | Erotischer Roman. Ayana Hunter
versuchte er, den Fall aufzuhalten, indem er sich mit den Armen an der Kante des kleinen Plateaus festklammerte. Doch es gab nichts, woran er sich halten konnte. Der Sandstein war glatt und rutschig wie Seife, ohne jede Vertiefung oder Erhebung, die es ihm ermöglicht hätte, den Sturz in die Tiefe zu verhindern. Lediglich die Reibungskraft bewahrte ihn davor, sofort hinabgerissen zu werden. Wie in Zeitlupe rutschte er auf diese Weise weiter, das unausweichliche Schicksal stand ihm klar vor Augen. Er befand sich etwa zehn Meter über dem festen Boden. Nun war es also doch so weit gekommen. Das Schicksal hatte entschieden, er hatte das Risiko unterschätzt.
Todespanik machte sich in ihm breit. Das Adrenalin schoss durch seinen Körper und erzeugte den unbedingten Willen, zu überleben. Doch es war offenbar zu spät. Als die Hände die abgerundete Kante loslassen mussten, packte er noch mal zu, um sinnloserweise in der Luft einen Halt zu finden. Und es geschah noch ein kleines Wunder. Nur wenige Zentimeter unterhalb der Kante bekam er wieder Felsgestein zu greifen. Ein kleiner Vorsprung war es, der seinen Fall aufgehalten hatte. Nur mit der Kraft seiner Finger hielt er sich nun an dem schmalen Grat, hoffnungslos über einem tiefen Abgrund baumelnd.
Das Glück hatte ihm weitere Sekunden Leben geschenkt, doch eine Rettung schien nicht mehr möglich. Selbst wenn er den Klimmzug schaffen würde, da war keine Fläche, auf der er sich abstützen konnte. Die Füße mussten ihm helfen. Verzweifelt versuchte er, die Wand zu erreichen, etwas, das ihm Halt geben würde, damit er wieder klettern konnte. Aber genau der Vorsprung, der ihn aufgehalten hatte, sorgte auch dafür, dass er zu weit von der Wand entfernt war. Das machte es ihm unmöglich, vielleicht doch noch eine winzige Vertiefung zu finden, die ihm das Leben retten würde. Seine Bemühungen bewirkten lediglich, dass er wertvolle Kraft in den Fingern und den Armen verbrauchte. Er würde sich nicht mehr lange halten können.
»Marc, du Vollidiot«, vernahm er von unten eine Stimme. Unpassender Zeitpunkt für einen Vorwurf, und außerdem kommst du zu spät, dachte er. Inzwischen war er innerlich ganz ruhig geworden. Er hatte das Unausweichliche akzeptiert. Die Kraft schwand aus seinen Fingern. Noch ein letztes Mal blickte er in Juliettes grüne Augen, dann ließ er los.
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Lara schaute aus dem Fenster. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten und ließ die Luft über den dunklen Pflastersteinen der Auffahrt flirren. Der Klang der Klaviermusik verleitete sie einen Moment lang zum Träumen.
»Melissa, das war eine Oktave zu hoch. Versuch’s noch einmal von Anfang an. Schau nicht so verzweifelt. Ist doch nicht schlimm, heute geht es schon viel besser als letzte Woche. Wenn du fleißig weiter übst, wirst du zu Weihnachten schon ein paar sehr schöne Stücke spielen können.«
Das Mädchen mit den langen blonden Zöpfen und der Stupsnase lächelte nun wieder ein wenig. Dann begann es, erneut zu spielen und Laras Gedanken gingen ein weiteres Mal auf Reisen. Der Frühling hatte sich bis vor Kurzem als verlängerter Winter entpuppt, aber jetzt war er ganz plötzlich ausgebrochen. Erst hatte sie gar nicht mehr geglaubt, dass das Wetter noch einmal umschlagen könnte. Und dann, als hätte Petrus den Schalter gefunden, schwappte die Hitze endlich nach Deutschland hinüber.
Erst jetzt merkte Lara, dass die Musik bereits verstummt war. Peinlich berührt blickte sie das Mädchen an, das sie abwartend beobachtete. »Das hast du sehr gut gemacht«, lobte sie. Sie schaute zur Uhr, die Unterrichtsstunde war vorüber.
Lara liebte Musik, und auch wenn sie ihr Wissen heute gerne an andere weitergab, so spürte sie immer noch einen Stich im Herzen, weil sie die Aufnahmeprüfung für das Musikstudium damals nicht geschafft hatte. Es waren seitdem schon einige Jahre vergangen. Nach dieser riesigen Enttäuschung musste sie sich entscheiden: Wollte sie den Traum einer Musikkarriere weiterträumen oder sollte sie einen weniger unsicheren Beruf ergreifen? Letztendlich hatte der Wunsch nach Sicherheit die Entscheidung herbeigeführt. Journalistik zu studieren, war eine Idee ihres Vaters gewesen, der schon früh ihr Talent für Sprache und Schreiben erkannt hatte. Und er sollte recht behalten, denn sie fand in dieser Tätigkeit Erfüllung und Freude. Aber die Musik blieb immer die Nummer eins in ihrem Herzen, egal wie erfolgreich sie in ihrem Job war. Ohne Musik könnte sie niemals glücklich sein. Wenn sie an ihrem Flügel Platz nahm, blendete sie alles um sich herum aus und tauchte in ein Meer aus Tönen ein. Darin zu schwimmen, kam einem Schwebezustand gleich, in dem alle Probleme nichtig wirkten.
Nach ihrem Studium hatte sie sich eine kleine Auszeit gegönnt, in der sie sich mit Klavierunterricht Geld verdiente und viel über ihre Zukunft nachdachte. Wenn es nach Michael gegangen wäre, hätte sie überhaupt nicht arbeiten, sondern stattdessen mindestens zwei Kinder großziehen sollen. Aber es durfte in ihrer Ehe nicht immer nur um die Erfüllung seiner Wünsche gehen, sie mussten eine gemeinsame Basis finden und da hatte sie schließlich auch ein Wörtchen mitzureden. Gerne hätte sie sich jetzt selbst an den Flügel gesetzt und den Raum mit Musik geflutet, aber leider ging das nicht. Es wartete ein wichtiger Artikel, den sie noch heute an den Verlag schicken musste. Widerwillig klappte sie die Tastaturabdeckung herunter und begleitete Melissa zur Tür.
***
Knapp eine Stunde später hörte sie, wie sich die Haustür öffnete.
»Liebling, ich bin da.«
Lara sah verwundert auf, unterbrach die Arbeit an ihrem Laptop und erhob sich, um ihren Mann zu begrüßen, der viel zu früh von der Arbeit zurückgekehrt war.
»Was gibt es zu essen?«, Michael blickte um die Ecke.
Hatte sie etwas durcheinandergebracht? Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und sah ihn verständnislos an. »Du hast doch gesagt, du hättest heute ein Geschäftsessen und ich bräuchte nicht zu kochen.«
»Ach so, ja, das wurde kurzfristig abgeblasen. Der Kunde konnte nicht kommen und das Ganze wurde um eine Woche verschoben.«
»Wenn du angerufen hättest, dann wäre genügend Zeit gewesen, etwas vorzubereiten …«
Er gab ihr einen Klaps auf den Hintern. »Ging nicht, ich war total im Stress. Ich soll schon Anfang nächster Woche nach Indien reisen.«
»Wieso das denn? Ich dachte, dein Kollege sollte den Maschinenaufbau leiten.«
»Stephen hat sich gestern beim Tennis das Sprunggelenk verletzt. Die Ärzte überlegen noch, ob er unters Messer muss. Auf Indien hätte ich auch gerne verzichtet. Viel zu laut und dreckig. Das eine Mal hat mir voll und ganz gereicht. Momentan gibt es aber niemanden sonst, der sich mit dem Projekt auskennt. Also musste ich mich um die ganzen Vorbereitungen kümmern: Terminplanungen, Absprachen mit den indischen Kollegen, Papiere richten und der ganze Kram. Du weißt schon …« Sein Magen knurrte laut. »Ich bin am Verhungern, Baby. Komm, irgendetwas wirst du mir doch zaubern können.«
»Wie wäre es, wenn du dir heute ausnahmsweise selbst etwas machst? Ich habe einen Abgabetermin und bin noch nicht fertig. Alice habe ich versprochen, den Artikel noch vor 22.00 Uhr abzuschicken, damit er es in die nächste Ausgabe schafft.« Sein Gesicht sprach Bände. Ihr war klar, dass es ihm überhaupt nicht passte.
»Du bist den ganzen Tag zu Hause, den blöden Artikel hättest du doch längst fertig haben können.«
Immer dasselbe leidige Thema. Wann begriff er endlich, dass sie nicht nur faul auf der Couch lag, sondern einer Arbeit nachging. Manchmal verfluchte sie es, freiberuflich tätig zu sein und nicht irgendwo in einem Büro. Es machte sie wahnsinnig, dass Michael das nicht verstehen konnte, nicht verstehen wollte. Innerlich war ihr Siedepunkt schon wieder erreicht. Allerdings wusste sie nur zu gut, dass das Ganze, wenn sie sich jetzt von ihm provozieren ließ, in einen handfesten Streit ausarten würde und ihr lief einfach die Zeit davon. Mit zusammengebissenen Zähnen ging sie in die Küche und haute wütend ein paar Eier in die Pfanne. Sie bestrich zwei Brote mit Ketchup, platzierte eine Scheibe Käse darüber und legte zum Abschluss die fertigen Spiegeleier obenauf. An den Tellerrand drapierte sie noch ein paar Gewürzgurken und servierte ihm das Essen an den Fernsehsessel.
Oh, Mann, es lief schon wieder Fußball. Na, jedenfalls konnte sie davon ausgehen, dass er sie jetzt in Frieden lassen würde und sie in Ruhe den Artikel fertigstellen konnte.
Er bedankte sich nicht einmal für die zubereitete