Das Medaillon. Gina Mayer
dem Tisch und sprach lautlos den Segen, weil sie es so gewohnt war. Als sie die Augen wieder aufschlug und ihn ansah, nickte er ihr zu und lächelte, und sie lächelte zurück.
Nach einigen Tagen hörte sie auf, sich morgens heimlich Brote zu machen, denn Kirschbaum kochte jeden Mittag für sie. Dabei hatte er eine Dienstmagd, die ihm den Haushalt machte, die für ihn putzte und wusch, aber das Kochen überließ er ihr nicht. Vielleicht beherrschte sie die komplizierten Regeln nicht, nach denen die Juden ihre Speisen zubereiteten, dachte Dorothea.
»Warum sprechen Sie Ihr Gebet nicht laut?«, fragte er am dritten Tag, nachdem sie vor dem Essen wieder still gebetet hatte. »Es stört mich nicht, im Gegenteil sogar.«
»Nein«, wehrte sie rasch ab. »Es ist nur meine Gewohnheit zu beten.«
»Ich weiß.« Er lächelte. »Nun, ich habe diese Gewohnheit leider verloren, deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie es für mich tun.«
»Aber ich bete doch zu einem anderen Gott«, sagte sie zögernd.
»Ich dachte immer, es gibt nur einen einzigen.«
»Natürlich«, meinte sie schnell und warf ihm von der Seite einen unsicheren Blick zu, um herauszufinden, ob er sich über sie lustig machte. Seine runden Augen waren ruhig und ernst. Ein bisschen traurig wie immer.
Abends nach der Arbeit ging sie immer in die Nordstadt, um bei Tante Lioba nach dem Rechten zu sehen. Der Weg dauerte eine Viertelstunde, sie ging so schnell sie konnte, mit gesenktem Kopf und mit niedergeschlagenen Augen, und hoffte, dass sie keiner sah und ansprach. Aber heute war die Hoffnung vergeblich.
»Wohin rennst du denn?«, fragte eine laute Stimme. Rosalie stand vor der Apotheke am Heckweiher, an einen Laternenpfahl gelehnt, als habe sie auf Dorothea gewartet.
»Ich muss zu Tantchen«, sagte Dorothea.
»Kommst du mit mir in die Apotheke?«, fragte Rosalie. »Ich muss meinem Vater ein paar Dinge besorgen. Hinterher begleite ich dich in die Nordstadt.«
Sie betraten zusammen den dunklen Ladenraum, Rosalie ging mit schwungvollen Schritten auf den jungen Mann hinter der Theke zu und streckte ihm einem Zettel entgegen. »Das ist Fräulein Leder«, stellte sie Dorothea vor.
Der Apotheker reichte Dorothea seine Hand über die Ladentheke. »Minter mein Name. Angenehm.«
Er war groß, sehr groß, Dorothea musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu blicken. Ein schöner Mann, aber irgendetwas an ihm flößte ihr ein Unbehagen ein. Sie hatte auch das Gefühl, dass sie ihn von irgendwoher kannte, dass sie ihn schon gesehen hatte, nicht nur einmal, sondern oft, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie etwas entgegnen musste. »Angenehm«, stotterte sie.
Die dunklen Augen musterten sie amüsiert. Dann wandte Minter sich Rosalie zu. »Ich habe die Tropfen schon vorbereitet, es dauert nur einen kleinen Moment.« Er ging in den Nebenraum und Dorothea und Rosalie warteten. Während sie auf die Regale starrten, hörten sie plötzlich über sich ein lautes Poltern und dann ein Dröhnen, wie von einem Erdbeben. Dorothea sah Rosalie fragend an, aber diese zuckte nur mit den Schultern. Schließlich kam Minter aus dem Nebenzimmer zurück und reichte Rosalie eine bräunliche Glasflasche.
»Vater sagt, ich soll Sie für den morgigen Abend einladen«, sagte Rosalie. »Dr. Fuhlrott wird auch zugegen sein.«
»Gibt es neue Erkenntnisse bezüglich der Gebeine?«, fragte der Apotheker.
Dorothea senkte den Blick zu Boden, als hätte er etwas Unzüchtiges gesagt. Diese elenden Knochen.
Rosalie zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie ihn selbst.«
»Werden Sie auch da sein?«, fragte Minter.
Rosalie zögerte einen Augenblick, sie drehte die Flasche in ihrer Hand hin und her, dann verzog sie verächtlich ihren großen Mund. »Sicher bin ich dabei, wo sollte ich auch sonst hin.«
Zum Abendbrot gab es Kartoffeln mit saurer Milch und die ganze Familie saß an dem langen Tisch in der Küche, die Eltern und Dorothea und ihre jüngeren Brüder Traugott, Tobias, Matthis und der kleine Hermann. Hermann zerdrückte seine Kartoffel zu einem klumpigen Brei und zog dann mit der Gabel Furchen, so dass die dicke Milch durch die Rinnen floss. Dorothea beugte sich so weit es ging über ihren Teller, damit der Vater vom Tischende aus nicht sehen konnte, dass Hermann spielte anstatt zu essen.
»Die Männer werden morgen Abend gleich nach der Arbeit hier eintreffen und hungrig sein«, sagte Frau Leder. »Es ist vielleicht nicht genug, wenn wir ihnen nur Brot und Griebenschmalz anbieten. Ich werde in der Frühe noch eine Kohlsuppe kochen, das ist sicherlich besser.« Der Satz war keine Frage, dennoch hob sie die Stimme am Ende und sah ihren Mann an, der seine Fingernägel betrachtete.
»Die Gemeinde kommt aber nicht zum Essen, sondern zum Gebet«, meinte er, ohne ihren Blick zu erwidern. »Hungrig soll gewiss keiner gehen, aber Brot und Schmalz stillen den Hunger genauso gut wie Wasser den Durst.« Jetzt blickte er auf und sah so missbilligend aus, als habe sie vorgeschlagen, Bier oder Wein zu reichen.
Frau Leder nickte, dabei legte sie Hermann noch eine Kartoffel auf den Teller und zerstörte so seinen kunstvoll errichteten Dammsee. Dorothea blickte auf das Bild über dem Esstisch, das Jesus zeigte, wie er auf dem See Genezareth über das Wasser wandelte. Sein dunkles Haar fiel in sanften Wellen auf sein weißes Gewand, die warmen, braunen Augen blickten versonnen in die Ferne und plötzlich wusste Dorothea, an wen dieser Apotheker, dieser Minter, sie vorhin erinnert hatte. Mit seinen langen Haaren sah er aus wie Jesus.
Rosalie war so schroff und abweisend zu ihm gewesen, als er sie auf das Treffen in ihrem Haus angesprochen hatte. Ob sie ihn nicht mochte?
Morgen würden sie hier ihre Andacht halten und zur gleichen Zeit würden die beiden Doktoren, dieser Apotheker und Rosalie sich genauso andächtig über diese Knochen beugen und darüber spekulieren, welchem altertümlichen Wesen sie gehört hatten. Und waren sich nicht einmal bewusst, dass sie Gottes heiliges Wort in Frage stellten, dachte Dorothea und fragte sich, ob das die Sache besser machte oder schlimmer.
»Dorothea?« Die Stimme ihres Vaters riss sie aus den Gedanken.
»Ja?«
»Hast du nicht zugehört? Ich sprach von Tante Lioba.«
»Von Tante Lioba?« Ihr Herz setzte einen Schlag aus und begann dann zu rasen.
»Ob du sie morgen mitbringen kannst, zur Andacht.«
»Ich weiß nicht«, meinte Dorothea. »Sie ist ja so verwirrt. Ich weiß wirklich nicht.« Sie schwieg, während sie verzweifelt versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Warum wollte ihr Vater Tante Lioba dabeihaben? Auch früher, als sie noch bei Verstand gewesen war, war sie niemals zu ihren Andachten gekommen. Sie war auch kein Glied der Niederländisch-reformierten Gemeinde. Ahnte er etwas? Wollte er Dorothea am Ende gar auf die Probe stellen? Wie sollte sie sich verhalten?
Er betrachtete wieder seine Hände. »Gut.« Er nickte langsam. »Es werden so viele Leute kommen, auch die Ältesten, und wenn sie unruhig wird und laut, dann kann sich keiner sammeln.«
Dorothea nickte ebenfalls. Ihr Herz schlug jetzt wieder langsamer, weil die Gefahr vorüber war, aber sie fühlte sich schuldig, obwohl sie nichts anderes gesagt hatte als die Wahrheit. Tante Lioba würde ganz ohne Zweifel alles durcheinanderbringen. Aber das war nicht der Grund, warum sie sie nicht dabeihaben wollte. Sie hatte Angst, dass sie sie verraten würde. Und dass dann alle erfuhren, dass Dorothea das vierte Gebot brach und auch das achte, Tag für Tag aufs Neue.
Sie musste damit aufhören, sie musste dieses Doppelleben aufgeben. Aber dann dachte sie wieder an das Halbdunkel in der Bibliothek, an den Geruch von altem Papier und die Stapel neuer Bücher, die auf ihrem Schreibtisch im Hinterzimmer auf sie warteten, und sie spürte ein warmes, fast wollüstiges Gefühl in ihrem Leib und wusste, dass es immer so weitergehen würde, bis es nicht mehr weiterging.
Als sie an den Regalen von A bis Kr vorbei war und ihr kleines Büro fast erreicht hatte, hörte sie die Stimmen. Herrn Kirschbaums Stimme und eine