Das Medaillon. Gina Mayer

Das Medaillon - Gina Mayer


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hatte, seit sie für ihn arbeitete, hielt sie inne und lauschte. »Ich bitte darum, nur dieses einzige Mal, es ist doch gewiss nicht zu viel verlangt ...«, klagte die Frauenstimme.

      Dorothea schüttelte den Kopf über ihre Neugierde und wollte die Tür hinter sich schließen, aber jetzt kam die Frau aus Kirschbaums Wohnung. Sie war viel älter als Dorothea, eine kräftige Person mit hoch aufgetürmtem schwarzen Haar, die ein Taschentuch vor den Mund presste. Ihre runden Schultern hoben und senkten sich in raschem Wechsel. Sie weinte und als sie fast an der Tür vorbei war, wandte sie plötzlich den Kopf und starrte Dorothea an. Ihre schwarzen Augen lagen tief in runzeligen, rot verweinten Höhlen, aber aus diesen Tiefen heraus brannten sie so verächtlich, so hasserfüllt, dass Dorothea die Tür abrupt ins Schloss zog und mit zitternden Beinen an ihrem Tisch Platz nahm.

      Was war das für eine Frau? Weshalb war sie so außer sich? Was für ein Geheimnis verbarg Kirschbaum, dieser ruhige, unscheinbare Mann?

      Eine Affäre. Die Frau liebte ihn, und er hatte sie abgewiesen. Dorothea runzelte die Stirn. Was für ein Unsinn.

      Die Frau war eine Leserin, die ein Buch ausgeliehen und verloren hatte und nun nicht dafür aufkommen wollte. Nein, dachte sie, die Frau hatte nicht verlegen ausgesehen oder ungehalten, sondern richtiggehend verzweifelt.

      Sie schob die Gedanken von sich und zog stattdessen eines der Bücher von dem Stapel, der sich links auf ihrem Tisch auftürmte, der Stapel mit den Rückgaben. Sie musste die dazugehörige Karte aus dem Karteikasten holen und das Buch zurückschreiben und dann an seinen Platz ins Regal bringen, in diesem Fall war es das Regal von S bis Sh, denn es handelte sich um William Shakespeares dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck.

      Sie suchte die Karteikarte im Kasten und setzte einen winzigen Haken hinter den Namen des letzten Lesers, der das Werk entliehen hatte, legte die Karte vorne zwischen den Einband und die Titelseite und dann ließ sie das Buch fallen. Sie ließ es nicht absichtlich fallen, es glitt ihr einfach aus den Händen und blieb aufgeschlagen auf dem Boden liegen, mit dem Rücken nach oben wie ein toter Vogel.

      Sie hob es schnell wieder auf, pustete den Staub vom Einband und wollte es eben weglegen, als ihr Blick auf die Stelle fiel, an der sich das Buch geöffnet hatte. Es war eine Stelle aus dem Kaufmann von Venedig, und ohne darüber nachzudenken, warum sie es tat, las sie den Satz, den der Daumen ihrer linken Hand unterstrich.

      »Shylock:« las sie. »Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt.« Und im selben Moment verstand sie und erschrak.

      Sie hatte das Stück vor Jahren gelesen und erinnerte sich nicht an alles, aber sie wusste, dass es um zwei Freunde ging, von denen der eine Geld brauchte und der andere borgte es für ihn bei dem reichen Juden Shylock. Und dieser Shylock machte es zur Bedingung, dass er sich ein Pfund Fleisch aus dem Leib des Christenmenschen herausschneiden dürfe, so die Schuld nicht rechtzeitig zurückgezahlt werden würde. Ein Pfund Fleisch nahe beim Herzen. Das war kein Zufall. Das war ein Zeichen. Dieses Buch. Dieses Stück. Und ausgerechnet dieser Spruch. Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt. Und dann die weinende Frau mit den schwarzen Haaren. Und Kirschbaum, der Jude war. Natürlich ging es um Geld, sagte das Zeichen, und ihr gesunder Menschenverstand sagte es auch, wenn sie eins und eins zusammenzählte. Kirschbaums Leihbibliothek warf guten Gewinn ab und nach Judenart verlieh er ihn gegen Zins an andere. Und die Frau konnte ihre Schuld nicht zurückzahlen, deshalb war sie so verzweifelt gewesen.

      Dorothea schob das Buch mit spitzen Fingern weg, als wäre es klebrig oder heiß, dann hob sie den Kopf und sah, dass die Tür offen war, die sie vorhin geschlossen hatte, und dass Kirschbaum auf der Schwelle stand und sein stilles, in sich gekehrtes Lächeln lächelte. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Das Buch lag da, mitten auf dem Schreibtisch, William Shakespeares dramatische Werke, und sie hatte das Gefühl, dass es alles verriet, was sie über ihn wusste, aber das war natürlich Unsinn, es waren doch nur alte Theaterstücke.

      Dennoch verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht von einem Moment zum anderen. »Ich bitte um Vergebung, ich war mir nicht bewusst, dass Sie schon da sind, weil die Tür geschlossen war ...«, sagte er förmlich. »Ich habe sie nur zugemacht, weil Sie Besuch hatten«, entgegnete sie ruhig. Sein Gesicht wurde noch ernster. Jetzt wusste er, dass sie wusste, worin sein eigentliches Geschäft bestand, womit er sein Geld verdiente.

      Er nickte rasch mehrmals hintereinander, dann wandte er sich wieder zum Gehen. »Soll ich sie nun auflassen oder möchten Sie lieber ungestört ...?«

      »Lassen Sie sie ruhig offen «, sagte sie, dann zog sie die Shakespeare-Ausgabe wieder zu sich und begann zu arbeiten.

      Als er kurz vor halb zwölf nach hinten ging, um mit dem Kochen zu beginnen, passte sie ihn ab. »Ich muss heute Mittag in die Nordstadt«, sagte sie. »Ich kann ... ich werde also nicht mit Ihnen essen.« Es war ihr unangenehm, dass sie ausgerechnet heute keine Zeit dafür hatte, sie hatte sich tatsächlich schon am Morgen vorgenommen, über Mittag zu Tante Lioba zu gehen und eine Stunde bei ihr zu sitzen, als Ausgleich dafür, dass sie sie abends nicht mit zur Bibelstunde nehmen würde. Aber gleichzeitig war sie auch erleichtert, dass sie nun nicht mit Kirschbaum zusammen sein musste, sie hätte heute bestimmt nicht gewusst, was sie mit ihm reden sollte. Es war ja nichts Verwerfliches, dass er Geld verlieh, so lange er keinen Wucher betrieb. Und dennoch, es führte ihr so deutlich vor Augen, dass Kirschbaum anders war als sie und die Ihren, dass er andere Maßstäbe hatte und andere Werte. Dass er Jude war. Und sie, die Christin, arbeitete heimlich für ihn, ohne die Billigung ihrer Eltern, und half ihm so, seinen Gewinn zu mehren. Sie dachte an den verächtlichen Blick der schwarzhaarigen Frau und schauderte.

      »Das ist sehr schade«, sagte Kirschbaum und seine braunen Augen glänzten so traurig, als könne er ihre Gedanken lesen.

      Tante Liobas Häuschen auf der Friedrichstraße hinter der Gathe war immer ihr ganzer Stolz gewesen, mit seinem schwarzen Fachwerk und dem Schieferdach, aber jetzt war es in die Jahre gekommen, so wie sie selbst auch. Die Holzbalken krümmten sich, der weiße Putz war grau und porös, an einigen Stellen war er ganz abgeplatzt, so dass der gelbliche Lehm zu Tage trat wie das Innere einer Wunde. Das Dach war schief und wellig, eine alte, schuppige Haut, die sich über einen knochigen Körper spannt. Die anderen Häuser sahen nicht besser aus, sie beugten sich krumm zueinander hin, voneinander weg, die ganze Straße schien inmitten einer taumelnden, schwankenden Bewegung erstarrt zu sein. Auch das Kopfsteinpflaster zwischen den Häusern war alt und holprig, einzelne Steine waren tief im Boden versunken, andere ragten schief und krumm nach oben, und in den Fugen wuchsen Gras und Unkraut.

      Bevor die beiden jüngsten Brüder geboren waren, hatten sie alle hier gewohnt, zusammen mit Tante Lioba, aber vor zehn Jahren waren die Leders dann in die Königsstraße gezogen und Tante Lioba war allein zurückgeblieben. Das Haus war zu klein für uns alle, sagten ihre Eltern immer. Aber ihre jetzige Wohnung im Luisenviertel war nicht größer als die obere Etage in Liobas Haus, die sie seit Jahren nicht mehr bewohnte, weil die Treppe schief und schadhaft war und das Dach undicht. Man könnte das obere Stockwerk doch herrichten, hatte Dorothea ihren Eltern vorgeschlagen, damals, als die Verwirrtheiten der Tante anfingen und sich täglich einer auf den Weg machen musste, um nach ihr zu sehen. Von der Friedrichstraße hätten sie es auch viel näher zur Kirche der Niederländisch-reformierten Gemeinde gehabt. Aber ihr Vater hatte nur mit dem Kopf geschüttelt, schnell und unwillig. »Nein, alles ist gut so, wie es ist.«

      Jetzt fand auch Dorothea, dass alles gut war, wie es war, denn sonst hätte sie nicht in der Leihbibliothek arbeiten können.

      Sie drehte den schweren Schlüssel im Schloss und die Haustür gab mit einem leichten Ächzen nach. Unter ihrer Hand fühlte sich das Holz morsch an, so als könnte sie die Tür ganz einfach eindrücken. »Tante Lioba«, rief sie laut. Und dann: »Walpurga?«

      »So früh kommst du heute?« Die alte Walpurga steckte ihren Kopf aus der Stube, sie sah missmutig aus, als habe Dorothea kein Recht, einfach so zu erscheinen, wie und wann es ihr passte.

      »Hat sie schon gegessen?«, fragte Dorothea und schob sich an ihr vorbei. Tantchen saß auf ihrem Lehnstuhl am Fenster, sie schaute auf die Straße und schien sie gar nicht zu bemerken. An manchen Tagen benahm sie sich


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