Die Forsyte Saga. John Galsworthy

Die Forsyte Saga - John Galsworthy


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      Doch an diesem Abend war Irenes Schweigen anders als sonst. Er hatte nie zuvor einen solchen Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen. Und da Ungewöhnliches stets als alarmierend empfunden wird, war Soames alarmiert. Soames aß seinen Nachtisch und trieb das Hausmädchen zur Eile an, als sie die Krümel mit einem Silberkehrbesen wegwischte. Als sie den Raum verlassen hatte, schenkte er sich Wein ein und sagte: »War heute Nachmittag irgendwer hier?«

      »June.«

      »Was wollte sie?« Bei den Forsytes ging man grundsätzlich nirgendwo hin, wenn man nicht etwas wollte. »Wahrscheinlich über ihren Verlobten sprechen, oder?«

      Irene antwortete nicht.

      »Ich habe den Eindruck«, fuhr Soames fort, »dass sie mehr in ihn vernarrt ist als er in sie. Sie hängt ihm immerzu an den Fersen.«

      Irenes Blick machte ihn unsicher.

      »Du hast kein Recht, so was zu sagen!«, rief sie.

      »Warum nicht? Jeder kann es sehen.«

      »Überhaupt nicht. Und wenn es jeder sehen könnte, es ist trotzdem eine Schande, es zu sagen.«

      Soames verlor die Fassung.

      »Du bist mir ja eine tolle Frau!«, sagte er. Doch insgeheim verwunderte ihn ihre hitzige Antwort, das war sonst gar nicht ihre Art. »Du bist ja regelrecht verrückt nach June! Aber eins sage ich dir: Jetzt, wo sie sich den Piraten geangelt hat, bist du ihr vollkommen egal, das wirst du schon noch merken. Aber du wirst sie in Zukunft ohnehin nicht mehr so oft sehen, wir ziehen nämlich aufs Land.«

      Er war froh gewesen, die Neuigkeit getarnt in diesem wütenden Ausbruch hervorbringen zu können. Er hatte einen Aufschrei des Entsetzens erwartet ‒ dass sie seine Verkündung schweigend zur Kenntnis nahm, beunruhigte ihn.

      »Das scheint dich gar nicht zu interessieren«, musste er gezwungenermaßen hinzufügen.

      »Ich wusste es schon.«

      Er sah sie scharf an.

      »Von wem?«

      »Von June.«

      »Woher wusste sie das?«

      Irene antwortete nicht.

      Verwirrt und verunsichert sagte er: »Es ist eine gute Sache für Bosinney, damit kann er sich einen Namen machen. Sie hat dir wahrscheinlich schon alles darüber erzählt, oder?«

      »Ja.«

      Wieder folgte eine Pause, dann sagte Soames:

      »Ich nehme an, du willst nicht gehen?«

      Irene antwortete nicht.

      »Ach, was weiß ich, was du willst. Du wirkst hier nie zufrieden.«

      »Haben meine Wünsche irgendetwas damit zu tun?«

      Sie nahm die Vase mit den Rosen und ging aus dem Zimmer. Soames blieb sitzen. Hatte er dafür etwa den Vertrag unterschrieben? Wollte er dafür mehrere zehntausend Pfund ausgeben? Er erinnerte sich wieder an Bosinneys Worte: »Frauen sind der Teufel!«

      Doch er beruhigte sich schnell wieder. Es hätte schlimmer laufen können. Sie hätte ausrasten können. Er hatte mit mehr gerechnet. Letztlich war es ein Glück gewesen, dass June das Eis für ihn gebrochen hatte. Sie musste es irgendwie aus Bosinney herausgequetscht haben. Er hätte sich denken können, dass sie das tun würde.

      Er zündete sich eine Zigarette an. Immerhin hatte ihm Irene keine Szene gemacht! Sie würde sich schon wieder beruhigen – das war das Beste an ihr. Sie war kalt, aber sie schmollte nie lange. Er blies den Zigarettenrauch nach einem Marienkäfer auf dem glänzenden Tisch und versank in seinen Gedanken über das Haus. Es brachte nichts, sich Sorgen zu machen; er würde das gleich mit ihr klären. Sie würde dort draußen in der Dunkelheit unter dem japanischen Sonnenschutz sitzen und stricken. Eine wundervolle warme Nacht …

      Tatsächlich war June an jenem Nachmittag mit leuchtenden ­Augen gekommen und hatte gesagt: »Soames ist ein Schatz! Es ist einfach großartig für Phil – genau das Richtige für ihn!«

      Als Irenes Miene unverändert finster und verwirrt blieb, fuhr sie fort: »Euer neues Haus in Robin Hill natürlich. Wie? Weißt du gar nichts davon?«

      Irene wusste nichts davon.

      »Oh, dann hätte ich dir wohl nichts davon sagen sollen!« Sie sah ihre Freundin ungeduldig an und rief: »Du schaust, als wäre dir das vollkommen egal. Verstehst du denn nicht, das ist genau das, ­worauf ich immer gehofft habe – genau die Chance, die er sich die ganze Zeit gewünscht hat. Jetzt könnt ihr endlich sehen, was er draufhat.«

      Und dann erzählte sie die ganze Geschichte.

      Seit ihrer eigenen Verlobung schien sie sich kaum noch dafür interessiert zu haben, wie es ihrer Freundin ging. In den Stunden, die sie mit Irene verbrachte, ging es stets um ihre eigenen Gefühle und Probleme. Und hin und wieder konnte sie trotz ihres Mitgefühls als liebende Freundin nicht verhindern, dass sich in ihr Lächeln eine Spur von mitleidiger Verachtung einschlich für die Frau, die einen so großen Fehler in ihrem Leben begangen hatte – einen so riesigen, lächerlichen Fehler.

      »Er soll auch für die gesamte Inneneinrichtung zuständig sein – er wird freie Hand haben. Es ist perfekt …« June brach in Lachen aus, ihr kleiner Körper schüttelte sich vor Freude. Sie hob ihre Hand und schlug gegen einen Musselinvorhang. »Weißt du, ich habe sogar Onkel James gefragt …« Doch es widerstrebte ihr plötzlich, über diese Sache zu reden, und so brach sie ab. Und da sie fand, ihre Freundin zeige nicht genug Interesse, ging sie auch schnell wieder. Sie blickte vom Gehweg aus zurück, Irene stand noch immer in der Tür. In Erwiderung ihres Winkens nahm Irene ihre Hand an die Stirn und drehte sich dann langsam um und schloss die Tür …

      Kurz darauf ging Soames ins Empfangszimmer und warf durchs Fenster einen Blick zu ihr.

      Sie saß still draußen im Schatten des japanischen Sonnenschutzes, nur die Spitze auf ihren weißen Schultern bewegte sich mit dem sanften Heben und Senken ihres Busens.

      Doch dieses stille Wesen, das da so regungslos in der Dunkelheit saß, schien von einer Wärme umgeben zu sein, einer verborgenen Leidenschaft, als ob ihr ganzes Sein in Aufruhr versetzt worden wäre und tief in ihr irgendeine Veränderung stattfände.

      Er stahl sich unbemerkt wieder zurück ins Esszimmer.

      Es dauerte nicht lange, ehe Soames’ Entschluss zu bauen in der ­Familie die Runde machte und die Aufregung verursachte, die jeder mit Besitz verbundene Entschluss bei den Forsytes auslöste.

      Er konnte nichts dafür, er war schließlich fest entschlossen gewesen, dass es niemand wissen sollte. In der Überfülle ihres Herzens hatte June es Tante Juley erzählt. Sie hatte ihr gesagt, sie solle niemandem außer Tante Ann davon erzählen – sie dachte, es würde sie aufmuntern, die gute alte Arme! Tante Ann hatte nämlich seit vielen Tagen schon ihr Zimmer nicht mehr verlassen.

      Tante Juley erzählte es Tante Ann auch sogleich, die sich daraufhin lächelnd in ihre Kissen zurücklehnte und mit ihrer deutlich zittrigen alten Stimme sagte: »Das ist wirklich schön für June. Aber hoffentlich sind sie vorsichtig – das ist eine recht gefährliche Angelegenheit!«

      Als sie wieder alleine war, zog ein finsterer Ausdruck über ihr Gesicht wie eine Wolke, die Regen für den nächsten Tag ankündigt.

      Während all der Tage, die sie dort lag, versuchte sie immerzu ihre Willenskraft wieder zu stärken. Sogar ihr Gesicht war nun an diesem Prozess beteiligt und ihre Mundwinkel waren stets verkrampft zusammengepresst.

      Das Hausmädchen Smither, das schon für sie arbeitete, seit sie ein junges Mädchen war, und über das immer gesagt wurde: »Smither – ein gutes Mädchen - aber so langsam!«, Smither vollführte zu Beginn eines jeden Tages mit großer Förmlichkeit die krönende Zeremonie jener alten Morgentoilette. Aus den Tiefen ihrer strahlend weißen Hutschachtel holte sie jene flachen,


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