Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen. Manfred Vogt
Sie an die umfangreichen Erfahrungen der Autoren und deren kreative Ideen anknüpfen und diese zur Gestaltung Ihrer eigenen therapeutischen Arbeit nutzen und weiterentwickeln können.
Jun.-Prof. Dr. Julia Martini Juniorprofessorin für „Psychiatrische Diagnostik und Intervention“ und Psychologische Psychotherapeutin am Universitätsklinikum „Carl Gustav Carus“ der Technischen Universität Dresden
Einleitung
Grundlegende Gedanken zum vorliegenden Buch
Bei der Behandlung von psychischen Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen mit chronischen körperlichen Erkrankungen ist die hohe Systemkomplexität im Handlungsfeld von ärztlicher Behandlung der körperlichen Grunderkrankung und der Psychotherapie der Folgestörungen bei den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Angehörigen zu berücksichtigen. Anders als in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen bei Ängsten oder Zwängen sind bei jungen Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen nicht nur die somatischen Krankheitsbilder, sondern auch die psychischen Folgen und psychotherapeutischen Interventionsperspektiven und die Behandlungskontexte im Krankheits- und Behandlungsverlauf höchst unterschiedlich.
Chronische körperliche Erkrankungen stellen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Familien starke psychische Belastungen dar. Sie zeigen sich in Form von unterschiedlichen psychischen Anpassungsreaktionen. Angefangen von akuten Belastungsreaktionen können sie als Angstreaktionen, kurz- und mittelfristige depressive Reaktionen mit gemischten Beeinträchtigungen von Gefühlen und Sozialverhalten sowie als posttraumatische Belastungsstörungen mit beeinträchtigter Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien beschrieben werden. Die Diagnose der Anpassungsreaktion unterscheidet sich durch ihre Codierung von anderen Symptomen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, da hier ätiologisch auf eine beschreibbare äußere und innere Belastung hingewiesen wird.
Zur systemischen Behandlung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen (Rotthaus 2016), von Depressionen (Ruf 2015) und von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Korittko 2016) geben die genannten Arbeiten aus der vorliegenden Reihe »Störungen systemisch behandeln« einen guten Überblick. Im Zusammenhang chronischer körperlicher Erkrankungen sind die genannten Symptome als begleitende Symptome zu verstehen, und Angstreaktionen im Zusammenhang mit einer schweren chronischen, womöglich lebensbedrohlichen Erkrankung bei Kindern sind realitätsbezogen und damit nachvollziehbar und anders interpretierbar.
In dem vorliegenden Buch schildern wir die psychischen Belastungen und Anforderungen im Rahmen der Vielfalt chronischer Erkrankungen, ihre Unterschiede, Folgen und Beeinträchtigungen und beschreiben, wie diese behandelt werden können. Psychische Belastungen zeigen sich bei körperlichen Krankheitsbildern in den verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich. Die psychotherapeutische Behandlungspraxis erfordert dabei, den Bezug zur körperlichen Erkrankung und der entsprechenden Behandlung fortwährend zu berücksichtigen. Dabei sind die psychischen Anpassungsreaktionen immer in Bezug auf die Form, Dauer und Schwere der körperlichen Erkrankung zu verstehen und zu behandeln. Chronische körperliche Erkrankungen erfordern in den unterschiedlichen Krankheitsphasen ambulante und auch stationäre ärztliche Behandlungen, die – über die Belastungen allein schon durch die Diagnose hinaus – große Herausforderungen an die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Angehörigen stellen.
In der ambulanten Behandlung ihrer körperlichen Erkrankung treffen die Klienten und ihre Familien auf niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten, die unterschiedlich vernetzt miteinander arbeiten. Innerhalb der Klinik treffen Patienten auf helfende Begleiter aus multiprofessionellen Teams (Ärzten, Pädagogen, Psychotherapeuten und Psychologen mit und ohne psychotherapeutische Weiterbildungen, Kunst-, Musik- und Sporttherapeuten sowie das qualifizierte Pflegepersonal), die allesamt sowohl beratende, psychotherapeutische als auch begleitende psychosoziale Aufgaben übernehmen. Um bestmöglich unterstützen zu können, sollten die Mitglieder der unterschiedlichen Professionen mit gemeinsamen oder ähnlichen Grundhaltungen innerhalb ihres Handlungsfeldes vorgehen. Dies fügt der Heterogenität der Erkrankungsbilder und Behandlungsformen noch die Herausforderung der interdisziplinären Verständigung innerhalb und zwischen verschiedenen Berufsgruppen hinzu.
In der alltäglichen Praxis mit Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen bewegen wir uns in Kontexten, die einer ganzheitlichen systemischen Familienmedizin (Altmeyer u. Kröger 2003; Altmeyer u. Hendrischke 2012) zuzuordnen sind und in denen medizinische, pflegerische, psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen wechselseitig realisiert werden. Systemische Familienmedizin verbindet die organ- und symptombezogene Medizin mit der psychologischen Perspektive der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie. Ihre Praxis beruht auf folgenden Grundlagen:
•Gleichwertiges Berücksichtigen und Einbeziehen von psychischen und somatischen Aspekten,
•enge regelmäßige Kooperation mit der ganzen Familie betroffener Patienten,
•familienbezogene Kooperation der psychologischen, medizinischen, pflegerischen und pädagogischen Professionen in interdisziplinären Behandlungsteams.
Im Zentrum steht das konstruktive Verbinden und Koordinieren phasenspezifischer Behandlungsziele und Aufträge in den unterschiedlichen Behandlungskontexten wie der stationären Klinikbehandlung und der ambulanten medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung und Nachsorge (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 2012). Für psychotherapeutisch geschulte praktizierende Psychologen im stationären Behandlungssetting bieten sich in Form von Fallkonferenzen oder Helfersystem-Konferenzen vielfach Möglichkeiten kooperativer Gespräche an. Für den ambulant tätigen niedergelassenen Psychotherapeuten erfordert diese ganzheitliche Kooperation weitreichende Netzwerkarbeit.
Retzlaff (2008) betont den Nutzen dieser zusätzlichen Arbeit für niedergelassene Psychotherapeuten, um symmetrische Behandlungsbemühungen im Geflecht von Medizin, Psychotherapie, Familie und Patienten aufzufangen. Damit alle beteiligten Professionen im Sinne des Patienten aufeinander abgestimmt agieren, empfiehlt er folgende Praxis für die ambulante Psychotherapie:
•»Entbindung von der Schweigepflicht einholen und Kontaktaufnahme zum zuweisenden Behandlungssystem (bisherige Befunde und medizinische Behandlungsziele eruieren)
•das eigene psychotherapeutische Behandlungskonzept vorstellen und auf mögliche Kooperationsgespräche zwischen den Professionen im Behandlungsverlauf hinweisen
•abklären, ob Ereignisse und Ergebnisse für die medizinische und pflegerische Seite der Behandlung relevant sind
•erweiterte Netzwerkpflege beispielsweise zwischen Schule und weiteren professionellen Disziplinen wie Physio- und Ergotherapie betreiben« (Retzlaff 2008, S. 80).
Die psychotherapeutische Praxis mit Kindern und Jugendlichen enthält in der Einzeltherapie neben genuin therapeutischen Interventionen immer auch psychosoziale und pädagogische Elemente, genauso wie psychosoziale Interventionen psychotherapeutische Funktionen und Effekte beinhalten. In einer systemisch-ganzheitlichen Betrachtung und Behandlungsperspektive von Kindern mit chronisch körperlichen Erkrankungen vermischen sich die Perspektiven.
In Vorbereitung auf das vorliegende Buch haben wir versucht, die systemische Komplexität in der Behandlung von psychischen Folgen bei chronischen Erkrankungen zu ordnen, und haben immer wieder die fließenden Übergänge zwischen ambulanten und stationären, psychotherapeutischen und psychosozialen Interventionen reflektiert. Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, haben wir uns dazu entschieden, unsere vielfältigen Erfahrungen aus der ambulanten und stationären Psychotherapie und Versorgung nicht auf die Darstellung der ambulanten Psychotherapie der psychischen Anpassungsreaktionen der jungen Klienten zu reduzieren. Das ist schon allein deshalb erforderlich, weil bei vielen chronischen körperlichen Erkrankungen längere und auch wiederholte Klinikaufenthalte notwendig sind, während derer psychotherapeutische Interventionen und vielfältige psychosoziale Begleitungen durchgeführt werden. Aus demselben Grunde findet auch nur ein geringer Teil der akut betroffenen Patienten und Angehörigen bei der vorhandenen Versorgungsstruktur den Weg in eine reguläre