Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman. Toni Waidacher

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher


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mehr als sechzig Jahren verrichtete Urban Brandner nun schon diese Arbeit. Tag für Tag die gleichen Handgriffe. Ganz selten einmal fand er den Weg ins Tal hinunter, und die Leute von Sankt Johann begegneten dem Alten mit einer Mischung aus Ablehnung und Respekt.

      Die Bauern schätzten seine Arbeit, insbesondere den Käse, den der Senn droben auf der Alm herstellte, und der bei Gastwirten und in Delikateßläden reißenden Absatz fand. Auf der anderen Seite fürchteten sie Urbans Launen. Jähzornig konnte er werden, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging, und ließ es die Leute deutlich spüren, wenn er jemanden nicht mochte. Wenn ein Wanderer in Urbans Sennenwirtschaft erschien, dessen Nase dem Alten nicht paßte, konnte es vorkommen, daß der ihn umgehend – unter deftigen Worten – nach drau­ßen beförderte.

      Später saß Urban draußen vor der Hütte und nahm seine erste Mahlzeit ein. Die Kühe grasten bereits wieder unten, bewacht von zwei Schäferhunden, die der Senner selbst ausgebildet hatte.

      Nach dem Essen kümmerte sich der alte Mann um die Milch, setzte neuen Käse an und ließ einen Teil der frischgemolkenen Milch in den Buttertrog. Es war eine mühselige Arbeit, die Urban mit der Hand verrichtete, und es dauerte eine ganze Weile, bis die Butterklumpen sich endlich absetzten.

      Zwischendurch schaute er zum Himmel hinauf. Strahlender Sonnenschein lag über den Bergen, und würzige Luft stieg ihm in die Nase. Tief unter sich sah er das Tal liegen, mit all den Menschen, die in Hektik und Arbeit versanken. Stinkende Automotoren, lärmende Radios und Fernsehgeräte. – Urban atmete tief durch – all das brauchte er nicht. Hier oben war seine Welt, hier war er zu Hause, und es reichte ihm, wenn ab und an Bergwanderer bei ihm vorbeischauten, oder allmonatlich die Bauern kamen, um ihren Käse abzuholen, und ihm Neuigkeiten von unten berichteten.

      Es war schon später Vormittag, als Urban Brandner vor der Hütte saß. Vor sich auf dem Tisch hatte er verschiedene Messer liegen, und in der Hand lag die geschnitzte Figur eines Hundes. In seiner Freizeit stellte der alte Senner viele solcher Figuren her, und manch ein Wanderer kaufte ihm die eine oder andere ab. Das Geld dafür steckte Urban dann in einen alten Strumpf, den er unter seinem Strohbett versteckte. In den Jahren hatte sich so ein ganz hübsches Sümmchen angespart.

      Der Mann betrachtete seine Arbeit und wollte sich eben zufrieden zurücklehnen, als er Schritte vernahm. Urban erhob sich und schaute den Weg hinunter. Es war eine junge Frau, die da ganz alleine heraufkam. Der Senner stand auf und wischte die Holzspäne vom Tisch. Dann trug er die Figur und die Messer in die Hütte hinein. Als er wieder heraustrat, war das Madel schon angekommen.

      »Grüß Gott«, sagte die junge Frau mit einem freundlichen Lächeln. »Sind Sie der Herr Brandner? Urban Brander?«

      Der Alte nickte.

      »Freilich. Was kann ich für Sie tun?«

      Urban trat vollends aus der Tür, und erst jetzt konnte er das Gesicht der Besucherin sehen. Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen starrte er sie an. Er fühlte, wie sein Puls raste, und ein heißer Blutstrom zu seinem Herzen schoß.

      »Maria…, bist du’s wirklich…?« stammelte er fassungslos.

      Das Madel lachte erleichtert auf und setzte den schweren Rucksack ab, den es auf dem Rücken trug. Sie schnaufte.

      »Nein, Maria bin ich nicht, aber Sie… du kennst sie, nicht wahr?«

      Urban hatte sich inzwischen gefaßt. Natürlich konnte das junge Madel net seine Tochter Maria sein, dafür war es ja viel zu jung. Aber diese Ähnlichkeit!

      »Wer sind Sie?«

      »Kannst du dir das net denken?« fragte die Frau zurück. »Man sagt, ich habe viel Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Ich bin Veronika, Großvater, deine Enkeltochter.«

      Der alte Senner spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Mein Gott, natürlich! Darum hatte er zuerst geglaubt, seine Tochter sei zurückgekehrt, nach all den Jahren. Veronika Seebacher sah die Tränen des Alten und hob zaghaft die Hand.

      »Willst mich net willkommen heißen?« fragte sie. Urban breitete beide Arme aus.

      »Doch«, flüsterte er. »Sei herzlich willkommen.«

      Veronika warf sich in seine Arme, und als sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte, spürte sie das Zittern, das den alten Mann durchfuhr.

      *

      Plötzlich schien es, als wäre das Rad der Zeit zwanzig Jahre zurückgedrehnt worden. Gerade so, als wäre es gestern gewesen, tauchten die Bilder der Vergangenheit vor ihm auf.

      Maria Brandner war ein junges, hübsches Madel, und die Burschen im Dorf drunten waren alle wild hinter ihr her. Urban, der nach dem frühen Tode seiner Frau, das Kind ganz alleine großgezogen hatte, führte ein strenges Regiment, und wenn Maria einmal am Samstag abend zum Tanz gehen wollte, dann achtete ihr Vater darauf, daß sie nie alleine ins Dorf ging. Jedesmal war er dabei und paßte auf, daß die Burschen seiner Tochter nicht zu nahe kamen.

      Dabei hatte längst einer das Herz des Madels erobert. Als Urban dahinterkam, setzte es ein ungeheures Donnerwetter, und er sperrte Maria eine Woche lang ein.

      Und das war der Gipfel. Maria, schon volljährig, wagte es, sich ihrem Vater zu widersetzen, und es kam zu einem bösen Streit, der damit endete, daß Urban seine Tochter verstieß. Bei Nacht und Nebel verließ sie die Sennhütte, in der sie geboren und aufgewachsen war. Urban wußte nicht, wohin sie gegangen war. Er hörte nie wieder von ihr.

      Bitterkeit hatte sich in all den Jahren in seinem Herzen eingegraben, und wahrscheinlich führte sie dazu, daß er manchen Leuten gegenüber schroff und ablehnend war.

      Kopfschüttelnd betrachtete er nun das Madel neben sich auf der Bank. Er konnte es immer noch nicht glauben. Das also war seine Enkeltochter, das Kind seiner Maria.

      »Die Mama war sehr krank«, berichtete Veronika. »Der Papa ist schon früh gestorben, und davon hat die Mama sich net mehr erholt.«

      Urban schluckte. Seine Enkelin hatte eine Frage beantwortet, die zu stellen er sich nicht gewagt hatte. – Maria lebte also nicht mehr. Urban schluckte und strich dem Madel über das Haar. Es war genauso blond wie das seiner Tochter, und Veronika hatte dasselbe Gesicht, die blauen Augen, das kleine Stupsnäschen, und sogar das Grübchen auf der rechten Wange – wenn sie lachte, dann war es da.

      »Nach einigen Wochen habe ich mich dann um den Nachlaß gekümmert und bin dabei auf einige Papiere gestoßen, in denen dein Name erwähnt ist. Ich habe ja vorher gar net gewußt, daß ich einen Großvater habe.«

      Sie schaute ihn liebevoll lächelnd an.

      »Und dann hab ich mich auf die Suche nach dir gemacht«, endete sie.

      Sie nahm seine rauhe, abgearbeitete Hand und drückte sie fest.

      »Ihr hattet wohl Streit?« fragte sie. »Die Mama hat nie über ihre Familie gesprochen.«

      Urban wurde verlegen. Natürlich hatte es Streit gegeben, und in all den Jahren hatte er sich mehr als einmal Vorwürfe gemacht, er sei zu streng gewesen. Aber da war es zur Reue längst zu spät.

      »Ich hab’ viel gutzumachen«, flüsterte er. »Und ich bin froh, daß du gekommen bist.«

      Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke.

      »Du liebe Güte«, rief er aus. »Ich bin ein schlechter Gastgeber. Du mußt doch Hunger haben und Durst.«

      »Nein, nein, so schlimm ist es nicht«, antwortete Veronika lachend. »Aber ein Glas frische Milch nehme ich gerne.«

      Sie war ebenfalls aufgestanden, und schaute sich um. Die Arme um den Großvater legend, strahlte sie den alten Mann an.

      »Herrlich hast du’s hier droben«, schwärmte sie. »Man möcht’ am liebsten gar net mehr weg.«

      Urban Brandner strahlte zurück, und die Worte des Madels brannten sich in seinem Kopf fest.

      *

      Markus Bruckner schaute aus dem Fenster seiner Amtsstube hinüber zum Kirchplatz.


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