Der Bergpfarrer 252 – Heimatroman. Toni Waidacher
Als sich nichts regte, rief er nach den Bewohnern, betrat schließlich den Flur und schaute sich um, aber keine Menschenseele war zu sehen. Schulterzuckend verließ er das Haus wieder und wandte sich in Richtung Stall. Gerade wollte er die große Holztür öffnen, als sie sich öffnete.
Aus dem Halbdunkel trat Burgl Pörnbacher, einen Melkeimer in der Hand.
»Guten Morgen, Herr Pfarrer«, grüßte Burgl freudig überrascht. »Das ist aber schön, dass Sie uns wieder einmal besuchen.«
Sie hielt dem Bergpfarrer die nicht ganz saubere Hand hin, die der Geistliche warm und herzlich drückte.
»Guten Morgen, Burgl«, erwiderte er freundlich den Gruß der Pörnbacher-Bäuerin. Er zögerte einen Moment, weil er nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte, dann setzte er hinzu: »Wie geht es dir und dem Franz? Alles in Ordnung bei euch hier heroben?«
Burgl holte tief Luft.
»So weit schon«, antwortete sie, trat dann einen Schritt zurück und musterte Pfarrer Trenker mit einem leicht verlegenen Seitenblick. »Allerdings wollen wir unseren Hof aufgeben und sind auf der Suche nach einem Nachfolger. Aber davon haben Sie wahrscheinlich schon gehört. So etwas spricht sich in einem Ort wie St. Johann schließlich schnell herum. Vor allem, wenn man, wie wir gestern, in den Wohnstuben sämtlicher Häuser über den Bildschirm flimmert.«
Pfarrer Trenker lächelte.
»Sogar im Pfarrhaus«, meinte er und blinzelte Burgl zu. »Ehrlich gesagt, ein wenig gewundert hab ich mich schon. Im Grunde seid ihr ja für den Ruhestand noch ein bissel jung, du und dein Franz. Findest net auch, Burgl?«
Die Pörnbacherin zuckte die Schultern.
»In den Fünfzigern sind wir halt«, sagte sie. Freilich ist das in der heutigen Zeit noch kein Alter. Und eigentlich wollten wir ja immer hier auf unserem Hof arbeiten, solang wir irgend können. Bloß auf einmal hat der Franz dann nur noch davon geredet, dass wir auf die Art und Weise gar nix mehr von unserem Leben haben.« Burgl hielt inne, griff nach ihrem Taschentuch und schnäuzte sich. »Wenn ich ehrlich bin, war ich von der Idee, jetzt schon in Rente zu gehen, am Anfang gar net sonderlich begeistert. Aber nach und nach hat der Franz mich überzeugt. Für wen rackern wir uns eigentlich ab? Wir haben keine Kinder. Unser Hof kommt, wenn der Franz und ich einmal nimmer können, sowieso in fremde Hände. Was macht es für einen Unterschied, ob jetzt gleich oder in zehn Jahren?« Burgl machte wieder eine kleine Pause und setzte den schweren Melkeimer ab. »Der Franz hat gemeint, je eher wir übergeben, desto mehr gemeinsame Zeit bleibt uns noch. Sorglos und frei. Mein Schwiegervater ist als junger Mann über zwei Jahre in Amerika gewesen und hat dem Franz, als er noch ein Bub war, immer wieder von der Neuen Welt erzählt. Und ihn neugierig gemacht. Kein Wunder, dass mein Mann sich gewünscht hat, die Berge von Montana einmal mit eigenen Augen zu sehen. Aber eine so weite Reise ist, wenn man einen Bauernhof hat, schlicht unmöglich.« Burgl ließ ihre Blicke für einen Moment über ihren Hof hin schweifen. »Was mich selbst betrifft, hab ich als junges Madl ständig von einer Hochzeitsreise nach Venedig geträumt. In einer warmen Sommernacht eine Gondelfahrt zu zweit auf dem Canale Grande, wenn sich die Sterne im Wasser spiegeln und der Gondoliere ein romantisches Liebeslied singt … Aber nachdem der Franz und ich geheiratet hatten, war leider keine Zeit für Flitterwochen. Ein paar Flitterstunden haben wir gehabt, das war alles. Während unserer bescheidenen Hochzeitswanderung auf die Kandereralm haben wir uns geschworen, alles nachzuholen. Aber wie das halt so ist im Leben …«
Pfarrer Trenker nickte.
»Von der Seite hab ich die Sache bis jetzt noch gar net betrachtet«, meinte er, nachdenklich geworden. »Vielleicht ist die Entscheidung, die dein Mann getroffen hat, wirklich gar net so schlecht. Wo ist der Franz eigentlich? Im Wohnhaus hab ich geklopft, aber niemanden angetroffen.«
»Das glaub ich Ihnen gern«, gab Burgl zurück. »Der Franz ist heut früh gleich nach dem Frühstück in die Kreisstadt gefahren, einen wichtigen Behördengang erledigen. Und den Hannes, unseren Knecht, hat er mitgenommen. Ria, die Magd, hat heut’ ihren freien Tag, und …« Burgl unterbrach sich mitten im Satz und tippte sich gegen die Stirn. »Und ich bin unhöflich, dass es gar nimmer unhöflicher geht«, vollendete sie. »Ich red’ und red’ und lass Sie einfach mitten auf dem Hof stehen, Herr Pfarrer. Anstatt Sie ins Haus zu bitten. Ich hoff’, Sie sind mir net bös. Aber die Geschichte mit der Hofübergabe treibt mich halt doch um. Und ich war einfach froh, mit Ihnen reden zu können. Mit einem Menschen, der einem einen ehrlich gemeinten Rat gibt und auf dessen Urteil man sich unbedingt verlassen kann.«
Pfarrer Trenker wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Burgls Vertrauen ehrte und rührte ihn. Aber dass der Bäuerin die Entscheidung für den Ruhestand offenbar doch schwererfiel, als sie es sich eingestehen wollte, war kaum zu überhören und das beunruhigte Sebastian.
»Es ist alles in Ordnung, Burgl, mach dir keine Gedanken«, sagte er und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Gott sei Dank«, gab die Pörnbacher-Bäuerin erleichtert zurück. Sie wies auf den Melkeimer. »Ein Glas frische Milch mögen Sie doch sicher, Herr Pfarrer«, bot sie an. »Und einen Kaffee mach’ ich Ihnen auch noch. Zu dem Guglhupf, den ich gestern gebacken hab. Er schmeckt zwar bestimmt net halb so gut wie der, den Ihre Frau Tappert Ihnen kredenzt, aber der Franz und unser Knecht waren bisher mit meinen Koch- und Backkünsten jedenfalls net unzufrieden.«
Sebastian Trenker konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Burgl Pörnbacher, die ihm das Tragen des schweren Melkeimers nur widerstrebend überließ, ins Haus folgte. Er nahm auf dem Sofa in der geräumigen Wohnküche Platz und stellte angenehm berührt fest, dass der Raum seit seinem letzten Besuch nichts von seiner Behaglichkeit eingebüßt hatte. Auf dem schweren Eichentisch stand eine Blumenvase mit üppigen Bauernrosen. Von den holzvertäfelten Wänden grüßten immer noch die Fotos und Bilder der Familien, die einmal hier auf dem Pörnbacher-Hof gelebt und gewirkt hatten. Und alles blitzte und funkelte nur so vor Sauberkeit.
»Da ist die Milch, Herr Pfarrer«, unterbrach Burgl Pörnbacher schon nach kurzer Zeit Sebastian Trenkers stille Betrachtung ihres häuslichen Wirkens. »Kaffee und Guglhupf kommen gleich.«
Es dauerte in der Tat nicht lange, bis die Bäuerin mit einem bemalten Holztablett, auf dem sich ein Teller mit Kuchen und eine blaue Kaffeekanne nebst passender Tasse befanden, zurückkehrte.
Sebastian nahm der Pörnbacher-Bäuerin ihre verführerisch duftende Last ab.
»Und du, Burgl? Willst’ mir net Gesellschaft leisten und auch etwas essen und trinken?«, schlug er vor.
Burgl Pörnbacher überlegte einen Moment, dann nickte sie.
»Warum eigentlich net«, stimmte sie zu und verschwand noch einmal, um sich selbst ebenfalls mit Kaffee und Kuchen zu bedenken.
Der Bergpfarrer und die Bäuerin saßen noch nicht lange beisammen, als mit einem Mal der Hofhund anschlug und fast gleichzeitig draußen das Motorengeräusch eines Autos zu vernehmen war.
»Jesses, der Franz. Er wird doch net schon da sein«, freute sich Burgl und sprang auf.
Sie eilte zur Tür und öffnete. Gerade noch rechtzeitig, um ihren Mann hereinzulassen.
Franz gab seiner Frau einen kurzen Begrüßungskuss, dann fiel sein Blick auf Pfarrer Trenker. Einen Moment lang stutzte er, doch die Freude über den unverhofften Besuch überwog.
Mit einem herzlichen Lächeln streckte er dem Bergpfarrer beide Hände entgegen.
Sebastian Trenker ergriff sie, hatte aber Mühe das leise Erschrecken zu verbergen, das er beim Anblick Franz Pörnbachers empfand.
Der ehemals stämmige Mann war zwar immer noch kräftig, hatte aber doch an Gewicht verloren. Und sein Gesicht war nicht mehr so braun gebrannt wir früher, sondern viel blasser, als Sebastian es in Erinnerung hatte.
»Ich hab dem Herrn Pfarrer schon von unserem Vorhaben erzählt«, erklärte Burgl, noch ehe einer der beiden Männer hätte das Wort ergreifen können.
Pfarrer Trenker und Franz Pörnbacher sahen sich ein wenig verlegen an, dann lachte der Bauer bemüht