Leben. Oleg Senzow
das Zeug hält, und dein Hund antwortet mit lautstarkem Gebell, du musst ihn mit aller Kraft zurückhalten, ihr seid beide erschöpft und glücklich. Du gibst ihm zu trinken, gießt Wasser aus einer Kanne in seine Schale nach, bringst ihm sein Abendessen raus. Selig schlaft ihr beide ein, und als du am Morgen in die Schule gehst, begleitet dich mit klirrender Kette dein Hund vors Tor, und ihr wisst beide, dass ihr abends wieder losziehen werdet, wieder zusammen, wieder glücklich.
Die Kindheit ist eine Zeit des Glücks. Meine Kindheit jedenfalls war glücklich, Gott sei Dank, und meine wärmsten und liebsten Erinnerungen sind mit meinem Hund und mit diesen Spaziergängen verbunden.
Aber dann ging die Kindheit allmählich zu Ende, die Spaziergänge mit dem Hund wurden zur lästigen Pflicht, oder zum Vorwand, um mit anderen Jungs im Wald zu rauchen und Karten zu spielen. Im Sommer verbrachte ich mehr Abende mit meinen Freunden und mit Fußball als mit meinem Hund. Jedes Mal, wenn Dick sah, wie ich Richtung Tor lief, machte er einen Satz aus seiner Hundehütte, in den Augen die Hoffnung, dass wir gleich gemeinsam losgehen würden, aber fast immer wurde er enttäuscht. Anfangs blieb ich noch stehen, streichelte ihn und bat ihn um Entschuldigung, weil ich ihn an dem Tag nicht ausführen würde, er leckte mein Gesicht und wir verabschiedeten uns. Irgendwann tätschelte ich ihn nur noch beim Weggehen, und schließlich ging ich einfach an ihm vorbei. Je höher die Schulstufe, desto weniger beschäftigte ich mich mit meinem Hund und desto seltener wurden unsere Spaziergänge, bis sie eines Tages ganz aufhörten. Ich hatte nun neue Interessen, neue Freunde, der Hund stand nicht mehr an erster Stelle – wie eine Frau, die man nicht mehr wahrnimmt, obwohl man noch mit ihr zusammenlebt.
Nach dem Schulabschluss zog ich zum Studium in die Stadt und sah Dick nur noch ein Mal die Woche. Ich streichelte ihn zur Begrüßung, manchmal zum Abschied. Hatte ich ihn noch lieb? Natürlich, aber diese Liebe war wie eine Gewohnheit, wie die Liebe zu den Großeltern. Dick war damals schon zehn und wurde langsam alt. Hatte er mich noch lieb? Ich denke, ja. In den letzten Jahren war es zwar meine Mutter gewesen, die sich um ihn kümmerte, die ihn fütterte und über Nacht im Hof oder auf der Straße laufen ließ, aber ein Hund entscheidet sich nur einmal für einen Herrn und bleibt ihm bis zum Lebensende ergeben. Dick wurde kränklich. Seine Hinterbeine fingen an wegzuknicken, er stand nur noch selten auf und bekam Rheuma. Diese Krankheit hatte ich selbst durchgemacht, meine Familie wusste deshalb, was zu tun war, und gab ihm die notwendigen Spritzen. Dick rappelte sich wieder auf und machte es danach noch eineinhalb Jahre. Er starb langsam und qualvoll. Aber ehe wir uns entschließen konnten, ihn einschläfern zu lassen, war auf einmal alles vorbei. Ich kam aus der Stadt nach Hause und brachte ihn auf einer Karre weg, in einer großen Kiste. Dick war im Alter fast um die Hälfte geschrumpft, aber immer noch recht schwer.
Ich begrub ihn allein, neben dem Weg in den Wald, den wir so gerne entlanggelaufen waren, auf einer Brache, die allmählich zur Müllhalde verkam. Ich hob eine Grube aus, legte ihn hinein und machte mich ans Zuschaufeln. Ich hatte nichts dabei, um Dick zuzudecken, und nach der ersten Schaufel Erde, die auf der Hundeschnauze landete, hielt ich inne. Es war schwer. Ich konnte mich kaum überwinden. Nach der zweiten Schaufel traten mir Tränen in die Augen. Als die Erde den Hund ganz bedeckte, wurde es einfacher. Nie hätte ich gedacht, dass es schwerer sein würde, einen Hund zu beerdigen als den eigenen Vater.
Es gibt keine bösen Menschen, sagt man, nur böse Taten. Das stimmt. Jeder Mensch hat etwas Gutes in sich. Dieses Gute ist sein gutes Herz. Je gutherziger, desto besser ist der Mensch. Die Grundlagen dafür werden in der Kindheit geschaffen: durch die Zärtlichkeit der Mutter, die Arme des Vaters, die Freunde, die Märchen, die Bücher, die Kinderfilme. In dem Bild eines kleinen Mammuts, das auf einer Eisscholle zu seiner Mutter schwimmt, steckt mehr Herz als in allen sozialen Hilfswerken zusammen. Auch Liebe schafft Güte. Nicht nur Liebe zu den Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten, sondern auch zu Tieren. Vor allem zu den eigenen Haustieren.
Es gibt nichts Besseres, als einen Hund zu lieben und sich so zu verhalten, dass er die Liebe erwidert. Katzen können nicht lieben, Sittiche erst recht nicht. Leben ja, aber lieben nicht. Die Liebe zu einem Hund ähnelt am ehesten der zu einer Frau. Deine Mutter mag dich zwar lieben, aber sie muss auch deinen Vater lieben, deine Geschwister, ihre eigenen Eltern, und vielleicht auch noch Onkel Petja, den Nachbarn, auch wenn uns das nichts angeht … Ein Hund wird nie jemand anderen lieben, er bleibt dir immer treu. Und er verlangt keine Gegenleistung. Außer deiner Liebe.
Kindheit
Alle finden, die Kindheit sei die glücklichste Zeit im Leben. Stimmt. Und die hellste, würde ich hinzufügen. Im Großen und Ganzen jedenfalls. Für die meisten. Mir tun alle leid, die keine Kindheit hatten, deren Kindheit zu früh vorbei oder nicht hell genug war.
Ich hatte beides – eine Kindheit und viel Licht. Wobei sich Licht nicht in zwei Kilo Mandarinen zu Neujahr oder in Trickfilmen auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher bemisst. Und auch nicht in der Zahl der Geburtstagsgeschenke.
Mit acht wünschst du dir nichts sehnlicher als ein Set ungarischer Plastiksoldaten. Du träumst von einem ferngesteuerten Auto, gern auch mal am helllichten Tag. Ob du die Spielzeugsoldaten besessen, ob du das ferngesteuerte Auto bekommen hast, spielt später, nach vielen Jahren, keine Rolle mehr. Wenn du erst erwachsen bist, begreifst du, dass dieser auf dem Dachboden vor sich hin staubende Kram völlig unwichtig ist, und du begreifst außerdem, dass dir damals als Kind auch noch andere Dinge wichtig waren.
Das Wichtigste war – und so sollte es auch sein –: deine Mutter, deine Familie, deine Freunde, deine Lieblingstiere, all das Lebendige um dich herum. Davon ging dieses Licht aus, das für immer aus dir leuchten wird, egal, was später kommt. Danach. Nach der Kindheit.
Ich habe ganz frühe Erinnerungen an mich selbst. Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich mich noch an die Gesichter erinnern, die sich über mich gebeugt haben, als ich im Kinderwagen lag (obwohl ich inzwischen eher glaube, dass es eine Filmszene ist, die ich da vor mir sehe).
Ich habe mich sehr früh schon als Person wahrgenommen, so etwa mit fünf. Einmal hatte ich mir einen Splitter eingezogen und bekam ihn nicht wieder heraus. Irgendein Freund, der Name von dem Knallkopf will mir partout nicht einfallen, sagte, das war’s dann, der Splitter wandert aus dem Finger bis ins Herz, und dann bist du tot.
Das ist mein allererster klarer Eindruck aus der Kindheit – ich bin fünf, ich komme gerade aus dem Kindergarten, in Sandalen und kurzen Hosen, und laufe schräg über den kleinen Hügel bei unserem Dorf (Kinder mögen ja keine Wege, sie kürzen dauernd ab, und wenn der Weg gerade ist, kriechen sie durchs Gebüsch). Ich laufe also über die Anhöhe, unter mir das Dorf, hinter mir der Kindergarten, irgendwo links die Schule, mit der ich noch nichts zu tun habe, und verabschiede mich in Gedanken von allem, ich mache mich aufs Sterben gefasst. Eine ruhige, in Maßen tragische Stimmung mit leichtem Wind. Doch ich weine nicht – es ist, wie es ist.
Was weiter passiert ist, weiß ich nicht mehr, aus der frühen Kindheit sind mir nur Bruchstücke in Erinnerung, aber da ich noch lebe, hat der Splitter sein Ziel wohl verfehlt.
Ich bin sechs. Straße, früher Abend, wir spielen Krieg. Ich liege, das Gewehr in der Hand, neben einem Freund in Deckung, hinter einem Stein in der Nähe unseres Hauses. Plötzlich zieht mir jemand die Plastik-Ersatzpistole aus dem Gürtel und hält sie mir an den Rücken. Ich drehe mich um – mein Vater. »Papa, du störst!« Starke, schwielige Kraftfahrerhände, schwarz und mit blauen Flecken von irgendeiner Reparatur. Er kommt von der Arbeit. Nüchtern. Pures Glück.
Es ist merkwürdig, welche Erinnerungsfetzen aus der Kindheit im Gedächtnis bleiben. Ich bin sieben. Meine Mutter schlägt mit einem Gummischlauch auf meine nackten Beine ein – die Mädchen von nebenan haben ihr gesagt, ich hätte mit Steinen geworfen und eine Scheibe eingeschlagen. Aber ich habe gar nicht geworfen, ich habe nur dabeigestanden und zugesehen, wie die anderen Jungs die Mädchen mit ihren Steinen geärgert haben, und überhaupt sind an dem Tag bei vielen Leuten die Scheiben rausgeflogen – im Steinbruch nebenan haben sie es mal wieder mit dem Dynamit übertrieben. Mit dem Schlauch verprügelt wurde ausgerechnet ich. Das war schmerzhaft. Und verletzend. Weil ich nicht schuld war … Ich bekam selten Prügel, und wenn, dann immer wegen der Streiche von anderen.