Leben. Oleg Senzow
über der Sprengstelle eine kleine Staubwolke sehen.
Mein achter Geburtstag, wie immer kommen morgens meine Freunde, wir sammeln im Garten ein ganzes Glas Kartoffelkäfer und bauen den Tierchen ein Straflager aus Sand und Sperrmüll …
Abends die richtige Feier. Ein Haufen Gäste, alles Freunde von meinen Eltern. Sie schenken mir was, Geld vor allem – richtig echte, schmucke Scheine, in Rot und Blau, mit Leninprofil drauf. Eigentlich toll, nett gemeint, wie für einen Erwachsenen. Am nächsten Morgen lieferst du die Scheine dann bei deiner Mutter ab. Sie muss dich nicht mal drum bitten, du machst es von dir aus, es gehört sich so. Später kaufen dir deine Eltern was von dem Geld, oder es geht für andere Ausgaben drauf, bessert die Haushaltskasse auf, die nach der Feier geplündert ist, schließlich musste die ganze Sippschaft angemessen bewirtet werden. Und du fühlst dich leer und betrogen. Irgendwann hatte ich auf Lenin zum Geburtstag keine Lust mehr.
Wenn heute jemand mit Geld statt einem richtigen Geschenk zu meinem Kind zum Geburtstag kommt, hat er nichts zu lachen – ich kann ganz schön unangenehm werden.
Kinder können mit Geld nichts anfangen. In der ersten Klasse habe ich einmal auf dem Sportplatz anderthalb Rubel gefunden. Ich wusste nicht, was ich damit machen sollte. Das war ungefähr dasselbe Gefühl, als würde ich heute einen Eine-Million-Dollar-Schein finden, der einen unter UV-Licht lesbaren Vermerk »Sonderdezernat Wirtschaftskriminalität« trägt: ein Haufen Geld, den man zu nichts gebrauchen kann. Ich bekam damals jeden Tag zehn Kopeken fürs Mittagessen, das reichte für ein großes Milchbrötchen. Jetzt hatte ich auf einmal anderthalb Rubel. Ich wusste nicht, wohin damit; ich sagte meinen Eltern nichts, sondern versteckte das Geld, und irgendwann verlor ich es und war beruhigt – lästiger Kram, kann mir gestohlen bleiben und so weiter …
Neun. Seit Neuestem hatten wir ein Auto. Einen alten Moskwitsch. Ans Meer ging es nun nicht mehr in einem mörderisch stickigen, langsamen Bus und auch nicht im kolchoseigenen Pritschenwagen mit den Holzbänken, sondern im eigenen Auto! Ich fand das nicht cool, diesen Begriff gab es damals noch nicht, es war einfach schnell und bequem. Das Spannendste an einem Ausflug ans Meer ist der Moment, wenn man fast da ist und versucht, diesen schmalen Streifen zu entdecken, der sich farblich ein klein wenig vom Blau des Himmels abhebt. Wenn das Auto die letzte Anhöhe nimmt und du es endlich siehst, eine ganz dünne Linie am unteren Himmelsrand – das Meer! Gleich bist du da. Und jetzt schon glücklich.
Zehn. Abend, Dämmerung, die Straße vorm Haus. Wir spielen Verstecken. Jungs und Mädchen. Es ist schon fast dunkel. Bald sieht man gar nichts mehr. Aber noch können wir spielen, ein kleines bisschen noch. So lange es geht. Alle sind da, wir sind mittendrin, alle haben Spaß. Als ich an unserem Gartentor vorbeirenne, weht mir aus der Sommerküche der Geruch von Bratkartoffeln in die Nase – gleich muss ich rein zum Essen, und aus dem Zimmer, in dem unser Fernseher steht, tönt durchs offene Fenster die Anfangsmelodie der Kundschafterserie TASS ist ermächtigt zu erklären … – dann schaffe ich es also nach dem Abendessen noch, ein Stück davon zu sehen.
Es ist das eindrücklichste Bild aus meiner Kindheit, ich muss nur die Augen schließen, dann erlebe ich alles wie damals: die Straße, die Dämmerung, das Spiel, den Bratkartoffelduft, die Musik – am liebsten würde ich den Atem anhalten und bis in alle Ewigkeit genau dort bleiben, obwohl der Moment eigentlich schon die Ewigkeit für mich ist.
Wenn Sie als Kind nie einen Sommer auf dem Dorf verbracht haben, wenn Sie nie in der Dämmerung mit Freunden Verstecken gespielt haben, dann hatten Sie keine richtige Kindheit.
Elf. Unsere Straße: Makar, Sanja, Taxik und ich haben uns mit den Jungs aus der Nachbarstraße zusammengetan: Lelja, Barsuk, Oleg und Belan.
Sommer. Wir spielen Schlag den Zeisig – wir werfen der Reihe nach mit Stöcken, um zwei übereinanderstehende Konservendosen abzuschießen, dann rennen alle los, um sich ihre Stöcke wiederzuholen, der Spielführer bewacht den Zeisig und versucht die anderen mit seinem Schläger abzuwehren. Man kann sich seinen Schläger schnappen und versuchen, den Zeisig zu treffen. Stockschläge auf die Finger – so fühlt sich die Kindheit an.
Lelja ist der Boss, der Anführer, er ist fünf Jahre älter als ich, fast erwachsen – er läuft in Trainingshose und T-Shirt rum, reißt Witze und drangsaliert die anderen; er darf das.
Makar, dick und kräftig, ist mein Nachbar, einer von den Freunden, mit denen man schon im Sandkasten spielt. Er ist vier Jahre älter, und wir sind viel zusammen, deswegen lassen mich die anderen meistens in Ruhe.
Sanja und Taxik gehen in eine Klasse, sie sind ein Jahr älter und wohnen nur drei Häuser weiter, aber auf verschiedenen Seiten.
Barsuk ist der Einzige, der jünger ist als ich, aber er wohnt neben Lelja, deswegen ärgert ihn keiner außer Lelja selbst, aber der ärgert auch alle anderen.
Oleg, auch er viel älter als ich, ist zurückgeblieben, ein debiles Riesenbaby, aber einigermaßen unauffällig und nur selten neben der Spur.
Belan kommt, wie auch Sanja, aus guter Familie, hiesige Intelligenz, mit hohen Posten im Dorf.
Wir waren eine lustige Clique, oder wie man neuerdings sagt, ein krasser Clan. In der Schule hatten wir kaum Kontakt, weil wir in verschiedene Klassen gingen, aber in der Freizeit waren wir fast immer zusammen.
Mit zwölf bekam ich wie fast alle aus unserer Clique ein Fahrrad, und da ging’s los: Attacken auf Erdbeerfelder und Apfelgärten, Verfolgungsjagden mit den Wachleuten, Rallyes über Schnellstraßen, im freien Gelände und durch Wassergräben, ständige Wettfahren und so weiter und so fort … Stürze, Schürfwunden an Ellenbogen und Knien, kaum war eine verheilt, kam die nächste … Warum mussten Sanja und ich auch unbedingt wetten, wer es freihändig und ohne Bremse am weitesten von diesem gar nicht so steilen Berg runter schafft? Sanja verlor, denn er bremste vor einer Schar Gänse. Ich trug eine Verletzung auf der linken Wange davon, deren Spuren noch jahrelang zu sehen waren, eine Gans renkte sich den Flügel aus, und meine Mutter bekam einen leichten Infarkt, als sie mich sah – kurz, so richtig froh war keiner … Aber das gehörte nun mal dazu.
Dreizehn. Fußballfieber. Wir spielten schon seit ein paar Jahren, auch im Frühling und im Herbst, manchmal sogar im Winter, aber der Sommer, besonders dieser, übertraf alles! Mitten in der Wildnis hatten wir zwei Fußballplätze angelegt. Wir spielten Straße gegen Straße. Es gab Siege und Niederlagen und Schlägereien im Anschluss – Mann gegen Mann, alle schauen zu, keiner mischt sich ein.
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