Kinderärztin Dr. Martens 66 – Arztroman. Britta Frey
bringen, weil sie selbst keine Zeit hatte.« Rachel reichte Cordula Wittmer die Mappe, drehte sich um und lief davon.
*
Den Rest des Nachmittages war Rachel sehr still, wirkte zwischendurch wie abwesend. Trotzdem wich sie nicht von der Seite ihrer kleinen Schwester. Marion beobachtete Rachel und ihr eigenartiges Gebaren. Sie wurde aus dem kleinen Mädchen nicht mehr so recht klug. Dieser Wechsel in den Stimmungen, sie fand dafür keine Erklärung. Es war ja durchaus nicht so, daß sich niemand um die Mädchen kümmerte. Ganz im Gegenteil, sie selbst kümmerte sich mehr, als sonst üblich, um die Mädchen, um Rachel und Pola. Die Mädchen sollten sich rasch und gut einleben. Bis zu diesem Tag schien es auch gut gelungen zu sein.
Marion schüttelte unwillig über sich den Kopf. Vielleicht fühlte sich Rachel an diesem Tag nicht gut. Das kam ja auch bei kleinen Mädchen einmal vor. Da es auf die Abendbrotzeit zuging, gab es für sie und alle anderen Betreuerinnen der Heimkinder so viel zu tun, daß sie gar nicht mehr dazu kam, noch länger ausschließlich über Rachel und Pola nachzudenken. Dabei wäre es vielleicht für alle besser gewesen, sich mehr Gedanken zu machen. Aber in diesen Minuten ahnte im Kinderheim noch niemand etwas von den Schwierigkeiten, die auf alle zukommen sollten.
Da der Tag sehr schön gewesen war, durften die Kinder nach dem frühen Abendessen noch für eine halbe Stunde an die Luft hinaus. Doch statt mit den anderen Kindern zu spielen, nahm Rachel ihre kleine Schwester an die Hand und sagte drängend zu ihr: »Komm mit, Pola, ich habe jetzt keine Lust zum Spielen. Wir setzen uns dahinten unter einen Baum. Ich muß dir ein ganz großes Geheimnis sagen. Ein Geheimnis, das du aber keinem Menschen weitererzählen darfst. Nur wir beiden dürfen etwas davon wissen. Komm schon.«
Rachel zog ihre kleine Schwester mit sich zu einem Baum, der etwas abseits stand, und sie setzten sich ins Gras.
»Nun sag schon, Rachel, was ist denn ein Geheimnis?« drängelte die Kleine und sah ihre Schwester mit großen Augen an.
»Bist du aber dumm, Pola. Ein Geheimnis ist es, wenn nur wir zwei etwas wissen und sonst niemand. Du hast doch vorhin schon gesagt, großes Ehrenwort, und du erzählst niemandem etwas weiter. Du mußt es mir noch einmal ganz fest versprechen, hörst du?«
»Ich verspreche es, ganz ehrlich, Rachel. Jetzt sag aber endlich unser Geheimnis, ich will es sofort wissen.«
»Gut, dann paß auf. Wenn die anderen nachher alle fest schlafen, dann schleichen wir zwei uns ganz leise aus dem Haus und laufen fort. Wir suchen dann unsere Omi. Du willst doch bestimmt auch von hier weg und wieder bei der Omi sein, nicht wahr?«
Aus großen Augen starrte Pola ihre Schwester an. Dann platzte sie heraus: »Einfach weglaufen? Dürfen wir das denn überhaupt?«
»Mensch, Pola, leise, es darf niemand etwas davon wissen. Es ist doch unser Geheimnis. Wenn sie es merken, schließen sie uns noch ein.«
»Und wenn ich auch einschlafe? Ich bin nämlich schon ganz doll müde. Und wenn Mia und Gerti nicht schlafen?«
»Mia und Gerti werden ganz bestimmt schlafen. Das tun sie doch jeden Abend schon sehr früh. Du kannst ruhig auch schlafen. Ich werde dich schon wieder wecken, wenn es dunkel wird. Brauchst keine Angst zu haben, ich werde dich ganz bestimmt nicht allein hier zurücklassen. Du bist doch meine kleine Schwester, und ich muß auf dich aufpassen.«
»Ich will auch nicht allein hierbleiben. Ich hab dich so lieb.«
»He, ihr beiden, warum spielt ihr nicht mit den anderen Mädchen? Ihr sollt euch doch noch nicht ins Gras setzen, dafür wird es gegen Abend viel zu kalt. Ihr holt euch dabei womöglich eine Erkältung. Geht zu den anderen Kindern und spielt noch ein bißchen mit.« Marion war zu den beiden Schwestern gekommen und lachte sie nun fröhlich an.
»Wir haben keine Lust mehr zum Spielen, Marion.«
»Nun, wenn ihr wirklich nicht mehr wollt und keine Lust mehr habt, geht doch schon zu Tante Betty in den Waschraum. Sie kann euch ja schon euer Bad einlassen. Dann seid ihr zwei heute mal die ersten, die ins Bett können. Na, wie gefällt euch das?«
Ohne Widerrede gingen Rachel und ihre kleine Schwester ins Haus hinein. Sie gingen zu Betty, die in den Wasch- und Baderäumen schon damit begonnen hatte Badewasser in die Wannen einzufüllen.
Betty, eine etwas ältere, mollige Frau, Mädchen für alles im Kinderheim ›Haus Maria‹ und immer fröhlich und gutgelaunt, fragte mit einem freundlichen Lächeln: »Na, ihr zwei, was wollt ihr denn schon hier?«
»Marion hat gesagt, daß wir schon baden dürfen, Tante Betty.«
»Na, ist schon prima. Dann holt mal euer Schlafzeug. Wenn ihr zurück seid, könnt ihr sofort in die Wanne steigen. Ich habe dann Zeit, um Pola zu helfen.«
*
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als die Zimmertür leise geöffnet wurde und Marion noch einmal nachsah, ob die Mädchen schon alle schliefen. Rachel, die das Öffnen der Tür nicht überhört hatte, schloß sofort die Augen und stellte sich schlafend. So war die junge Betreuerin davon überzeugt, daß alles in bester Ordnung war.
Rachel aber wartete noch eine Weile, bis alles ruhig war, dann verließ sie leise ihr Bett und zog sich an.
Da matter Mondschein durch das Fenster ins Zimmer fiel, machte das überhaupt keine Schwierigkeiten, denn jedes der kleinen Mädchen hatte seine Kleidung fein säuberlich auf einem Stuhl neben dem Bett liegen.
Das Herz der Siebenjährigen pochte heftig, denn sie hatte Angst davor, daß ihr Vorhaben nicht gelingen könnte.
Erst als sie fertig angezogen war, schlich sie zum Bett ihrer kleinen Schwester und rüttelte sie wach.
»Warum weckst du…«
»Pst, sei doch leise, es soll doch keiner hören«, wisperte Rachel und hielt rasch ihre Hand auf Polas Mund. »Du weißt doch, daß wir zur Omi wollen. Du darfst jetzt nichts mehr sagen, ich helfe dir auch beim Anziehen.«
Niemand bemerkte, daß zwei kleine Mädchen Hand in Hand auf Zehenspitzen den Gang entlang zum Hinterausgang des Heimes schlichen, den Riegel zurückschoben und so ungesehen das Gebäude verlassen konnten.
Genauso unbemerkt konnten sie wenig später durch eine Zaunlücke das Grundstück verlassen.
»Wann sind wir denn bei der Omi, Rachel? Es ist so dunkel, und ich habe Angst. Ich will wieder in mein Bett zurück«, klagte Pola weinerlich.
»Brauchst keine Angst zu haben, Pola, wir können nicht zurück. Wenn wir zurückgehen, dann holen dich in der nächsten Woche ganz fremde Leute aus dem Heim fort. Wir können dann nicht mehr zusammen sein.«
»Ich will aber nicht zu fremden Leuten, ich will zur Omi. Weißt du denn, wo die Omi ist?«
»Na, klar doch. Die Omi ist in dem Krankenhaus, in dem auch der Vati war.«
»Warum gehen wir dann nicht hin, wenn es hell ist? Jetzt können wir ja überhaupt nichts sehen.«
Immer die Angst im Herzen, doch noch von jemandem aus dem Heim eingeholt und wieder zurückgebracht zu werden, zog Rachel die kleine Schwester mit sich. Müde und von der nächtlichen Kühle durchgefroren, ging es immer voran, in die falsche Richtung, was die Siebenjährige aber nicht wußte. Wenn in der Ferne die Lichter eines sich nähernden Wagens auftauchten, zog sie die Kleine instinktiv von der Straße hinunter, und sie versteckten sich hinter den am Straßenrand stehenden Bäumen.
»Ich bin so müde, und meine Füße tun mir weh«, jammerte Pola nach einiger Zeit. »Wie weit ist es noch bis zu Omi?«
»Weiß ich nicht, Pola. Es ist aber ganz bestimmt nicht mehr weit. Wir sind ja schon lange gelaufen. Heul jetzt bloß nicht, wir müssen doch weiter.«
Wie ein Schemen kam ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern aus der Kurve herausgeschossen. Wie gelähmt starrte Rachel in die hellen Lichter. Als sie reagieren konnte, war es für sie schon zu spät. Es gelang ihr nur noch, ihre kleine Schwester von sich zu schubsen, dann spürte sie einen heftigen Schlag und schlimme Schmerzen. Daß sie durch