Karin Bucha Classic 42 – Liebesroman. Karin Bucha
Glasverschalung. »Das kann doch wohl nicht möglich sein.«
Der Mann lächelt unverbindlich. »Es ist aber so. Das Konto wurde bis auf hundert Mark abgehoben. Hier bitte, wie Sie sehen, ist die Ausbuchung ordnungsgemäß vorgenommen worden.«
»Die Unterschrift«, murmelt Karsten.
»Marion Wendland!«
»Danke!«
Karsten dreht sich auf dem Absatz um und verläßt die Bank. Hundert Mark! Hundert Mark! Er lacht auf, grell, unnatürlich. Die Fußgänger sehen sich nach dem lachenden Mann um. Da flüchtet er. Er läuft sinnlos durch die Straßen. Kreuz und quer läuft er.
Alles ist wahr! Marion ist schlecht, abgrundschlecht! Diese Gedanken beherrschen ihn, halten ihn umklammert und schalten alle Vernunft in ihm aus.
Vernünftig wäre es, jetzt zu Milli Bothe zu flüchten und dort unterzukriechen. Aber gerade Mitleid kann er nicht vertragen.
Ich Narr. Ich blödsinniger Narr! Weiter denkt er nichts. Er denkt an die Stunde, da er seinen Rechtsanwalt gebeten hat, sein Büro aufzulösen und die Gelder auf sein Konto zu überweisen. Er hat es gewissenhaft erledigt, und Marion hat ihn um die Früchte harter Arbeit betrogen. Mehr noch. Sie hat ihm den Glauben an die Menschheit zerstört.
Wem kann er noch vertrauen? Und diese Frau hat er selbstlos, bis zur Selbstaufgabe, geliebt.
Vielleicht hat sie, während sie an seinem Herzen ruhte, an einen anderen gedacht. Vielleicht an den schwarzhaarigen John Unger?
Hat er sie überhaupt belästigt? Oder hat sie, Marion, ihm eine erbärmliche Komödie vorgespielt? Ist er das Opfer einer Täuschung geworden?
Mein Gott! Wer gibt ihm Antwort auf die vielen, vielen Fragen?
Auf einer Bank läßt er sich nieder. Todmüde, wie ausgepumpt! Er blickt über die blanke Wasserfläche, die vor seinen Füßen liegt. Er sieht die Lieblichkeit der Landschaft und sieht sie auch nicht. Er spürt nur die grenzenlose Einsamkeit, die Verlassenheit und die Verzweiflung.
Man müßte auf dem Grund dieses stillen Wassers liegen und schlafen, schlafen.
*
»Er ist frei!«
Mit dieser alarmierenden Nachricht holt Doktor Rauh Eva-Maria Harris aus dem Bett. Sie ist im Nu hellwach.
»Nein, Doktor, das kann doch nicht möglich sein«, stammelt sie und fühlt dabei den erhöhten Pulsschlag.
»Doch, soeben erfuhr ich es, und verzeihen Sie mir, daß ich zu so früher Stunde bei Ihnen anrufe.«
»Ich bin Ihnen dankbar.« Eva-Maria Harris nimmt den Hörer von der rechten in die linke Hand. »Und wo – wo ist er jetzt?« Atemlose Spannung liegt in dieser Frage.
»Ich vermute dort, wo seine Sachen sind, bei Frau Bothe. Sie glauben nicht, wie ratlos ich im Augenblick bin. Gehe ich zu ihm – oder warte ich, bis er mich aufsucht? Man muß sehr behutsam mit ihm umgehen.«
Eva-Maria nagt verzagt an der Unterlippe. Sie überlegt krampfhaft. Schließlich sagt sie: »Ich hätte die größte Lust, mich in der Pension Bothe einzuquartieren, um unauffällig unsere Bekanntschaft zu erneuern.«
»Meinen Sie nicht, er würde stutzig werden?« gibt er zu bedenken.
»Ach, es gibt so viele Gründe, die man angeben kann«, wehrt sie seinen Einwurf ab. »Vielleicht rufen Sie erst mal bei Frau Bothe an, ob er sich dort aufhält?«
»Gut!« entscheidet er. »Jetzt ist es noch etwas früh. Aber in einer Stunde rufe ich wieder bei Ihnen an.«
»Ich danke Ihnen!« Eva-Maria legt den Hörer auf.
Ulrich Karsten frei! Selten noch hat sie ein so großes Glücksgefühl empfunden. Sie weiß ihn nicht mehr hinter Mauern versteckt. Er ist wieder frei. Darf tun und lassen was er will. Er ist wieder Mensch.
Und nun hat sie so viel zu denken, so viel, daß sie kaum merkt, wie der Zeiger der Uhr weiterrückt. Sie schreckt zusammen, als die Glocke des Fernsprechers anschlägt.
»Ja, Herr Doktor!« spricht sie hinein in die Muschel.
»Er war da, gestern gleich«, hört sie die Stimme des Anwaltes an ihr Ohr schlagen. »Frau Bothe hat zuerst sehr zurückhaltend geantwortet und dann zugegeben, daß er sie verstört verlassen hat. Wollen wir gemeinsam zu der Pension gehen?«
»Ja, Herr Doktor«, stimmt sie ohne sich zu bedenken zu. »In einer Stunde bin ich bei Ihnen. Sie wollen mich abholen. Gut! Ich halte mich bereit.«
*
Ulrich Karsten weiß genau, daß es sinnlos ist, was er tut. Die Dämmerung bricht herein, und noch immer irrt er umher. Er hat die Stadt bereits hinter sich gelassen und eine baumbestandene Straße, schnurgerade, liegt vor ihm.
Von den Wiesen steigt Kühle hervor. Ein ganz feiner Nebel, wie duftiger Schleier, zieht darüber hin.
Müde, hungrig, innerlich zerrissen, lehnt er sich gegen den Stamm einer hohen Birke, die die Straße umsäumen. Er schließt die Augen und hat das Bedürfnis zu schlafen. Schlafen, schlafen – und nichts mehr denken.
Wohin? Zu Milli Bothe? Er sieht ihr gutmütiges, kummervolles Gesicht mit den aufmerksamen Augen vor sich. Es zieht ihn zu ihrer wohltuenden Mütterlichkeit, aber vor ihrem Mitleid sträubt sich alles in ihm.
Geh zu ihr – rät eine Stimme in ihm. Dort findest du Ruhe und zu dir selbst zurück.
Rein mechanisch, wie unter einem Zwang, macht er kehrt und geht mühevoll den Weg zurück.
Er erreicht das Zentrum der Stadt, als die Kinos die Vorstellungen beendet haben und die Menschen Straßen und Gehsteige bevölkern. Autos reihen sich hintereinander. Lichtreklamen flammen auf und sinken wieder ins Dunkel. Es ist ein Bild lebendigen, anmutigen Lebens, und unwillkürlich spürt er eine Welle der Freude durch seinen Körper strömen.
Er kann wieder an diesem Leben teilnehmen. Es liegt nur an ihm. An ihm und seiner jungen Kraft, die er einsetzen muß.
Unter solchen Gedanken erreicht er die Pension Bothe. Die Tür ist noch offen, als habe man auf ihn, den verspäteten Gast, gewartet.
In der Halle brennt ein warmes, gedämpftes Licht, und der dicke Teppich fängt den Laut seiner Schritte auf. Er steigt die Treppe empor, hinauf zu den Wohnräumen, und da steht sie vor ihm, Milli Bothe. Wortlos nimmt sie ihn am Arm und führt ihn in eines der ruhigsten Zimmer.
»Wie schön, daß Sie da sind«, sagt sie nur. Nichts davon, daß sie sich maßlos um ihn gesorgt, daß man nach ihm gefragt hat, und daß ein neuer Gast, eine bildschöne, anmutige Frau ein Wohn- und Schlafzimmer bezogen hat.
An seiner erschlafften Haltung, an seinem Schuhwerk und dem durchweichten Kragen sieht sie, daß er eine große Wanderung hinter sich hat.
»Machen Sie es sich bequem, Herr Karsten«, fordert sie ihn auf und öffnet die Tür zum Badezimmer. Sie läßt das Wasser in die gekachelte Wanne laufen.
Karsten hört diese vertrauten Geräusche und hat das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Mit geschlossenen Augen genießt er die Wärme des Wassers. Ganz ruhig liegt er, und langsam, ganz langsam kommen seine aufgepeitschten Nerven zur Ruhe. Dann reibt er den Körper ab, als müsse er unsaubere Dinge wegwaschen, und frottiert sich so lange, bis die Haut krebsrot anläuft.
Als er, in frische Wäsche gehüllt, das Zimmer betritt, verharrt er sekundenlang starr in der Tür. Die Schlafcouch ist für die Nacht zurechtgemacht. Ein Tisch ist daneben aufgestellt und einladend gedeckt. Schönes, im Schein der Stehlampe blitzendes Geschirr. Eine Vase mit süßduftenden Federnelken. Die Teekanne steht auf dem silbernen Wärmeöfchen, eine Platte mit appetitlichen Schnitten.
Der Schein eines ersten Lächelns huscht über seine ernsten Züge. Liebe, gute Milli Bothe, denkt er dankbar und gerührt.
Er ist bereit, alles zu vergessen! Alles was er in den langen Monaten gelitten und das, was ihn heute zerbrochen