Dr. Laurin Classic 43 – Arztroman. Patricia Vandenberg

Dr. Laurin Classic 43 – Arztroman - Patricia Vandenberg


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Es scheint überhaupt eine eigenartige Familie zu sein. Zu den Nachbarn haben sie auch keinen Kontakt, wie es sonst auf dem Lande doch üblich ist.«

      »Frau Rieding stammt nicht von hier, vielleicht kommt das daher«, meinte Dr. Laurin.

      »Sie nicht, aber die Familie sitzt schon seit Generationen auf dem Hof und scheint recht begütert zu sein, aber anscheinend auch sehr geizig. Ich kann ja nur wiedergeben, was man so redet. Die junge Frau stammt aus einer pommerschen Flüchtlingsfamilie, aber sie muß allerhand mitgebracht haben. Es klingt alles wahnsinnig nach Klatsch«, fügte sie verlegen hinzu.

      »Für mich ist es interessant. Gibt es in der Familie Krankheiten? Wissen Sie davon etwas?«

      Erschrocken sah ihn Hanna an. »Fehlt dem Kind was?« fragte sie schnell.

      »Nein, das Kind ist gesund, aber Frau Rieding hat was davon geredet, daß sie keinen Krüppel haben wolle. Ich versuche zu kombinieren, da sie sich nicht ausspricht. Es wäre schädlich für sie und auch für das Kind, wenn sie irgendwelche Komplexe hätte. Was sagt man denn von dem Ehemann?«

      »Er soll recht nett und sehr anständig sein, aber wohl auch völlig unter der Fuchtel seiner Mutter stehen. Eigentlich dürfte er ja mal kommen.«

      »Frau Rieding sagt, daß er nicht da wäre, aber schauen Sie doch mal nach, Hanna, ob Sie die Telefonnummer haben.«

      »Aber sicher haben wir die«, erklärte Hanna und suchte die Karteikarte heraus.

      »Dann verbinden Sie mich mal«, sagte Dr. Laurin.

      Fast sofort meldete sich eine tiefe Männerstimme, als hätte derjenige schon die Hand auf dem Hörer gehabt.

      »Hier Prof.Kayser-Klinik, Dr. Laurin«, meldete sich Leon. »Mit wem spreche ich?«

      »Ludwig Rieding. Ist meine Frau dort?« Seine Stimme klang hastig.

      Komisch, dachte Dr. Laurin, er weiß nicht mal, wo sie ist. »Ja, sie ist hier«, erwiderte er ruhig. »Ich darf Sie zu einem kräftigen gesunden Sohn beglückwünschen.«

      »Meinem Gott sei Dank«, sagte der Mann. »Ich komme sofort.«

      Nachdenklich schüttelte Dr. Laurin den Kopf. »Ich bin sehr gespannt, was ich da erfahre«, sagte er. »Wenn Herr Rieding kommt, möchte ich ihn gleich sprechen, noch bevor er zu seiner Frau geht.«

      »Zu Befehl, Chef«, sagte Hanna mit einem flüchtigen Lächeln.

      Ludwig Rieding war zwanzig Minuten später da. Er trug einen grauen Anzug und sah sehr ordentlich aus. Ein breitschultriger, nicht mehr ganz junger Mann, Dr. Laurin schätzte ihn auf Mitte Dreißig, mit breitem wettergegerbtem Gesicht, hellen Augen und hellen Haaren, die schon leicht ergraut waren. Auch die Hände waren breit, und man sah ihnen an, daß sie fest zupacken konnten.

      Daß Ludwig Rieding augenblicklich eine etwas unglückliche Figur abgab, lag gewiß nicht an seiner Erscheinung. Er war nervös und unsicher.

      »Meine Frau ist einfach weggefahren«, sagte er leise. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor, aber ich wußte nicht einmal, daß sie sich hier in der Klinik angemeldet hatte.«

      »Etwas ungewöhnlich«, sagte Dr. Laurin gedankenvoll.

      »Ja, Traude ist so, aber es liegt auch an unseren Verhältnissen. Meine Eltern sind etwas wunderlich. Es ist nicht einfach, mit ihnen auszukommen. Für Traude nicht, und für mich auch nicht. Sie haben gesagt, daß wir einen Sohn haben.«

      »Einen gesunden kräftigen Sohn«, sagte Dr. Laurin. »Sieben Pfund und einige Gramm, zweiundfünfzig Zentimeter lang. Sie können ihn dann gleich sehen, aber ich würde Ihnen gern noch einige Fragen stellen, wenn Sie erlauben.«

      »Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung, wenn ich das Kind gesehen habe«, sagte Ludwig Rieding nun schon etwas selbstsicherer. »Ich möchte auch Traude sehen.«

      »Eben darüber wollte ich noch mit Ihnen sprechen«, sagte Dr. Laurin.

      »Fehlt ihr etwas? Mein Gott, es ist doch nichts Ernstes?« fragte Ludwig Rieding erschrocken.

      »Nein, es geht ihr recht gut. Es gab keine Komplikationen – wenn wir das Seelische ausklammern wollen.«

      Ludwig Rieding senkte den Blick. »Traude nimmt sich alles schrecklich zu Herzen«, sagte er leise. »Hat sie etwas gesagt?«

      »Eben nicht, von einer Bemerkung abgesehen, die ich Ihnen aber erst wiedergeben will, wenn Sie Ihr Kind gesehen haben. Kommen Sie, bitte.«

      Mit schweren und doch leisen Schritten folgte ihm der Mann. Dann standen sie auf der Säuglingsstation und ließen sich das Baby zeigen.

      »Er sieht hübsch aus, aber er hat schwarzes Haar«, sagte Ludwig Rieding heiser.

      »Das kann sich schnell ändern«, sagte Dr. Laurin. »Es ist durchaus möglich, daß er so blond wird wie Sie. Aber Ihre Frau hat dunkles Haar, also kann es sein, daß er auch dunkel bleibt.«

      »Er sieht sehr gesund aus«, sagte der Mann leise.

      »Er ist auch gesund.«

      »Kann man das jetzt schon mit Bestimmtheit sagen?«

      »Aber sicher.«

      Einhellige Freude schien auch bei ihm nicht zu herrschen. »Was hat Traude gesagt?« fragte er.

      »Wir gehen besser wieder in mein Zimmer«, sagte Dr. Laurin.

      Dort sank Ludwig Rieding schwer in einen Sessel und stützte den Kopf in die Hand.

      »Sie sind selbstverständlich nicht verpflichtet, mir privat Auskünfte zu geben, Herr Rieding«, begann Dr. Laurin vorsichtig, »aber im Interesse Ihrer Frau wäre das vielleicht angebracht. Sie ist nicht mitteilsam. Ich habe solche Verschlossenheit selten bei einer Patientin, die ein Kind erwartete, erlebt.«

      »Wir reden alle nicht viel«, sagte Ludwig Rieding. »Aber – was hat meine Frau für eine Bemerkung gemacht?«

      »Ich werde sie Ihnen wörtlich wiedergeben, auch wenn sie verletzend für Sie sein mag. Aber Ihre Frau befindet sich in einer seelischen Krise, und das kann im Wochenbett sehr gefährlich werden. Sie sagte wörtlich: ›Ich will keinen Krüppel.‹ Nein, so war es: ›Wenn es ein Krüppel ist, will ich es gar nicht sehen. Bringen Sie es meiner Schwiegermutter mit den besten Empfehlungen.‹«

      Ludwig Rieding war totenblaß geworden. Seine Hände krampften sich um die Sessellehnen, daß die Knöchel weiß hervortraten. Lange Minuten atemlosen Schweigens vergingen.

      Dr. Laurin ließ dem anderen Zeit.

      »Es ist schrecklich. Was soll ich nur machen?« flüsterte er. »Ich verstehe Traude, aber ich kann meine Eltern doch nicht im Stich lassen. Was soll ich nur tun, es ist alles so entsetzlich. Ich leide doch auch darunter.«

      Dr. Laurin verschränkte die Arme über der Brust und lehnte sich zurück.

      »Ich will mich gewiß nicht in Ihr Vertrauen drängen, Herr Rieding, aber wäre es nicht besser, Sie würden sich aussprechen? Ich bin Arzt. Ich habe schon so viele Schicksale erlebt. Ihre Frau braucht Beistand, wenn sie sich an dem Kind erfreuen und ihm eine gute Mutter werden soll.«

      »Ich bin auch mit daran schuld«, begann Ludwig Rieding stockend. »Vielleicht hätte ich Traude alles sagen sollen, bevor wir heirateten.«

      »Wann haben Sie geheiratet?« fragte Leon Laurin.

      »Vor zwei Jahren. Ich… ich bin der einzige Erbe. Meine Eltern sind streng, und der Pfarrer…«

      Du lieber Gott, dachte Leon, darauf geht es hinaus. Augenblicklich hörte er gar nicht richtig zu. Aber dann war er hellwach.

      »Ich hatte noch einen älteren Bruder. Er ist als Kind gestorben. Er hatte einen Gehirnschaden. Nicht erblich. Es ist bei einer sehr komplizierten Geburt passiert. Damals hat man ja zu Hause entbunden. Die Eltern haben darüber geschwiegen, aber irgendwie erfuhr es die Nachbarschaft doch, und dann muß es jemand Traude gesagt haben. Mit mir hat sie nicht darüber gesprochen.


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