Animus. Astrid Schwikardi

Animus - Astrid Schwikardi


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Glauben schenken durfte. Ihre eigentliche Freundschaft hatte noch Jahre auf sich warten lassen und war auf dem Gymnasium besiegelt worden. Stefan hatte ihn vor einer Sechs bewahrt, nachdem Mark während des Unterrichts eine Explosion verursacht hatte und dabei der halbe Chemieraum abgebrannt war.

      Seit diesem Vorfall waren sie unzertrennlich, weshalb man sie im Morddezernat auch Winnetou und Old Shatterhand der Neuzeit nannte. Sie waren grundverschieden, was wiederum das Geheimnis ihrer hervorragenden Zusammenarbeit war. Stefan hatte breite Schultern, dunkle Haare und eine sportliche Figur. Mit der kurz geschorenen Naturkrause und den blauen Augen erinnerte er an den amerikanischen Schauspieler Channing Tatum.

      „Egal, was ihr zu bequatschen habt. Es muss warten“, riss Stefan sie aus ihrem Gespräch.

      Neugierig sah Mark ihn an. „Was ist los?“

      „Zwei Kollegen von der Schutzpolizei haben vor ein paar Minuten Verstärkung angefordert, nachdem eine Fußgängerin behauptet hat, dass eine Leiche auf dem Fühlinger See treibt. Anscheinend hat sich die Frau nicht geirrt. Kommt, wir müssen los!“, sagte Stefan, vollführte eine Kopfbewegung in Richtung Tür und eilte ohne ein weiteres Wort der Erklärung hinaus auf den Flur.

      Mark ergriff seine Jacke und sah Peter an, der weiterhin äußerst nachdenklich wirkte. „Wir reden später in Ruhe bei einem Kölsch, in Ordnung?“

      Sein Kollege schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Aufmunternd schlug Mark ihm auf die Schulter und wartete, bis er sich seine Regenjacke übergestreift hatte. Danach machten sie sich auf den Weg zum Fühlinger See.

       Kapitel 4

      Das knapp einhundert Hektar große Naherholungsgebiet Fühlinger See lag westlich vom Rhein und war ein siebenfach unterteilter, künstlich angelegter See am nördlichen Stadtrand von Köln. Sportattraktivitäten wie Surfen, Inlineskaten und Tauchen, aber auch Baden im speziell abgegrenzten Badebereich lockten an heißen Sommerwochenenden bis zu achtzigtausend Menschen an. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde das Gelände für Triathlon-Wettkämpfe genutzt, nachdem die ersten Europameisterschaften über die Langdistanz ausgerichtet worden waren.

      Am Blackfoot Beach reckten hinter einer Absperrung zahlreiche Schaulustige ihre Köpfe in die Höhe und erhofften sich so einen Blick auf die nackte Frauenleiche. Mithilfe eines Rettungsbootes war sie vor über einer Stunde aus dem See gezogen worden. Immer wieder leuchteten die Blitzlichter von Smartphones auf. Die Polizeibeamten hatten alle Mühe, die Tote vor den neugierigen Blicken der Menschen abzuschirmen.

      „Bitte meine Herrschaften, hier gibt es nichts zu sehen. Verlassen Sie bitte den Uferbereich“, befahl der Polizeibeamte Walter Gries und warf den Leuten einen Blick zu, der seine ganze Empörung über die menschliche Sensationslust zum Ausdruck brachte. Walter Gries hatte Mark eingearbeitet, nachdem er sein Studium an der Hochschule der Landespolizei erfolgreich absolviert hatte. Walter, der nur noch wenige Jahre von der wohlverdienten Pension entfernt war, war zu einer Art Vaterersatz geworden. Vor allem in der Zeit nach dem Mord an Marks Schwester Patricia und nach dem Kontaktabbruch zu seinen Eltern. Walters Gesichtsausdruck erhellte sich, als er seine drei Kollegen erblickte, die sich mühsam durch den Menschenauflauf kämpften.

      „Da seid ihr ja endlich. Ich werde noch wahnsinnig bei den ganzen Idioten.“

      Aus verquollenen Augen beobachtete Walter eine Gruppe Jugendlicher, die sofort auf ihre Handys drückten, sobald sich eine Lücke auftat. Walters Tränensäcke wirkten dicker als sonst, doch vermutlich lag das an den schlechten Lichtverhältnissen.

      „Und dem da drüben polier ich gleich seine Visage“, blaffte Walter.

      Mark folgte seinem Blick und verzog den Mund, als er im Gedränge einen stadtbekannten Zeitungsreporter erkannte. Für Marks Geschmack war der Kerl in letzter Zeit zu oft zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.

      „Der muss auch sehen, wie er seine Brötchen verdient“, versuchte er, seinen Kollegen zu beruhigen. Zeitgleich beobachtete er die Kollegen von der Spurensicherung, die im Licht der aufgestellten Scheinwerfer den Strand nach möglichen Beweisen absuchten.

      Obwohl Mark gebürtiger Kölner war und nie woanders gelebt hatte, kam er meist im Sommer hierher. Das letzte Mal vor einigen Jahren zum Summerjam Reggae-Festival, zu dem ihn seine Ex-Freundin Larissa mitgenommen hatte. Damals war der gesamte Strandabschnitt mit Zelten und grölenden Fans überfüllt, und er mit Larissa noch glücklich gewesen. Nachdenklich schaute er zu der Stelle, an der Larissa und er gestanden und Arm in Arm nach den Klängen der Musik getanzt hatten. Niemals wäre ihm in dem Augenblick in den Sinn gekommen, dass das mit Larissa und ihm einmal so enden würde. Betrogen hatte sie ihn. Eiskalt und ohne mit der Wimper zu zucken. Mit seinem damaligen besten Freund. Womit sie mit einer einzigen Nacht sechs Jahre Beziehung das Klo runtergespült hatte. Mark schluckte. Zweimal waren ihm die beiden noch über den Weg gelaufen. Das erste Mal am Tag der Gerichtsverhandlung, bei der er sich um Kopf und Kragen reden musste, um einer drohenden Bewährungsstrafe zu entgehen, nachdem Mark seinem Widersacher durch einen Schlag ins Gesicht den Unterkiefer gebrochen hatte. Das zweite und letzte Mal hatte er die beiden im Supermarkt gesehen, als er an einer Kasse gestanden hatte. Seitdem hatte er nie wieder etwas von Larissa gehört. Genauso plötzlich und unvorhergesehen wie sie in sein Leben getreten war, war sie nach dem letztendlich klärenden Streit mit Sack und Pack ausgezogen. Niemals zuvor hatte er eine Frau so geliebt wie Larissa, und nie zuvor war er so verletzt worden wie von ihr.

      Er atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Langsam stapfte er durch den aufgeweichten Sand und folgte Stefan. Peter Eiser hingegen blieb bei Walter Gries, um die aufgebrachten Passanten zu beruhigen.

      Die Leiche der toten Frau lag auf dem Sandstreifen, auf Höhe des Seepavillons, mit dem Gesicht nach oben. Schon von Weitem erkannte Mark den fortgeschrittenen Verwesungsprozess. Die Haut der Toten war aufgedunsen, schimmerte grünlich, und ihr Gesicht wirkte merkwürdig entstellt.

      Er betrachtete die leblose Hülle und beobachtete den Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow, der die Tote gerade inspizierte.

      Bei seiner Körpergröße von zwei Metern hatte der schlaksige Mallow sichtlich Mühe, seine Beine in eine bequeme Position zu bringen.

      „Hallo Karsten. Seit wann seid ihr hier?“, fragte Mark verwundert und schaute auf die Armbanduhr. Der glatzköpfige Rechtsmediziner, der es seit vielen Jahren vorzog, das wenige Haar, das ihm geblieben war, abzurasieren, lächelte freundlich. „Seit einer halben Stunde, schätze ich. Aber ich habe eben erst angefangen, weil Staatsanwältin Reinhold so viel wissen wollte.“

      „Maja?“, fragte Mark und ertappte sich dabei, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.

      Mallow nickte kaum wahrnehmbar und beugte sich zur Leiche.

      „Kannst du schon was sagen?“, kam Mark zur Sache.

      „Kommt drauf an. Die Dame packen wir auf jeden Fall jetzt ein. Was ich euch aber sagen kann, ist, dass sie nicht im See ertrunken ist.“

      „Nicht? Also wurde sie hier nur entsorgt?“

      „Exactamente. Ich schätze mal, dass sie hier irgendwo in den See geworfen wurde. Vermutlich von einer Brücke. Das geht am schnellsten“, erklärte der Rechtsmediziner und betrachtete die tote Frau. „Aber eine klassische Wasserleiche ist unsere Dame nicht. Die hatte schon lange Zeit, bevor sie ins Wasser geworfen wurde, das Zeitliche gesegnet.“

      „Woran siehst du das?“

      „Ganz einfach. So weit wie der Verwesungsprozess vorangeschritten ist, hätte sich auf ihrer Haut schon längst ein Algenrasen bilden müssen. Und wie du siehst. Niente.“

      „Was schätzt du, wie lange sie schon tot ist?“, hakte Stefan nach.

      „Schwer zu sagen. Schaut mal hier.“ Mallow deutete zum Bauch der Toten und setzte hinterher: „In der Unterleibregion werden die ersten Veränderungen auf Grund der einsetzenden Fäulnis sichtbar. Grünliche Verfärbungen, die durch den Abbau des roten Blutfarbstoffes entstehen. Unter der Bauchwand befindet sich der Dickdarm, von dort breiten sich


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