MAUSOLEUM 2069. Rick Jones
2
New Miami
Präsident Steven J. Michelin, der gerade am Ende seiner ersten Amtsperiode zur Wiederwahl antrat, flog mit der Air Force Six ein, einem modifizierten Luftbus, der gerade über dem Landeplatz von New Miami schwebte. Der Pilot richtete die Triebwerke von horizontal auf vertikal aus, wie jene eines Harrier-Jets, und setzte dann langsam zur Landung an.
Sobald die Air Force Six angedockt hatte und verankert war, öffnete sich die Flügeltür.
Präsident Michelin, der einen legeren, sehr teuren Anzug der Marke Bertucci trug, stieg mit seinem Hauptberater die Landungsbrücke hinunter. In einer Hand hielt er einen elektronischen Reader, auf den er sich eine vorgeschriebene Rede geladen hatte, die auf die Empfindungen des Volkes von New Miami zugeschnitten war … Worte der Hoffnung. Die Grundlage seiner Wiederwahl wollte er dadurch schaffen, dass er den Menschen versicherte, dass er sein Amt behalten müsse, weil er sich dann dafür einsetzen könne, ihre Anliegen so lange zu forcieren, bis sie Gesetz wurden.
Dies war eine Politik leerer Versprechungen, denn in Wahrheit sollten jene Anliegen überhaupt nicht erhört werden.
Michelin hielt den Reader in die Höhe und zeigte ihn seinem Berater John Eldridge. »Haben Sie den Text noch einmal durchgesehen?«, fragte er. »Und ihn korrigiert?«
»Ja, das habe ich.«
»Ich spüre irgendwie, dass etwas fehlt … etwas Nachdrückliches. Ich brauche Argumente, mit denen ich diese Menschen im Sturm erobern kann.«
»Da es sich zumeist um ältere Menschen handelt, Mr. President, könnte ich den Text in Hinblick auf die Senkung der Kosten im Gesundheitswesen aufbessern, falls Sie dies wünschen. Sie wissen schon … dem Volk von Miami erzählen, was es hören will.«
Michelin drückte ihm den Reader in die Hand. »Setzen Sie das um, das ist gut.«
»Ja, Sir.« Nachdem Eldridge das Gerät genommen hatte, loggte er sich ein, während sie über den Teppich auf dem Rollfeld gingen.
Am Ende des Weges standen Ehrengäste und politische Würdenträger bereit, deren Lächeln von geheuchelter Gefälligkeit zeugte.
Hände wurden geschüttelt und ein umgänglicher Tonfall herrschte vor, als sie dastanden und von ihrem Flug aus New DC sowie der Hoffnung sprachen, das Wetter möge so freundlich bleiben, denn der Himmel zeigte nur einen vernachlässigbaren Gelbstich, was einen guten Tag für die Rede des Präsidenten verhieß.
Als das Geplänkel endlich vorüber war, begaben sich die Würdenträger zu einem Konvoi aus Limousinen mit Schwebekapazitäten auf dem neuesten Stand der Technik, um eine reibungslose Fahrt über die Straßen der Stadt zu gewährleisten.
Präsident Michelin stieg mit John Eldridge und der Gouverneurin von New Miami in die erste Limousine ein, einer aufgeweckt wirkenden Frau, die sich ihre altersbedingten Gesichtsfalten per Laser hatte entfernen lassen.
Sie ließ sich dem Präsidenten gegenüber auf einem Sitz nieder, dessen Polster sich automatisch ihrer Anatomie anpasste.
Sie flogen dem anführenden Vehikel nun hinterher, dicht gefolgt von zwei weiteren.
Der Präsident wandte sich ohne ein Lächeln und mit belegter Stimme an die Gouverneurin: »Sie sehen den Umständen entsprechend gut aus.«
Sie nickte. »Sie wissen es also?«
»Krebs im vierten Stadium – die Gallenwege, glaube ich. Eine sehr seltene Krebsart.«
»Primär sklerosierende Cholangitis«, antwortete sie. »Selbst mit unserer heutigen Technologie lässt sich nichts dagegen unternehmen, weil die Föderation nicht bereit ist, für die Behandlung aufzukommen. Darin liegt das Problem, Mr. President: Menschen wie ich, sind es – und von uns gibt es viele in New Miami – die finanzielle Hilfe benötigen, um den Lebensstandard zu heben und das Alter auszudehnen.«
Präsident Michelin seufzte mit geschlossenem Mund, dann fragte er: »Wie alt sind Sie denn?«
»Wie bitte?«
»Ich fragte, wie alt Sie sind.«
»Was spielt denn das in diesem Zusammenhang für eine Rolle?«
»Sie sind neunundsiebzig«, sagte er gelassen.
»Und was wollen Sie damit sagen?«
»Damit will ich sagen, Governor, dass Sie ein langes Leben hinter sich haben. Der Tod ist eine Station, an die wir alle irgendwann gelangen. Die finanzielle Hilfe, von der Sie sprechen, brauchen diejenigen, vor denen noch eine beträchtliche Lebensspanne liegt. Gäben wir Geld aus, um Menschen wie Ihnen zu helfen, würde das System innerhalb kürzester Zeit bankrottgehen.«
Sie schien mit einer solchen Offenheit nicht gerechnet zu haben, weshalb ihre Augen wütend aufblitzten. Es kam einem kalten Schwall Wasser in ihr Gesicht gleich. »Mr. President, Sie sind in einem Bezirk, wo die Älteren hoffnungsfroh auf Sie schauen. Die Leute sind nicht hier, um sich Lügenmärchen über Langlebigkeit anzuhören, während wir zwei genau wissen, dass Ihr einziges Ziel vor Ort darin besteht, Wählerstimmen durch Falschaussagen zu sammeln.«
Michelin beugte sich nach vorn, um seiner Erwiderung Gewicht zu verleihen. »Governor, diese politische Debatte dauert nun bereits zwei Jahrhunderte an, ohne dass eine Einigung absehbar wäre. Zunächst einmal tut es mir leid, dass Sie krank sind; das meine ich ernst. Aber ich kann kein Programm fördern, das letztendlich die Staatskassen leeren würde.« Er lehnte sich langsam im Sitz zurück, wendete seinen Blick aber nicht von ihr ab.
»Also werden Sie die Bevölkerung von New Miami einfach anlügen, meinen Sie das damit? So sieht Ihre Kampagne also aus?«
»Ich werde ihnen Hoffnung spenden«, behauptete er.
»Mr. President, die Staatskassen in Mitleidenschaft zu ziehen, ist nicht das Problem.« Sie streckte sich nach dem Platz links neben sich aus, wo ihre Handtasche lag, und zog ein Tablet daraus hervor. Nachdem sie mehrere Online-Befehle eingetippt hatte, öffneten sich Dokumente auf dem Bildschirm. Sie begann nun damit, die buchhalterisch nicht erfassten Ausgaben während seiner Amtszeit als Präsident vorzulesen. »2177 haben Sie widerrechtlich flüssige Mittel zum Bau einer Villa in New Malibu verwendet, dem vornehmsten aller Felder von Elysium. Im selben Jahr bauten Sie außerdem Ihre Anwesen in New Waikiki, New Myrtle Beach und New Bermuda mit diesen Geldern aus. Im Sinne der Gemeinheit gesprochen, hätten diese Mittel ausgereicht, um die Leben von über tausend Menschen im Bezirk New Miami zu retten oder zu verlängern. Sie entschieden sich jedoch trotz des Wissens um unsere Notlage, anders.«
»Dass solche Investitionen getätigt worden sein sollen, ist mir vollkommen neu.«
»2178 stellten Sie vierundzwanzig Familienangehörige in den Dienst Ihres Regierungsstabes, für deren Berufsbilder nicht einmal Beschreibungen existieren und bei denen nicht ersichtlich ist, dass sie den Mitgliedern der Föderation tatsächlich in irgendeiner Weise nutzen. Trotzdem strichen Sie astronomisch hohe Summen als Vergütung ein, die das Listengehalt weit überstiegen. Diese Beträge summieren sich auf insgesamt vierunddreißig Millionen Dollar, Mr. President, mit denen sie über 2650 Leben hätten bewahren können. Allein in diesem Jahr haben Sie …«
Michelin hob eine Hand, um die Frau abzuwürgen. »Genug«, ermahnte er sie. »Das ist alles vollkommen aus der Luft gegriffen. Es gibt nichts, was Ihre Vorwürfe belegt, Governor. Rein gar nichts.«
»In diesem Punkt irren Sie sich, Mr. President, und das wissen wir beide, nicht wahr?«
Er starrte sie einen langen Moment gleichgültig an, bevor er erneut sprach: »Sollten Sie planen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, Governor, garantiere ich Ihnen, dass Sie sich von Beginn an auf einen harten Kampf einstellen dürfen. Offengestanden«, fügte er hinzu, »glaube ich allerdings nicht, dass Sie genügend Zeit und Kraft haben werden, um sich dabei gut zu schlagen.«
Die Gouverneurin machte bereits jetzt einen vollkommen ausgelaugten Eindruck. »Wissen Sie was, Mr. President? Sie haben recht, Sie haben absolut recht. Ich werde noch zwei, vielleicht drei