MAUSOLEUM 2069. Rick Jones
ihr mit seinem hellen Auge zu. »Bis später.«
Dann nahm er sein Tablet und verließ die Küche.
Bevor sie zur vorgesehenen Grabstätte der Gouverneurin ging, besuchte Sheena noch ihre Mutter, die zwanzig Jahre zuvor im Mausoleum beigesetzt worden war.
***
Mit sechs Jahren hatte Sheena Tolbert zusehen müssen, wie ihre Mutter starb.
Es war Abend gewesen, ungefähr gegen einundzwanzig Uhr in New Albuquerque. Sie waren mit dem Auto gefahren, ihre Mutter am Steuer, ihr Onkel auf dem Beifahrersitz und Sheena kurz vor dem Einschlafen auf der Rückbank. Die beiden Erwachsenen hatten sich über sie unterhalten, also hatte sie versucht, möglichst lange wach zu bleiben, um zu belauschen, worum es ging.
Ihre Mutter hatte ihrem Bruder erzählt, wie stolz sie auf ihr einziges Kind sei und wie sehr sie einander liebten. Er erwiderte daraufhin etwas, das Sheena seinerzeit nicht verstand; er sagte: »Sie steht dir sehr nahe, weil das Wort Mutter für Kinder Gott bedeutet. Sie sieht in dir jemanden, der sie verteidigt, eine Behüterin und Orientierungshilfe, ein Fanal bedingungsloser Liebe. Darum gibt sie zurück, was sie empfängt. Das ist eine Liebe«, betonte er, »die ihre beide nie vergessen werdet, komme, was wolle.«
Doch kaum, als ihm das letzte Wort über die Lippen gekommen war, erhielten sie plötzlich eine Warnung. Die Roboterstimme aus der Konsole des Fahrzeugs meldete eine Fehlfunktion in der Lenksäule. Kurz darauf kam der Wagen von der Straße ab und rammte einen Lichtmast. Das Nächste, woran Sheena sich erinnerte, war eine Säule aus rußig schwarzem Rauch und Hitze von einem Feuer in der Nähe.
Während sie übersät mit Sicherheitsglassplittern auf dem Asphalt lag, sah sie ihre Mutter, die ebenfalls auf die Fahrbahn geschleudert worden war und eine blutige Hand nach ihr ausstreckte. Selbst als sie auf der Schwelle zwischen Leben und Tod stand, verhielt diese sich weiter wie Sheenas Beschützerin, obwohl ihr ganzer Körper ein Schmerzensherd war, da verheerte Nervenenden sie zu qualvollen Schreien nötigten. Dennoch streckte sie ihren Arm aus, bis sie nicht mehr konnte. Das Licht in ihren Augen wurde immer schwächer, bis es irgendwann endgültig erlosch. Dann sackte ihre Hand auf den Boden. Ein letzter Lufthauch entwich zischend wie Dampf und dann war ihre Mutter tot.
Sheena hatte nur liegen bleiben können, während ihr Verstand langsam abschaltete – ein Kind, das sich zu sehr fürchtete, um eine helfende Hand zu heben, und sei die Geste auch noch so zwecklos. Die Erinnerung an diese Nacht, vor so langer Zeit in New Albuquerque sollte sich auf ewig in ihr Gedächtnis einbrennen.
Sie wusste zwar, dass ihre Mutter ihr verziehen hätte, doch bisher war es ihr noch nicht gelungen, sich selbst zu verzeihen.
Das Ganze war jetzt zwanzig Jahre her.
Als bewährte Angestellte der Föderation hatte man ihre Mutter schließlich im Mausoleum 2069 bestattet.
Sheena stand jetzt auf der dreizehnten Ebene vor den gestuften Reihen von Gräbern. Es waren jeweils vier gestaffelte Grüfte übereinander, der Breite nach jeweils hundert zu beiden Seiten eines Korridors, von denen es auf jeder Ebene mehrere gab. Deren Gesamtzahl wiederum belief sich auf achtzehn, und momentan fanden fünfundsiebzigtausend Menschen im Mausoleum ihre letzte Ruhe, wobei noch zehntausend Kammern unbelegt waren.
Ihre Mutter hatte man in ein Grab auf der zweiten Stufe von unten gebettet, das achtundzwanzigste in der Reihe. Ganz sanft fuhr Sheena mit den Fingerspitzen über die Zeichnung über der Inschrift, die neben dem Geburts- und Todesdatum auch einen Spruch umfasste: Geliebte Mutter von Sheena.
Wie jedes Mal kamen ihr die Tränen, als sie das Epitaph berührte.
Geliebte Mutter von Sheena
Es tut mir so leid, Mama. Ich bete darum, dass du mir vergeben hast.
Dann küsste sie ihre Fingerspitzen und rieb damit über die Oberfläche der Grabplatte ihrer Mutter. Allein diese Geste war ein Akt inniglicher Liebe, und wie so oft – sie wiederholte dieses Ritual täglich – war es schwierig für sie, sich zu lösen.
Nachdem sie sich widerwillig zurückgezogen hatte, machte sich Sheena auf den Weg zurück durch den Gang. Jeder ihrer Schritte hallte von den Wänden des Mausoleums wider und verklang dann langsam.
Nicht mehr lange, dann würde sie ihre Mutter wiedersehen.
Allerdings in einem drastisch anderen Zustand.
***
Während Eric Wyman als Mitglied der sogenannten Force Elite im Camp Coquit in der New Bay Area stationiert gewesen war, hatte er sich zweifelsohne durch besondere Kompetenzen auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet. Im Gefecht gegen Wilde aus den Wastelands hatte er Schnelligkeit bewiesen und sauber getötet, indem er sich kaum lauter als der wispernde Wind an seine Gegner herangepirscht hatte. Und hatte ein Wilder den sanften Luftzug im Genick dennoch gespürt, war es schon zu spät gewesen und sein Leben vorbei, denn Wyman war bis zum Letzten gegangen und hatte ihm zum Schluss die Kehle durchgeschnitten.
Er hatte sich zwölf Jahre lang als Kriegsleutnant der Einheit verdingt und den Gebieten der Föderation als Verteidiger der Neuen Städte vor Feindelementen gedient, die den Bollwerken Elysiums zu nahe erachtet worden waren.
Eines Nachts, nicht weit außerhalb von New Dallas, dessen Umgebung ein Wüstenreich war, in dem nur Skorpione die Vorherrschaft wahren konnten, war eine Bande Wilder aus den Wastelands der Stadt zu nahegekommen, sodass man ihre Feuer von der Mauerwehr aus hatte sehen können.
Wyman hatte den Befehl erhalten, seine Truppen hinauszuführen, um das Gebiet zu säubern.
In weniger als fünf Minuten war er mit einem Zug von Lastwagen voller kampferprobter Männer voraus zu den Leuchtpunkten der Flammen im Dunkeln gefahren. Als sie nur noch einen Katzensprung weit vom Rand des Lagers entfernt waren, war seine Mannschaft ausgestiegen und hatte einen Befestigungspunkt errichtet.
Die Wilden hatten sich ruhig verhalten und fern und entrückt gewirkt, ihre Gesichter beschmiert mit Staub und Ruß im Schein des Feuers, das ihre verzweifelten Augen reflektierten. Ihre Haare waren extrem strähnig oder unentwirrbar verfilzt gewesen, die Wangenknochen vor Abmagerung hervorgetreten, und was diejenigen betraf, die ihre Körper nicht mit zerschlissenen Fellen bedeckt hatten, so hatten ihre Rippen deutlich wie Spieße unter dem straff darüber gespannten Fleisch hervorgestochen.
In diesem Moment hatte Wyman eine Erleuchtung erlebt.
Diese Gruppe hatte nur aus Frauen, Kindern und nur sehr wenigen Männern bestanden, bei denen es sich gar nicht um Wilde handelte, sondern um Menschen, die wahnsinnig vor Entbehrung waren.
Er erinnerte sich noch heute an den Augenblick, als er aus dem Schatten ins Licht getreten war und im Flüsterton von seinen Kameraden gewarnt wurde, die wissen wollten, was er da bloß tue. Er hatte seine Waffe senkrecht nach unten gehalten, sodass die Mündung fast den Wüstenboden gestreift hatte, während er langsam auf die Feuerstelle zugegangen war.
Dort hatten sich alle Blicke auf ihn gerichtet; die Wilden hatten den Fremden, der aus der Finsternis getreten war, ängstlich taxiert.
Doch niemand hatte sich gerührt, weil ihre Gemüter offenbar zu abgeschlagen waren.
Er hatte die Schwermut in ihren Zügen erkannt und geradezu gespürt, dass dieser in Schüben von ihnen abstrahlte wie etwas Lebendiges. Daraus hatte er einen einzigen Schluss gezogen: Dies war nicht der Blick irrer Unmenschen, sondern ein Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit und Selbstaufgabe.
Daraufhin hatte er seine Waffe fallen lassen, sodass eine Sandwolke aufgestoben war, als sie am Boden aufkam.
Er hatte diesen Menschen nichts antun können, was nicht schon das Leben selbst erledigt hätte, denn sie waren bereits tot, obwohl sie mitten in dem verwüsteten Flachland kauerten.
»Was tun Sie da?«, hatte ein Sergeant gewispert, der von hinten gekommen war und dabei mit seinem MG auf diejenigen am Feuer gezielt hatte. »Lieutenant?«
Doch Wyman war nicht auf ihn eingegangen. Er hatte die Wilden im Blick behalten,