Zucker im Gepäck. Susanne Löw

Zucker im Gepäck - Susanne Löw


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      Ein Mittwochmorgen in München im Jahr 2010: Es ist einer dieser hektischen Tage, an denen ich nach tagelangem Husten auf dem frühen Weg zur Arbeit einen noch früheren Arztbesuch unterbringen will. Ich steuere den nächstbesten Allgemeinmediziner zwischen Wohnung und U-Bahn-Station an. Meine Hoffnung: keine lange Wartezeit und ein schnell wirkendes Medikament. Was ich stattdessen bekommen werde: eine unerbetene und völlig desillusionierende Lehrstunde als Diabetikerin …

      Ob es bei dem Arzt an Langeweile oder einer vielleicht vor Kurzem absolvierten Fortbildung zum Thema Diabetes liegt – ich weiß es nicht. Aber obwohl meine Erkältung nichts, aber auch rein gar nichts ursächlich mit meinem insulinpflichtigen Typ-1-Diabetes zu tun hat, den ich seit 2002 habe, ist der Arzt äußerst interessiert an meiner Diabetestherapie. Er lässt sich meine Blutzucker-Aufzeichnungen zeigen, stellt Fragen zu Insulin und Pumpensystem. Genervt und unter Zeitdruck gebe ich nur widerwillig Auskunft. Und dann kommt ein Satz, der meinen Geduldsfaden reißen lässt. Nach einem Blick auf meine Blutzuckerkurve der letzten Wochen, die auch mal nach oben und unten ging – völlig normal im Übrigen –, meint er mit hochgezogenen Augenbrauen: „Sie sind Redakteurin und oft auf Dienstreise? Oha …“ Sorgenfalten auf seiner Stirn. „Das erklärt natürlich die Blutzuckerschwankungen. Als Diabetikerin sollten Sie lieber den Job wechseln.“

      Dass ich damals bereits beruflich und privat in über 40 Ländern mit „Zucker im Gepäck“ war, weiß er ja noch nicht einmal. Mit dem letzten Rest an Freundlichkeit, den ich aufbringen kann, verabschiede ich mich – in dem sicheren Wissen, diese Praxis nie mehr zu betreten. Denn wenn es zwei Dinge gibt, die ich als Diabetikerin gelernt habe, dann ist es zum einen, dass Diabetes eine Selbstmanagement-Krankheit ist, bei der man seine eigenen Entscheidungen treffen muss – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr –, und dass man sich zum anderen keine Grenzen setzen (lassen) sollte.

      Verärgert und frustriert schreibe ich nach dem Arztbesuch in der U-Bahn eine SMS an Dr. Andreas Weigel, meinen ersten Diabetologen in Augsburg nach meiner Diagnose im Jahr 2002, der mir die nötige Gelassenheit im Umgang mit Insulin, Unterzucker und Kohlenhydraten mitgegeben hat. Ich tippe: „Seit Ihnen geht es mit der ärztlichen Behandlung nur noch bergab …“ Senden. Kurz darauf klingelt mein Handy – Dr. Andreas Weigel will wissen, was los ist. Ich erzähle von dem Hobby-Diabetologen und er gibt mir den einzig richtigen Rat: „Nicht mehr in diese Praxis gehen – Arzt wechseln!“ Mittlerweile lebe ich in Hamburg, bin freie Journalistin (das ist noch viel unsteter als eine Festanstellung in einer Redaktion) und ich war in 56 Ländern auf allen Kontinenten, teils auch alleine in vermeintlich gefährlichen Ländern in Südamerika. Ich war in Wüsten, auf Gletschern, abseits von Touripfaden in Indien, im Amazonas-Regenwald und im buddhistischen Kloster im Himalaja – immer mit „Zucker im Gepäck“. Warum auch nicht? Wo ein Wille, da ein Weg – und wo ein großer Wille, da steht einem die ganze Welt offen.

      Und auch wenn man als Diabetiker sein eigener Therapeut ist: Support ist wichtig – und das gilt auch für diesen Ratgeber. Ich freue mich daher sehr, dass Dr. Andreas Weigel meinen Ratgeber für Reisen mit Diabetes durch seine ärztliche Expertise bereichert. Es könnte keinen Besseren dafür geben.

      September 2002, Krankenhaus Haunstetten bei Augsburg. „Diabetes mellitus Typ 1“ lautete die Diagnose, die mir hier einen Aufenthalt beschert hat. Vorausgegangen waren vier Monate, in denen ich immer schlapper wurde, ständig Durst hatte und immer mehr abgenommen habe – obwohl ich bereits Kalorienbomben zu mir nahm, um dem entgegenzuwirken.

      „Diabetes“ – das sagte mir damals herzlich wenig. Mein ein Jahr zuvor verstorbener, innig geliebter Großvater hatte Diabetes und ich erinnerte mich an sein Mäppchen mit Spritzen, das er immer zu den Mahlzeiten hervorzog. Mehr wusste ich nicht. Und mehr wollte ich damals auch gar nicht wissen. Insulin spritzen, Blutzucker messen, Kohlenhydrate schätzen – das war doch nicht ich! Ich war 21, mitten in meinem Studium, die Zwischenprüfungen standen an – mein Leben fing gerade erst an. Für die Zusammensetzung von Nahrung – Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette – habe ich mich noch nie interessiert. Jetzt musste ich in Schulungen aber genau das lernen und die Broteinheiten (BE) von Pasta, Brot und Reis analysieren. Würde der Diabetes künftig mein Leben dominieren und diktieren?

      „Krank“ habe ich mich von Anfang an nicht gefühlt. Daher bin ich auch die meiste Zeit meines einwöchigen Krankenhausaufenthaltes, in dem ich lernen sollte, wie ich mich den Rest meines Lebens zu verhalten habe, die steril wirkenden, weißen Flure auf und ab getigert – anstatt auf dem Krankenhausbett in meinem Zimmer zu sitzen. Die Zeitschriften in einer Auslage vor dem Schulungsraum hatte ich aus Langeweile und Neugierde gleichermaßen nach zwei Tagen alle durchgelesen.

       „Krank“ fühlte ich mich nie.

      Zum Glück! Denn in einem Magazin schrieb eine junge Typ-1-Diabetikerin über ihre Reise nach Kanada. Ach, das geht? Reisen mit Diabetes – und dann auch noch so weit weg? Schon damals bin ich gerne gereist, daher war das ein wahrer Aha-Effekt für mich. Ich beschloss, der Autorin einen Brief zu schreiben und mich für ihre Motivation zu bedanken. Mehr noch: Ich habe in dem Brief angekündigt, ebenfalls eine große Reise zu machen, sobald ich die Dos und Don‘ts des „Daily Diabetes“ draufhabe. Und, so habe ich vollmundig angekündigt, ich würde dann ebenfalls einen Bericht veröffentlichen. (Wenn man etwas aufschreibt, ausspricht oder sogar jemand anderem schriftlich mitteilt, wird es gleich viel verbindlicher.)

       Mit Sandkastenfreundin Claudia ging es kreuz und quer durch Spanien …

       … mit (zu) schweren Backpacks.

      Die junge Diabetikerin hat geantwortet. Und ich habe mir ein Jahr später tatsächlich mit meiner Sandkastenfreundin Claudia ein Semester freigenommen, um zwei Monate lang mit dem Rucksack durch Spanien zu reisen – wo ich auch gleich meine erste Herausforderung zu bewältigen hatte: Mein Messgerät wurde geklaut (siehe Postkarte hier). Anschließender Reisebericht in einem Magazin inklusive – wie ich es mir selbst versprochen hatte. Aber das war erst der Anfang für viele weitere Reisen. Getreu dem Motto: Jetzt erst recht!

       Die Bergdörfer in Andalusien sind bezaubernd.

       Diabetiker dieser Welt – vereinigt euch!

      Diabetes ist eine chronische Krankheit, mit der man gut leben kann. Mal gibt es bessere Tage, mal schlechtere. Ärzte, Diabetesberater, Ernährungswissenschaftler, sie alle können gute Tipps geben – in der Theorie. Besonders wertvoll sind daneben aber auch Erfahrungen anderer Diabetiker. Wie machst du das? Warum machst du das so? Ob Selbsthilfegruppen, Online-Chats oder Urlaubsfahrten mit anderen Diabetikern: Tauscht euch aus! 18 Jahre nach der Diagnose will ich persönlich zwar immer noch nicht Teil einer Selbsthilfegruppe sein, aber unter meinen Freunden ist auch ein Diabetiker. Na klar ist das toll, wenn man beim Italiener gemeinsam über die Kohlenhydratmenge der Pizza diskutieren kann! Und noch aufregender ist es – und das können wohl nur Diabetiker nachvollziehen –, wenn man im Ausland zufällig Gleichgesinnte trifft. Offenheit lohnt sich also, sowohl was die eigene Diabetes-Erkrankung betrifft als auch gegenüber fremden Kulturen.


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