Bittere Kapern. Peter Pachel
jetzt, nachdem sie zur Chefredakteurin befördert wurde. Sie sprach neben Englisch und Deutsch fließend Italienisch, deshalb war sie für die letzte Dokumentation geradezu prädestiniert.
Zum Glück war die Küche soweit eingerichtet, und alle Geräte funktionsbereit. Aufs Kochen hätte sie schwerlich verzichten können. Ein Geschenk, das ihr Vater ihr mit in die Wiege gelegt hatte. Für Julia Moretti war das Zubereiten von Speisen Entspannung pur. Viele ihrer Freunde beneideten sie darum. Schon als kleines Kind hatte sie stundenlang am Rockzipfel ihrer Oma gehangen, wenn sie zu Besuch in der alten Heimat ihres Vaters war, und hatte jeden Handgriff der Neapolitanerin in sich aufgesogen. Sie war von den vielen Gewürzen und Gerüchen, die den ganzen Tag durch das kleine Haus ihrer Großmutter strömten, fasziniert gewesen. Es war so vollkommen anders als in der schlichten Küche ihrer deutschen Mutter. Bis zum Tod ihrer geliebten Nonna hatte Julia sie mehrmals im Jahr besucht, selbst nachdem sich ihre Eltern hatten scheiden lassen. Nonna war und blieb für sie die Größte. Wie einen Schatz hütete sie ihre Rezepte, eine lose Blattsammlung handschriftlicher Aufzeichnungen, die unzählige Geheimnisse der italienischen Küche enthielten. Julia hatte das Vermächtnis binden lassen, nachdem ihr Nonna kurz vor ihrem Tod einen Karton mit den Erinnerungen anvertraut hatte. Sie musste ihr nahes Ende geahnt haben, anders konnte Julia es sich nicht erklären. Sie war gerade 19 geworden, als sich ihre Eltern trennten, ungern dachte sie an diese Zeit zurück. Das Verhältnis zu ihrer Mutter, welches nie besonders harmonisch war, war seitdem noch weiter abgekühlt. So wie ihre Mutter wollte sie nie werden, das hatte sie sich geschworen und sich nach der Scheidung schnell auf die Seite ihres Vaters geschlagen. Dem Scheitern der Ehe waren jahrelange Streitigkeiten vorausgegangen. Julia hatte es nie verstanden, wie sich aus augenscheinlichen Belanglosigkeiten ein handfester Krach entwickeln konnte. Fast immer hatte sie ihre Mutter als Verursacherin ausgemacht, vielleicht oft zu voreilig, wie sie sich später eingestanden hatte. Damals in jungen Jahren hatte sie die Lage etwas anders gesehen. Plötzlich war der Mann weg, der ihr immer jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte. Ihre Mutter hingegen war viel strenger mit ihr und hatte stets auf eine gesunde Balance zwischen Geben und Nehmen geachtet.
Julias Gedanken schweiften ab, sie überlegte, wann sie zuletzt Kontakt gehabt hatten, ihr fiel das vergangene Weihnachtsfest ein. Wie schon in den Jahren zuvor hatte sie mit ihrer Mutter ein quälendes Telefonat geführt und schmerzlich gespürt, wie unüberwindbar der Riss zwischen ihnen war. Julia hatte danach stundenlang geheult, war dann zu Freunden aufgebrochen und hatte an diesem Abend viel zu viel Wein in sich hineingeschüttet. Ein paar Tage danach wurde sie von Reue geplagt, ihre Mutter hatte einfühlsam versucht, sie zu einem Treffen zu bewegen, sie immer wieder aufgefordert, reinen Tisch zu machen und sie beinahe angebettelt, sich zu versöhnen. Julia war stur geblieben wie ein Roboter, sie war selbst über ihre Gefühlskälte erschrocken gewesen, aber sie hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, ihrer Mutter einen kleinen Schritt entgegen zu kommen.
Jetzt spürte sie, wie sich ihre Laune verschlechterte, das passierte immer, wenn sie an das zerrüttete Verhältnis zwischen ihnen dachte. Warum sollte ihre Mutter sich geändert haben? Sie war schließlich Mitschuld am Tod ihres Vaters. Das stand für Julia fest. Er hatte wie ein Hund gelitten, nachdem ihn seine geliebte Eva vor die Tür gesetzt und einen Schlussstrich gezogen hatte. Trotz aller Streitigkeiten in den vergangenen Jahren kam es für ihn völlig überraschend. Von da an verschlechterte sich sein Zustand zunehmend, der einst so selbstbewusste Italiener vergrub sich immer mehr in Selbstmitleid, verlor seine Arbeit und starb drei Jahre später an den Folgen eines Autounfalls. 1,8 Promille wurden in seinem Blut gefunden, Julia vertrat bis heute die These, dass ihr Vater den Unfall selbst herbeigeführt hatte. Er war an gebrochenem Herzen gestorben, dabei blieb sie. Warum in aller Welt sollte sie einen Neuanfang mit ihrer Mutter wagen, die dieses Drama ausgelöst hatte?
Schnell schüttelte sie die Erinnerungen ab und konzentrierte sich auf den finalen Text der aktuellen Reportage. Mit ein paar Mausklicks fügte sie den Siegertitel an der richtigen Stelle ein und schickte die Word-Datei an das Lektorat, sie sollten noch einen letzten Blick darauf werfen. Dann fuhr sie ihren Rechner herunter und griff nach ihrem Handy, in einigen Büros brannte noch Licht, sie war an diesem Abend nicht die Letzte in der Redaktion. Als sie ihr Smartphone entriegelte, sprang ihr eine Telefonnummer ins Auge. Jemand hatte mehrfach versucht, sie zu erreichen. Der Vorwahl nach musste der Anruf aus dem Ausland gekommen sein, nichts Besonderes, schließlich war sie viel in Europa unterwegs. Diese Vorwahl war ihr aber unbekannt. Sie überlegte einen Moment, schmiss dann das Mobiltelefon aber in ihre große Handtasche, der unbekannte Anrufer musste warten.
MARIA KENTARIS
AMBELÁS, PAROS, SÜDLICHE ÄGÄIS, SEPTEMBER 2016
Unfähig sich zu bewegen, stierte sie einen Moment lang hinunter in die brodelnde Bucht, ihre Gedanken rasten. Was sollte sie zuerst tun? Hilfe holen oder zunächst nach der Person sehen, vielleicht lebte sie ja noch? Ohne weiter kostbare Zeit zu verlieren, riss sie sich mit einem Ruck von der kalten Brüstung los. Ihre Augen erkundeten geschwind die nähere Umgebung. Obwohl sie schon unzählige Male an dieser Stelle gestanden hatte, suchte sie hilflos nach einer geeigneten Stelle, um möglichst schnell nach unten ans Wasser zu gelangen. Achilléas bellte ihr fordernd entgegen. Maria hastete die steile Treppe hinunter und stolperte über eine lose Anhäufung von Steinen in die angrenzende Bucht, stützte sich dabei immer wieder mit ihren Händen ab, wenn sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Auf einen derartigen Balanceakt war sie nicht vorbereitet gewesen, so wie jeden Morgen hatte sie sich für den frühen Spaziergang mit ihrem Hund lediglich ihre Hausschuhe übergestreift. Ein denkbar ungeeignetes Schuhwerk für eine derartige Kletterpartie. Maria schaffte es, ohne zu stürzen, bis ans Ufer, krempelte schnell ihre Hose hoch und rannte die wenigen Meter zu dem leblosen Körper. Sie zitterte vor Aufregung, Achilléas sprang ihr wild gestikulierend entgegen. Bereits der erste Blick verriet ihr, dass es sich bei der angespülten Person um eine Frau handelte. Sie lag auf dem Bauch, bekleidet mit einer beigen Strickjacke und einem hellen Rock, mit dessen Saum die Brandung spielte. Die weißen Beine waren unbekleidet und befanden sich halb im Wasser. Sobald sich dieses zurückzog, erkannte sie an einem Fuß einen weißen Turnschuh, der andere Fuß war nackt.
Maria nahm allen Mut zusammen, packte die Frau von der Seite aus und drehte sie beherzt auf den Rücken, ein greller Schrei entwich ihr und schnellte wie ein Torpedo aufs Meer hinaus. Unweigerlich hatte sie einen Satz nach hinten gemacht. Achilléas stupste die Frau immer wieder an, so als wolle er sie zum Aufstehen animieren. Wie gebannt stand Maria eine Weile da, konnte ihren Blick nicht von dem versteinerten Gesicht der Frau wenden, zwei weit aufgerissene, angsterfüllte Augen starrten ins Leere. Hier gab es nichts mehr zu machen, die Frau war eindeutig tot. Während sie so dastand und den leblosen Körper betrachtete, erinnerte sie sich, die Tote war ihr nicht unbekannt, in den letzten Tagen war sie ihr mehrmals begegnet. Die weißen Turnschuhe waren ihr dabei immer ins Auge gefallen. Ein lautes Rufen ließ sie aufhorchen, sie drehte sich um, die Küchenhilfe aus dem Thalassa stand oben am Geländer und schrie ihr etwas entgegen. Marias greller Schrei beim Anblick der Wasserleiche hatte die Frau sofort zum Meer laufen lassen. Jetzt stand sie da und hielt sich gelähmt vor Entsetzen die Hände vors Gesicht.
Die Frau war keine große Hilfe, stellte Maria schnell fest und überlegte fieberhaft, was nun zu tun war. Sie griff in die Tasche ihrer Jacke, suchte nach ihrem Telefon, aber es lag zuhause. Die Polizei in Parikía konnte sie von hier aus schon mal nicht anrufen. Sie winkte der Angestellten zu, bevor sie sich jedoch zurück nach oben begab, sammelte sie noch einmal alle ihre Kräfte und zog die Tote einige Meter den Strand hinauf, raus aus der auslaufenden Brandung in einen geschützten Bereich. Dann kraxelte sie auf allen Vieren zurück zur Straße. Oben angelangt, stürmte sie ins Innere des Thalassa und rief laut nach dem Inhaber der Gastwirtschaft, die Küchenhilfe ließ sie dabei links liegen.
»Janni! Janni! In der Bucht liegt eine Tote! Wir müssen die Polizei benachrichtigen. Es ist eine Frau, ich glaube sie ist ertrunken.«
Aus der Ferne hörte Maria schlürfende Schritte näherkommen. »Um Gottes Willen!« Jannis Frau, Flora, erschien kreidebleich im Türrahmen und bekreuzigte sich unentwegt. »Kennst du die Tote?«, fragte sie leicht zitternd.
»Nur vom Sehen, sie ist mir in den vergangenen