Mami Bestseller 55 – Familienroman. Myra Myrenburg
ach, Moment, wir haben ja noch keinen Kaffee…«
»Du sprichst in Rätseln«, sagte Fedor Rasin kopfschüttelnd und schnitt das untere Ende seiner Zigarre sorgfältig ab, »willst du mir nicht erklären, was du damit meinst?«
Nora rollte den Teewagen mit Kaffee und Gebäck herein, rief noch etwas zu Lisette hinaus und ließ sich ihrem Gast gegenüber nieder.
»Es hat sie erwischt, Fedja.«
»Na und? Mit zweiundzwanzig warst du schon unter der Haube, meine Liebe.«
»Es ist nicht ihr Alter, das mich daran stört. Es ist ihre Wahl.«
»Sag bloß – es ist…«
»Ja«, seufzte Nora und rührte in ihrer Tasse, »er ist es. Wendi ist wie ein aufgeschlagenes Buch, und man kann ruhig ein paar Seiten vorblättern, dann weiß man Bescheid, bevor sie es selbst weiß. Aber nachdem nun ich im Bilde bin, hat sie es endlich auch begriffen. Was schlägst du vor, Acapulco oder der Norden Finnlands?«
»Acapulco«, antwortete Fedor Rasin sehr entschieden. »Finnland würde ich ganz ausklammern. Diese Temperaturen, Nora, ich bitte dich. In zwei Tagen kannst du vor lauter Rheuma nicht einen Schritt mehr gehen.«
»Erinnere mich nicht an meine Leiden und an mein Alter, Fedja, sondern überlege dir lieber mal, was man sonst noch unternehmen könnte. Acapulco ist so mondän geworden in den letzten Jahren. Wendi macht sich nicht viel aus dem Rummel der großen Welt. Sie erforscht lieber auf eigene Faust etwas Neues, sie ist naturverbundener, als ich es war oder du.«
»Oh«, wehrte sich Fedor Rasin energisch. »Ich bin ein Naturmensch, Nora, wie kannst du daran zweifeln? Ich habe früher eine Woche lang in Jagdhütten gehaust und nichts anderes getan, als das Wild zu beobachten, den Wald, die Bäume, na, du weißt schon, was ich meine.«
»Ich weiß es in der Tat!« lächelte Nora und trank ihre Tasse leer. »Zumindest kann ich es mir ausgezeichnet vorstellen. Du hast den Pegel der Wodkaflaschen beobachtet, die ihr dort in den Jagdhütten munter kreisen ließet. Nein, Fedja. Wendi ist von anderer Art als du und ich. Um sie wirklich abzulenken, brauche ich mehr als ein Luxushotel mit Swimmingpool.«
»Na schön, Nora. Aber es braucht doch nicht gerade am Nordpol zu liegen. Im Ernst, du verträgst das nicht. Weißt du noch, wie du damals in Helsinki gefroren hast, als wir eine Tournee beendeten? Und dabei warst du bloß drei Tage dort.«
»Ich hatte mich eben noch nicht dran gewöhnt, Fedja. Wenn ich mich länger dort aufhalte, wird sich das vielleicht ändern.«
Fedor Rasin seufzte tief und abschätzig.
»Das schlimmste an den meisten Frauen«, sagte er mit Nachdruck, »ist die Tatsache, daß sie sich selbst so wenig kennen. Sie weigern sich einfach, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Und leider bist du in diesem Punkt nicht anders als die anderen.
Erstens, Nora, wirst du die Sache damit nicht ändern, indem du das Kind einige tausend Luftkilometer weiter nördlich oder südlich versetzt. Zweitens wirst du dir das Zipperlein holen, wenn du in Temperaturen unter Null leben willst, und sei es auch nur für eine kleine Weile. Nimm doch Vernunft an, Nora, du bist doch sonst nicht so kopflos.
Was willst du mit dieser Flucht überhaupt erreichen, denn nur als Flucht kann man das bezeichnen. Wendi wird es genauso durchschauen wie ich. Sie ist ein liebenswertes Menschenkind, ein bißchen unfertig noch und ziellos, na, was soll’s! Sie braucht eben länger als andere.
Aber Glück hattest du ja mit ihr, das gebe ich unumwunden zu. Nur – Nora mach dir einmal klar, daß du sie nicht vor allem bewahren kannst und sollst. Wendi wäre heute vielleicht ein reiferer Mensch, wenn du ihr Gelegenheit dazu gegeben hättest. Du bist eine Glucke, was das Kind angeht, mit einem eigenen hättest du dich nicht mehr engagieren können – entschuldige, ich vergaß…«
Nora Lippits starrer Blick löste sich von der Zimmerdecke.
»Nun gut«, murmelte sie heiser, »ich weiß, was du sagen willst. Du meinst es gut, aber du bist im Irrtum. Nicht Wendis wegen will ich auf Reisen gehen, nicht ausschließlich ihretwegen jedenfalls. Auch meinetwegen, Fedja. O ja, meinetwegen.«
Ihre dunklen Augen hefteten sich auf sein breitflächiges braunes Gesicht.
»Aber…«, begann er und zwang sich und seine Stimme zur Ruhe, wurde jedoch sofort von Nora unterbrochen.
»Kein Aber, Fedja. Ich stehe das alles nicht noch mal durch, falls du weißt, was ich sagen will. Ich habe das einmal erlebt, ich bin jung gewesen damals und stark. Ich bin mit heiler Haut davongekommen. Aber ein zweites Mal – nein, ein zweites Mal durch diese Mühle – du hast ja keine Ahnung! – das schaffe ich nicht mehr, Fedja, heute nicht mehr. Ich will es auch nicht mehr. Die Welt ist voller reizender junger Männer, warum muß es ausgerechnet dieser sein?«
Fedor Rasin hob die breiten Schultern und ließ sie wieder sinken.
Sein Lächeln war das eines resignierten älteren Herrn.
»Irgendwann, Nora, wirst du dein Geheimnis lüften müssen, zumindest Wendi gegenüber. Und was die unzähligen jungen Männer angeht, so wird Wendi dir klipp und klar antworten, daß es für sie nur diesen einen gibt. So ist die Jugend, und weiß der Himmel, Nora, ich finde das auch gut und richtig so. Laß sie sich doch durchbeißen, gib ihr die Chance, sich zu beweisen. Ihr und ihm, Nora…«
»Hör auf!« sagte sie heftig und erhob sich. »Bitte, Fedja, hör jetzt auf, ja?«
Er schüttelte langsam den Kopf, aber er sagte nichts mehr.
Er kannte Nora seit zwanzig Jahren. Er war ihr erster Klient gewesen, ein russischer Emigrant mit einem kleinen Kosakenchor. Er hatte ihr den Start ermöglicht und sie ihm ebenfalls.
»Komm, Nora!« murmelte er und legte ihr die Hand auf die Schulter, was gar nicht so einfach war, weil er bedeutend kleiner war als sie.
»Wir zwei alten Kämpfer werden uns doch nicht wegen einer jungen Liebe in die Haare geraten. Tu, was du für richtig hältst, laß dich nicht von mit beeinflussen. Acapulco, in Gottes Namen, und wenn’s denn sein muß, schon nächste Woche. Von dort fliegst du dann ein bißchen weiter nach Süden, dort findet Wendi ihre unerforschte Welt und du die Sonne, die du brauchst. Ich mach’ dir einen schönen Reiseplan und bringe euch zum Flugzeug.«
Sie wandte sich ihm zu, schob ihren Arm unter seinen und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Du hast recht, Fedja, wie immer. Alte Freunde wie wir sollten sich nicht wegen einer Kinderei zerstreiten. Im übrigen ist dein Standpunkt in der Sache wahrscheinlich der bessere. Aber ich muß mit meinen Reserven haushalten, weißt du.«
»Nicht nur du«, erwiderte er stirnrunzelnd, »ich auch. Deshalb komme ich auch nicht mit euch, obwohl es natürlich das beste wäre. Ich werde in deiner Abwesenheit nach dem Haus sehen und Lisette zum Zahnarzt bewegen.«
»In diesem Punkt nimmst du dir aber wirklich zu viel vor«, versetzte Nora lachend, »das habe ich in all den Jahren nicht erreicht, obwohl es fast so wichtig wäre wie unsere Reise nach Acapulco.«
»Unterschätze nicht meinen Charme«, gab Fedor ernsthaft zurück, »sie wird fromm wie ein Lamm zur Schlachtbank gehen. Lisette – Lisette – wo bleiben Sie denn? Ich will mich verabschieden…«
Trippelnde Schritte klapperten über die Treppe, ein weißer Löckchenkranz schimmerte in der Sonne, Lisette lächelte ihn an, wie sie ihn immer anzulächeln pflegte: in demütiger Ergebenheit.
Für sie war er der bewundernswerteste Mann der Welt, nie hatte sie eine Aufführung versäumt, die er gab, und niemals hätte sie eine andere Stimme neben der seinen gelten lassen.
»Hör mal zu, Lisette!« sagte Fedja Rasin und hielt Lisettes Hand in der seinen. »Ich singe für Sie das ›Einsame Glöcklein‹, für Sie ganz allein, wenn Sie mir einen ganz großen Gefallen tun.«
»Jeden!« rief Lisette in ungehemmter Begeisterung, aber dann siegte ihr gesundes Mißtrauen. »Welchen denn?« erkundigte sie sich schon bedeutend kühler.
»Darüber«,