Die Verspätung. Andreas Schindl
Pranger gelegene Atelier des Fotografen Emil Pigal.
In seinem Geschäft hatten sich rund dreißig Jahre zuvor schon die Eltern des frischgebackenen Familienvaters an ihrem Hochzeitstag für die emaillierten Medaillons porträtieren lassen, die dereinst ihren Grabstein schmücken sollten und die in Seidenpapier eingeschlagen zwischen der Wäsche darauf warteten, ihre Bestimmung zu erfüllen. Heinrich Schindl, dessen Oberlippe zu diesem Zeitpunkt ein noch eher schütteres Bärtchen geziert hatte, hatte das an den Schläfen und im Nacken kurz geschorene und pomadisierte Haar akkurat gescheitelt. Er trug ein Hemd mit Vatermörderkragen, dazu einen schwarzen Selbstbinder und einen schmal geschnittenen doppelreihigen Rock. Seine Frau hatte das dunkle Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Ein paar kunstvoll gedrehte Locken fielen ihr in die Stirn, die fast schwarzen Augen blickten unter dichten Brauen melancholisch am Fotografen vorbei. Bekleidet war sie mit einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid mit Samtbesatz und Puffärmeln, an dessen Stehkragen kleine Stickereien den einzigen Schmuck darstellten.
Ungleich bequemer war die Garderobe der jungen Generation: Franz Schindl trug ein weißes Hemd mit weichem Umlegekragen, die schmale, dezent grau-braun gemusterte Krawatte passte gut zur Nadelstreifhose und zum salopp geschnittenen Sakko. Das schwarze Kleid seiner Frau zeichnete sich durch einen dem aktuellen Modegeschmack entsprechenden geraden Schnitt aus. Vorn wies es unzählige kleine stoffüberzogene Knöpfe auf, zum Hals hin schloss es mit einem weißen, gehäkelten Spitzenkragen um den Rundausschnitt ab. Mizzis halblange Haare lagen in sanften Wellen am Kopf und verdeckten die großen Ohren nur zum Teil.
Nach einer halben Stunde waren die Bilder im Kasten.
In ein paar Tagen seien die Abzüge zur Abholung bereit, so der Fotograf: Wünsche noch einen guten Tag und beehren Sie uns bald wieder, meine Herrschaften.
Zu Hause angekommen, wurde das Kind der Obhut der Großmutter übergeben. Mizzi legte das gute Kleid und die feinen Strümpfe ab und schlüpfte in eines ihrer zwei Alltagskleider. Anderntags fand sie sich, von der Entbindung und der Taufe noch etwas geschwächt, pünktlich zum Beginn der Frühschicht im Werk ein.
Glaubst du wirklich, dass ich sofort wieder eine Arbeit für dich habe, nachdem du eine ganze Woche auf der faulen Haut gelegen bist?, antwortete ihr der Vorarbeiter auf ihre Bitte um Wiedereinstellung.
Ich bitt Sie recht schön, geben Sie mir wieder Arbeit, Herr Gisy, ich brauch doch jetzt das Geld noch viel nötiger als früher.
Erst vierzehn Tage später durfte Mizzi wieder zurück ans Fließband.
28.II.45
Meine Lieben.
In Anfang meines schreiben seit alle auf das beste gegrüßt. geht mir gut so wie halt beim Militer. braucht euch nicht sorgen, denn es sint uns noch alle Gmündner beisammen. wegen dem Essen brauchd ihr euch nicht sorgen. wie das Abrichten ist da braucht ihr nicht neugierig sein. das Gewand schicke ich aber zurück. Von Traisen ist der Steiner Anton bei meiner Kompani. er last auch alle Grüßen. Und Schreiben könnt mir auf die Adrese (Abs). konnte nicht früher schreiben den wir wusten nich wo wir bleiben können. was gibts bei euch neues in Gmünd und Heidenreichstein. jezt glaube ich Ludwig das ihm das schwer gefallen ist aber da gibzt nichts als die Zähne zusammen beisen. um mich braucht ihr euch nicht sorgen. habt euch schon eingefunden? was macht Franzi ist er recht brav und fleißig lernen. er weis was im bevorstehd. dises leben könnt euch nichd vorstelen. also bleibt recht brav und Gesund. Alarm hatten wir noch keinen. Mit Gruß von eurem Vatter.
Grüße an Milla und Frau Gatawe u Herma
Du wirst dich entscheiden müssen, Franz, sagte Ernst Schindl eines Abends Ende 1933 zu seinem Bruder. Nach dem Nachtmahl waren die beiden in eine heftige Diskussion über die politische Lage geraten: Ideologie oder Arbeit?
Lieber geh ich wieder stempeln, bevor ich zu den Braunen überlaufe. Ich hab mich bis jetzt geweigert, vor den Schwarzen zu Kreuze zu kriechen, da werd ich erst recht nicht bei den Nazis mitmachen. Das sind gemeine Verbrecher, die selbst vor Gewalt nicht zurückschrecken. Erinnere dich nur daran, wie die Braunhemden letzten Sommer in Krems ein paar Handgranaten mitten in eine Turnerriege geworfen haben.
Gut, da sind ein paar Hitzköpfe zu weit gegangen. Aber das sind halt so Einzelfälle, das kann man nicht verallgemeinern. Irgendwie müssen sie sich doch dagegen wehren, dass der Dollfuß ihren Aufstieg um jeden Preis verhindern will. Und sei es dadurch, dass er kurzerhand die Wahlen absagt. Es passt ihm halt nicht, dass die Nazis immer mehr Zulauf haben. Was im Übrigen kein Wunder ist. Sie geben den Leuten halt nicht nur Arbeit, sondern bieten ihnen auch allerhand Vergünstigungen und Belustigungen. Vor Kurzem hab ich in der Zeitung gelesen, dass sie in Deutschland dafür sogar eine eigene Organisation gegründet haben: KdF – Kraft durch Freude. Wer dort dabei ist, kann sogar ans Meer auf Urlaub fahren. Überleg’s dir noch einmal, Franz. Man muss sich anpassen, man muss mit der Zeit gehen!
Mit der Zeit gehen? Dass ich nicht lache! Wenn ich seit meiner Geburt immer mit der Zeit gegangen wäre, dann hätte ich zuerst Monarchist, später Christlichsozialer und zuletzt Hahnenschwanzler sein müssen. Hast du eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, woher die Nazis das ganze Geld für diesen KdF-Spaß nehmen wollen? Ich meine, jetzt einmal abgesehen von der 1000-Mark-Sperre, die unser Land zugrunde richten soll. Deutschland ist genauso pleite wie wir. Ich bleib dabei, die Nazis streuen den Menschen nur Sand in die Augen, um von den echten Problemen abzulenken. Brot und Spiele, sag ich nur. In Wirklichkeit arbeiten sie schon auf den nächsten Krieg hin. Denn nur so können sie das Geld für all das aufbringen, was sie jetzt ihren Leuten schenken.
Aber geh, was du immer redest. Bevor die Deutschen wieder einen Krieg anfangen, kracht es eher noch bei uns. Denk an Schattendorf.
Am Abend des zwölften Februar 1934 herrschte auf dem Hof der Eisert-Fabrik eine ungewöhnliche Unruhe, wie Franz gleich beim Verlassen der Werkshalle bemerkte. Irgendetwas stimmte nicht in dem vertrauten Bild. Während die Arbeiter beim abendlichen Schichtwechsel sonst eher maulfaul waren und diejenigen von ihnen, die müde nach Hause gingen, jenen, die oft nicht minder müde ihre Schicht begannen, meist nur stumm zunickten, im besten Fall mit ihnen ein paar kurze knorrige Sätze wechselten, summte es an diesem Tag trotz der klirrenden Kälte auf dem Werksgelände wie auf einer Sommerwiese. Die Männer und Frauen standen in schwarzen Schwärmen beisammen, die Köpfe dicht an dicht und umwölkt vom Dampf, der aus ihren Nasen strömte und aus ihren Mündern quoll. Als Franz näher kam, hörte er, dass von Verhaftungen geflüstert, von Widerstand gesprochen wurde. Worte wie Polizeiaufgebot, Bürgerkrieg, Bundesheer und Kanonen waren zu vernehmen. Die Leute der nun beginnenden Nachtschicht versorgten Franz und seine Kollegen aufgeregt mit den Neuigkeiten des Tages: Die im Laufe des Vormittags zunächst als Gerüchte geltenden Meldungen, wonach es in Linz bei einer Hausdurchsuchung des Schutzbundheimes durch die Polizei zu bewaffnetem Widerstand der Genossen und schließlich zur Eroberung des Vereinslokals durch das Bundesheer gekommen sei, hätten sich bewahrheitet, hieß es. Der Kampf habe zwar auf weitere Städte in Oberösterreich übergegriffen, der gegen Mittag durch die Parteileitung in Wien ausgerufene Generalstreik sei aber weitgehend folgenlos geblieben. Angeblich habe die Dollfuß-Regierung das Standrecht verhängt, die meisten Schutzbundführer seien verhaftet und abgeführt worden.
Wenngleich Franz nicht nur Solidarität, sondern auch Mitgefühl mit den verhafteten, verwundeten und getöteten Genossen empfand, bestätigte die Niederschlagung des Aufstandes seine innere Überzeugung, derzufolge man sich gegen eine herrschende Ordnung schlichtweg nicht erfolgreich auflehnen konnte. Der Bauer blieb immer ein Untertan, der Arbeiter immer ein Ausgebeuteter. Da war es gleich, ob man Kopf und Knie vor dem Grafen, dem Bankier oder dem Fabrikanten beugen musste: Die Summe der Demütigungen blieb konstant. Und wollte man sich und die Seinen halbwegs unbeschadet durchs Leben bringen, konnte dies nur dank pünktlicher Pflichterfüllung, verantwortungsvoller Tüchtigkeit und unermüdlichem Fleiß geschehen. Ablenkungen jeder Art, sei es Trunksucht, sei es Kartenspiel oder Revolution, standen der Erreichung eines solchen, wenngleich