Die Verspätung. Andreas Schindl
sie das Abendessen zubereitete und nebenbei den Sprössling das kleine Einmaleins abfragte, rechnete sie ihrem Mann immer wieder vor, wie sinnvoll es wäre, das Geld für den Mietzins lieber in Kreditraten für ein Eigenheim zu investieren. Denn gleich neben dem Haus des Fleischermeisters Flicker war vor Kurzem eine Doppelhaushälfte zur Versteigerung ausgeschrieben worden.
Franz blickte Mizzi bei diesen Rechenoperationen, die das Rühren und Pürieren, das Braten und Backen begleiteten, meist verständnislos an. Denn erstens beherrschte er von den Grundrechnungsarten lediglich das Addieren und Subtrahieren halbwegs fehlerfrei; Zins- und Zinseszinsrechnung waren ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Und zweitens hatte er – wahrscheinlich auch deshalb – keinerlei Beziehung zu Geld. Das war insofern nicht weiter schlimm, als er kaum je welches brauchte. Die Dinge des täglichen Bedarfs besorgte seine Frau, die sich ebenfalls um die pünktliche Bezahlung des Zinses kümmerte, und weil Franz weder rauchte noch ins Wirtshaus ging, mangelte es ihm schlichtweg an Gelegenheiten, Geld auszugeben. Da aber ein Mannsbild nach Meinung Mizzis ein Geld zu haben hatte, gab sie ihm, nachdem er seinen Wochenlohn bei ihr abgeliefert hatte, ein paar Schilling ins Börsel. Einfach, damit alles seine Ordnung habe. Meist befand sich am Ende der nächsten Woche derselbe Betrag im Geldbeutel.
Neben dem Widerstand des Ehegatten galt es für Mizzi ein weiteres Problem zu lösen: Die Ersparnisse reichten nicht für die Sicherheitsleistung bei der Versteigerung.
Doch Mizzis Überredungstalent war groß. So gelang es ihr zunächst, ihren Mann dazu zu bringen, seine Puch 200 zu verkaufen. Was ihr dann noch fehlte, waren zwei Gutsteher. Als Erstes wandte sie sich an ihre Eltern. Die Mutter gab gegenüber der Bittstellerin zunächst einmal ihren Standardsatz zum Thema Geld zum Besten: Ehs, ehs, mit engan Göd. Ehs werd’s scho no sehn: Des wirkliche Ölend fangt dort an, wos Göd nix mehr nutzt.
Der Vater konnte immerhin mit dem guten Rat helfen, sich an einen entfernt verwandten Baumeister zu wenden, den man nach dem Erwerb des Hauses mit den notwendigen Sanierungsarbeiten beauftragen könnte. Nachdem Mizzi dessen Zusage in der Tasche hatte, machte sie ihrem Mann klar, dass auch seine Familie einen Beitrag zum Eigenheim leisten müsste. Also gingen die beiden zu Heinrich Schindl.
Ich kann euch nicht helfen, tut mir leid, antwortete er, nachdem Franz sein Anliegen vorgebracht hatte.
Aber Vater, du hast doch genug Geld am Büchl. Deine Ersparnisse würden wahrscheinlich sogar für den Rufpreis reichen.
Woher willst denn du das wissen, du Bamschabel?
Ich kann’s mir ausrechnen. Oder besser gesagt, die Mizzi hat das ausgerechnet.
Ah, die Mizzi hat sich das also ausgerechnet. Ist ja interessant!
Heinrich dämpfte behutsam seine Virginier aus und steckte den Rest zurück ins Etui.
Was meine Schwiegertochter nicht alles weiß!
Ja, ich weiß so allerhand. So weiß ich zum Beispiel auch, was damals in der Wirtschaftskrise mit deinem Ersparten passiert ist.
Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.
Du kannst dich also nimmer mehr an den Schwarzen Freitag erinnern?
Ja, freilich kann ich mich an den Schwarzen Freitag erinnern.
Dann müsstest du dich aber auch noch daran erinnern können, wie viel Geld du damals vom Steiner Anton bekommen hast, als er dir die Hälfte eures Hauses abgekauft hat?
Heinrich Schindl hatte gemeinsam mit seinem Schwager ein Haus gebaut, das beide Familien bewohnt hatten. Als jemand, der sich nicht gern um Papierkram kümmerte, hatte er darauf vergessen oder verzichtet, sich anschreiben, also ins Grundbuch eintragen zu lassen. In den ersten Wochen der Weltwirtschaftskrise hatte ihm der Schwager ein Kaufangebot für die Immobilie gemacht, die ihm von Rechts wegen ohnehin gehörte.
Ganz genau weiß ich das heute nimmer; aber es waren ein paar Millionen Gulden, glaub ich.
Jetzt sprang Franz in die Bresche, die seine Frau eröffnet hatte. Und was hast du dann ein paar Monate später für das viele Geld kaufen können, Vater?
Dschingis Khan presste die Lippen aufeinander, unwillig drehte er den Kopf zur Seite, trotzig schloss er die Augen.
Na geh, Vater, du hast mir die Geschichte so oft erzählt, dass ich jedes Wort auswendig weiß. Muss ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?
Nein, Bub, das ist nicht nötig.
Dann sag es der Mizzi!
Ein Simperl voller Semmeln, murmelte der alte Mann.
Ein was?, fragte Mizzi.
Ein Simperl. Ein Brotkörberl.
Siehst, Schwiegervater, darum is es gscheit, dass wir das Haus in der Feldgasse ersteigern. Häuser behalten auch in schlechten Zeiten ihren Wert. Du brauchst auch gar kein Geld vom Büchl abheben. Es genügt, wenn du uns für viertausend Schilling gutstehst.
Ah, eh nur für viertausend Schilling!, höhnte Heinrich, dann bin ich ja beruhigt.
Komm, Vater, denk an den Franzi. Gib dir einen Ruck!
Na, also meinetwegen. Für den Buben will ich es tun. Auch wenn ich sicher bin, dass das Geld verloren ist. Weil, wenn die Bank einmal ihre Finger auf meinem Büchl hat, kann ich’s gleich abschreiben.
Wenige Wochen später erhielt Franz dank der bestehenden Bürgschaften tatsächlich den Zuschlag und war damit Hausbesitzer. Mizzis wirtschaftlichem Geschick war es zu verdanken, dass die Rückzahlung der Kreditraten problemlos funktionierte: Denn statt sich in dem großen Haus zu dritt breitzumachen, ließ sie mithilfe des Baumeisters zwei weitere Wohnbereiche abtrennen, für die sie innerhalb kürzester Zeit Mieter fand. Auf diese Weise finanzierte sich die Anschaffung fast von selbst. Das Geld, das von ihrem Lohn am Ende der Woche nach Abzug der Raten für das Haus und für das Radio übrig blieb, lieferte die junge Frau weiterhin gewissenhaft jeden Samstagabend bei ihren Eltern ab.
An einem Montag Anfang des Jahres 1938 suchte der Kaufmann Egon Kollmann überraschend seinen ehemaligen Kollegen Franz Schindl auf. Er war aufgebracht und behauptete, dass Mizzi am vergangenen Samstag die Rate für das Radio nicht bezahlt hätte. Deshalb forderte er Franz auf, den ausständigen Betrag innert zwei Tagen zu begleichen, anderenfalls würde er das Gerät wieder zurücknehmen. Als Mizzi an diesem Abend von ihrer Schicht nach Hause kam, setzte es zunächst eine Ohrfeige.
Der Egon war heute da! Du hast die letzte Rate nicht bezahlt! Unser guter Name steht auf dem Spiel! Wo ist das Geld? Sicher hast du es zu deinen Eltern getragen!
Ich weiß nicht, was du meinst, Franz! Ich hab die Rate pünktlich bezahlt. Ich schwör’s dir!
Der Egon sagt, du hast das Geld nicht gebracht!
Ach so, du glaubst also diesem jüdischen Halsabschneider mehr als deiner Frau?!
Das vorläufige Ende der Geschichte war, dass Franz am nächsten Tag seinen Canossagang in das Geschäft des Egon Kollmann antrat und wortlos zehn Schilling auf den Ladentisch legte. Obwohl damit den Gesetzen des geregelten Geschäftslebens Genüge getan und die Unversehrtheit der gesellschaftlichen Fassade wiederhergestellt worden war, nisteten sich bei Franz in den darauffolgenden Tagen Zweifel an der Redlichkeit seines ehemaligen Kollegen ein. Zu flehentlich waren die Beteuerungen Mizzis gewesen, zu überzeugend ihre Tränen. Doch es stand nun eben einmal das Wort eines Mannes gegen die Worte einer Frau.
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