Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein
über sich empfinden und diese allmählich höher und höher einschätzen lernen. Der Trieb der Selbsterhaltung würde ihn dann zur Verehrung und Anbetung dieser Macht durch Worte und Taten führen. Irregeleitet, würde der Mensch zunächst nicht eine Macht annehmen, sondern viele Mächte, und sie in dem lokalisieren, was für ihn besondere Bedeutung hat, also in Sonne, Mond, Feuer, Sturm, Gewitter, Strom, Meer u. a. Man kann sehr vieles für diese weitverbreitete Ansicht vom Ursprung der Religion beibringen. Das Gefühl einer Übermacht über sich ist schon im Tierreich vorhanden; ein kleines schwaches Mädchen kann den stärksten Hund zum hündischen Gehorsam zwingen, wie wir ja zu unserm Vergnügen oft genug sehen; der Hund hat ein Gefühl von der Übermacht des Menschleins. Dahin gehören auch solche Tatsachen aus dem Tierleben, die mit ihrem eigenen Gesellschaftsleben zusammenhängen, wenn einem Individuum selbstverständlich die Übermacht zuerkannt wird, wie bei den Bienen. Auch das Verhalten der Blattläuse gewissen Ameisenarten gegenüber dürfte auf dem Gefühl einer Übermacht beruhen; denn ohne Widerstand zu leisten und ohne einen Fluchtversuch selbst dann zu machen, wenn sie beflügelt sind, lassen sich diese Insekten von den Ameisen in deren Heim schleppen und tragen, wo sie, wie bei den Menschen das Vieh, gehegt und aufgezehrt werden. Fast denkt man an das Verhältnis des Volkes zu wilden Häuptlingen oder sinnlosen Despoten. Ist das Gefühl der Übermacht beim Menschen nur auf dem der Furcht gegründet, so würde es sich wenig von dem der intelligenteren Tiere unterscheiden. Aber beim Menschen soll noch hinzukommen, daß er auch Hoffnung auf Gutes und Erwartung von Gutem für sich auf diese Übermacht gründet. Und das wäre freilich etwas, das im Tierreiche wohl nur selten gefunden wird. Die Beispiele von Hunden, die allerhand Künste vollführen in Erwartung einer Belohnung, von Vögelchen, die auf den Ruf eines, der ihnen Samen oder Bröckchen bietet, ihm beliebig auf Hand und Schulter fliegen, dürfen, glaube ich, hier nicht angeführt werden. Es sind Erfahrungen, denen die Tiere, namentlich im Zustand der Domestikation, folgen.
Auf dem Wege zur spiritualistischen Ansicht von der Entstehung der Religionen treffen wir die Behauptung, daß religiöse Anschauung überhaupt zur Eigenheit des Menschen gehöre, gewissermaßen apriorisch eine Kategorie, ein Regulativ seines inneren und äußeren Lebens bilde. Einen energischen Vertreter dieser Ansicht finden wir in Benjamin Constant, der sie schon im ersten Kapitel seines großen Werkes „De la réligion“ feststellt. Sofern die religiöse Anschauung in der Kategorie der Ursächlichkeit beruht, und diese allerdings eine unumgängliche Vorbedingung unseres inneren und äußeren Lebens bedeutet, könnte man letzteres auch von der religiösen Anschauung annehmen. Daß indessen der Begriff der Ursächlichkeit für sich nicht hinreicht, den Trieb zur religiösen Anschauung zu erklären, darf wohl als sicher hingestellt werden. Es ist zwar richtig, daß die religiöse Anschauung ein Regulativ unseres Lebens ist. Aber es spielt bei ihr noch etwas mit, das durchaus dem Bereiche des Fühlens angehört und für das wir im Begriff der Ursächlichkeit keinen adäquaten Ausdruck finden. Auch die Tiere und selbst die Pflanzen müssen den Begriff der Ursächlichkeit bewußt oder unbewußt (instinktiv, wie wir sagen) besitzen, sonst existierten sie nicht. Aber religiöse Anschauung schreiben wir ihnen doch nicht zu. Ferner gibt es zweifellos Menschen, die jedes religiösen Gefühls gänzlich bar sind, nicht einmal einem Aberglauben huldigen. Soll also religiöse Anschauung in der Tat eine Eigenschaft der Menschenseele sein, so muß sie außer in der Ursächlichkeit noch in anderem eine Wurzel haben, oder nur in diesem anderen. Dieses ist wohl auch die Meinung von Wilhelm Wundt, daß nämlich die Ursächlichkeit für eine rein psychische Entstehung einer religiösen Anschauung nicht hinreicht. Nun haben wir schon früher Furcht und Begehren als die Haupttriebfedern für religiöse Annahmen hervorgehoben. Von diesen Menscheneigenschaften soll aber, als unwürdig, gerade abgesehen werden. Dann würde freilich nichts übrig bleiben als die religiöse Anschauung als eigene Kategorie zu betrachten, wogegen doch sehr vieles spricht, was bei der Vorführung der einzelnen Religionsanschauungen hervortreten wird, wo wir den allerniedrigsten Meinungen begegnen, die jeder Kultur und jeder Menschlichkeit ins Gesicht schlagen. Soll sich aber jene Ansicht auf unsere Idee von Religion beziehen, so ist eben der Begriff Religion viel zu eng gefaßt, und wir brauchen darüber hier noch nicht zu diskutieren.
Endlich die rein spiritualistische Ansicht selbst sieht die Religion als von höchster Macht geoffenbart an. Das kann, absolut genommen, eigentlich nur von der einzigen wahren Religion gemeint sein, denn es ist ja ausgeschlossen, daß eine Offenbarung in mehrerer Gestalt erfolgen kann. Kein Mensch weiß, welches diese einzige wahre Religion ist, jeder gibt die seinige dafür aus. Und irgendein Kriterium zur Entscheidung haben wir nicht. Vergangene und gegenwärtige Geschichte der Religionen schneiden uns dazu jede Möglichkeit ab. Die beliebte Ausrede, daß die Menschen die Offenbarung verdorben hätten, hilft hier nichts, sondern schadet nur. Denn was eine absolute Offenbarung ist, muß mit zwingender Gewalt die Menschen leiten und kann sie nicht zu so furchtbaren Taten führen, wie die religiösen Verfolgungen sie gezeitigt haben. Anders hat eine absolute Offenbarung gar keinen Sinn, denn dem Besten im Menschen widersprechend wird man sie doch nicht gestalten wollen.
Gibt man den Standpunkt des Absoluten auf, so läßt sich über Offenbarung eher reden. Dann wären die Religionen Inspirationen einzelner Menschen oder einzelner Völkerschichten und dürfen darum unvollkommen sein. Die Offenbarung verliert dadurch freilich die Bedeutung, wegen deren sie eigentlich angenommen ist: die absolute Richtigkeit jener betreffenden Religionsanschauung unwidersprechbar zu machen. Sie geht auf den Standpunkt eines jeden menschlichen Einfalls oder Erdenkens oder Fühlens zurück. Dafür haben wir ja allerdings Beispiele, und darunter solche gewaltigster Wirkung und edelster Lehren. Viele aber auch, die absurd und höchst schädlich sich erwiesen haben.
Was ist nun das Ergebnis dieser Betrachtungen? Ich glaube, daß man bei der Untersuchung der Entstehung der Religionsanschauungen, wie in so vielen anderen Fällen, überhaupt nicht rigoros auf diesem oder jenem Standpunkt bestehen kann. Wie die Elektrizität in einem Gewitter aus allen möglichen Vorgängen entstanden sein kann und tatsächlich entsteht, so werden auch die Religionsanschauungen aus den verschiedensten Ursachen hervorgegangen sein. Der Mensch hat ein reichliches Kapital an Eigenschaften und Trieben in seinem Inneren, um sie bald so, bald anders zu kombinieren und in neue Werte umzusetzen. Mitunter ist eines, mitunter ein anderes für seine Ansicht entscheidend. Religionen werden aus allen den vorgenannten, vielleicht aus noch manchen anderen Quellen hervorgegangen sein. Die Entwicklung, die die Religionen genommen haben, weist schon darauf hin, daß sie nicht wohl auf einen Ursprung zurückgeführt werden können, sondern daß bei ihnen verschiedene und mitunter mehrere Momente wirksam gewesen sind. Auch haben sich viele Religionsforscher gezwungen gesehen, einerseits niederen Anschauungen auch höhere Momente zuzugestehen, andererseits in höheren auch niedrige anzuerkennen. Eine wirkliche „Philosophie der Religion“ müßte alle Momente in Betracht ziehen und ihren Einfluß in den einzelnen Religionen verfolgen. Aber dazu mangeln uns nur allzusehr die Kenntnisse, sobald wir aus der geschichtlichen Kulturwelt heraustreten. Es ist nicht Aufgabe dieses Buches, hierauf genauer einzugehen, auf einzelnes und auf andere Theorien wird jedoch noch oft genug hingewiesen werden.
8. Allgemeine Belebung.
Gehen wir nun zu den einzelnen Religionsformen über, so scheint in der Tat die von Max Müller angenommene physische Religion die ursprünglichste zu sein, jedoch in ganz niedriger Bedeutung. Über die Stufe der stumpfen Selbstverständlichkeit erhoben, wird der Mensch in allem, was ihn umgab, etwas gesehen haben, das wir allerdings am besten unbestimmt als Agens, Tätiges, Handelndes, Wirkendes bezeichnen können. Namentlich in den Vorgängen wie Flamme, Sturm, Gewitter, Regen usf. wird dieses zunächst geschehen sein, dann auch in den Gegenständen. An den Tieren war eine derartige Betrachtung selbstverständlich, ihre Ausdehnung auf Bäume, Blumen, Gräser konnte folgen. Dann mögen fließende oder wogende Gewässer und zuletzt Berge, Felsen, Steine an die Reihe gekommen sein. Es ist mißlich, solche Serien ex post aufzustellen, da bei besonderen Völkern vieles von ihrer besonderen Umgebung abhängig gewesen sein wird. Dazu ist zu beachten, daß auf Menschen, wie übrigens auch auf Tiere, Gegenstände besonderer Art und unter besonderen Umständen auch eine besondere Wirkung ausüben, wie überhängende Felsen oder Steine in ebener Gegend, Bäume gewundener oder übermäßiger Gestalt, Dämpfe aus der Erde aufsteigend usf. Kein Hund hält einer Selterwasserflasche stand, die man vor ihm aufknallen läßt, und überhängende oder fast schwebende Steinplatten sind selbst einem beherzten Manne ungemütlich. Also