Eine Urlaubsliebe. Ewald Arenz
zuallererst an meinem Tisch gebettelt hatte, aber irgendwie nahm ich mehr Anteil an dieser Geschichte, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Der Tag meiner Abreise kam näher, und auch die unvergleichlichen Farben Apuliens begannen durchsichtiger zu werden. Der Herbst war da. Am vorletzten Tag schließlich kam zum ersten Mal seit einer Woche der Mann wieder alleine zum Frühstück. Er sah übernächtigt aus, und vielleicht hatte er sich mit seiner Frau gestritten, denn er grüßte nur mürrisch in meine Richtung. Bevor er sich setzte, sah er sich um. Richtig. Jetzt bemerkte ich es auch. Der Hund war nicht da. Der Mann stand tatsächlich noch einmal auf und ging vor dem Hotel auf und ab, doch der Hund war nirgends zu sehen. Als er zurückkam, zuckte ich teilnehmend die Schultern.
»Vielleicht hat er einen anderen Frühstückstisch gefunden«, versuchte ich ihn mit einem Scherz zu trösten, wie es Fremde eben so tun. Der Mann schüttelte den Kopf. Auf einmal sah er sehr traurig aus.
»Er ist immer gekommen«, sagte er bestimmt, »vielleicht ist er überfahren worden. War meine Frau schon hier?«, fragte er dann übergangslos.
Ich war überrascht.
»Oh«, sagte ich, »nein. Ich dachte, sie wäre vielleicht noch im Zimmer.«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er knapp, »wir … wir haben uns gestritten. Wegen des Hundes. Wäre wohl gar nicht mehr nötig gewesen.«
Er deutete auf den leeren Platz unter seinem Tisch, wo sonst der Hund lag. Ich hätte gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber er hatte sich schon abgewandt und ging auf seinen Tisch zu. Zum Glück hatte ich schon gefrühstückt, und deshalb brach ich gleich jetzt zu meinem letzten Ausflug über Land auf. Ich hatte keine Lust, mir die Stimmung durch das unglückliche Ende einer Dreiecksbeziehung verderben zu lassen, von der ich nicht einmal ein aktiver Teil war.
Spät am Abend kam ich zurück und sah im Vorbeigehen halb erleichtert, halb bedauernd, dass die Stühle der Terrasse bereits aufgeräumt waren und der Tisch hochkant gestellt war. Das Paar war wohl schon abgereist. Unter dem Tisch stand eine vergessene Untertasse, in der noch immer etwas Wasser war. Auf eigenartige Weise rührte dieses kleine Überbleibsel einer besonderen Urlaubsliebe mein Herz an wie ein Lied aus halb vergessenen Zeiten, und an diesem Abend trank ich an der Bar mehr als sonst.
Am nächsten Tag kam ich später in die Lobby als sonst. Obwohl es Samstag war und damit ein Tag des Bettenwechsels, war es doch sehr ruhig im Frühstücksraum. Ich aß ein wenig Toast, las zerstreut ein wenig Zeitung und sah viel aus dem Fenster. Abschied, dachte ich. Aber dann sah ich zu meinem großen Erstaunen meinen bärtigen Freund, wie er das Auto vorfuhr. Seine schöne, weißhaarige Frau wartete mit den Koffern am Eingang. Ich zögerte kurz, aber dann stand ich doch auf, um hinauszugehen. Wenigstens verabschieden wollte ich mich von ihnen.
Irgendwie hatte ich ja mit ihnen gefühlt und war über sie zu einem entfernten Freund des kleinen Streuners geworden, der jetzt wohl irgendwo in einem Straßengraben lag. Ich trat zum Auto.
»Gute Reise!«, wünschte ich der Dame.
»Danke«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, die ich so warm fand.
»Ich … es tut mir leid wegen des Hundes«, sagte ich noch schnell und sehr verlegen.
»Ach«, sagte sie lächelnd und hob einen großen Weidenkäfig hoch, aus dem ein müdes, aber wohlbekanntes Winseln zu hören war, »es geht ihm schon viel besser!«
Ich war vollkommen verblüfft. Ihr Mann hatte jetzt geparkt und war ausgestiegen. Er sah vergnügt aus und sehr viel besser als am Tag zuvor.
»Aber«, stotterte ich, »ich dachte …?!? Sie nehmen ihn mit? Sie nehmen ihn wirklich mit?«
Der Mann sah mich lachend an.
»Ja!«, sagte er, »meine Frau hat ihn kastrieren lassen. Gestern, statt mit mir zu frühstücken. Ein hoher Preis«, grinste er plötzlich bübisch, »den die beiden da bezahlt haben, damit er ein Zuhause bekommt. Und meine Frau ihren Don Corleone!«
»Don Corleone«, lächelte ich und beugte mich vor, um noch einmal zu dem kleinen Hund hineinzusehen und mich von ihm zu verabschieden.
»Scheint, als ob alle Verletzungen heilten«, murmelte ich ihm ins Ohr.
»Wie bitte?«, fragte die Dame etwas überrascht.
»Nichts«, sagte ich, »gute Reise!«
Und dann ging ich zurück an meinen Tisch. Ich hatte plötzlich einen gewaltigen Hunger.
Bücherliebe
1
Es war ein Regentag im späten Frühling, ein leerer Samstagnachmittag. Sie wanderten ziellos durch verlassene Straßen und wurden ein bisschen nass, aber das machte gar nichts.
»Eigentlich«, sagte er zur Baroness, die seit über zehn Minuten mit einem Taschenschirm kämpfte, »kann man eine Stadt nur an verregneten Nachmittagen wirklich kennenlernen.«
»Ja«, sagte die Baroness trocken und fluchte über den Regenschirm, genauso wie den Geliebten. »Im Sommer ist nämlich alles schön. Es sind die trostlosen Regentage, an denen man weiß, ob man mit ihnen zurechtkommt.«
»Ihnen?«, erkundigte er sich vorsichtig. »Wen meinst du? Und warum die Mehrzahl?«
Die Baroness antwortete nicht, sondern war an eine Mülltonne herangetreten, hatte den Deckel geöffnet, hielt den Schirm darüber und teilte ihm ernst mit: »Das ist jetzt deine letzte Chance. Öffne dich.«
Der Schirm erkannte entweder die Gefahr nicht oder war der Ansicht, dass man für seine Überzeugungen sterben sollte. Er entfaltete sich auch diesmal nicht, als die Baroness den Knopf drückte.
»Na gut«, sagte sie knapp, »Tschüss für immer.«
Der Regenschirm fiel dumpf in die Tonne. Dann wandte sich die Baroness an ihren Begleiter.
»Die Stadt und den neuen Geliebten. Denn, wenn sie bei schlechtem Wetter nicht funktionieren …« Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll zur Mülltonne.
Er musste lächeln.
»Mein Lieb’«, sagte er dann in gefasstem Ton, »ich bin nicht dein neuer Geliebter.«
»Das stimmt«, unterbrach sie ihn herzlos, »du bist alt!«
Er hob nun den Zeigefinger und sah streng aus: »Lass mich ausreden, undankbares Stück, das ich erst aus der Gosse auflesen musste …«
Die Baroness riss in gespielter Empörung Augen und Mund auf und heuchelte Fassungslosigkeit, aber dann musste sie lachen und hakte sich bei ihm unter. Er legte schnell den regennassen Zeigefinger erst auf seine, dann auf ihre Lippen. Ein Fernkuss. So war alles zwischen ihnen. Der Ton. Die Unterhaltungen. Die Namen und die Sprache. Die Baroness hatte natürlich einen bürgerlichen deutschen Namen, wie es sich für eine Studentin der Philosophie gehörte. Am Anfang war es so eine heimliche Liebe gewesen, von der keiner wissen durfte, daher kam es wohl, dass er »Peter« genannt wurde und sie »Baroness«. Vielleicht war es aber auch nur des Spielens und der Bücher wegen. Es war so eine Liebe, die sich vor allem aus der Sprache nährte. Wenn sie sich nicht hatten sehen können, hatten sie sich geschrieben. Hunderte von SMS. E-Mails. Chats. Er, dessen erste Verliebtheit in eine Zeit gefallen war, in der es das alles noch nicht gegeben hatte und man in erster Linie stundenlang in Telefonzellen gestanden war, um miteinander zu reden und zu schweigen, staunte manchmal darüber, wie sehr das geschriebene Wort wieder zum Träger von Liebe geworden war. Und aus der Kürze, die einem SMS aufzwangen, hatte sich eine Grammatik und ein Wortschatz ihrer Verliebtheit entwickelt, die sonst niemand verstand und die sie auch jetzt noch mit großer Lust am Spiel weiterführten. Manchmal konnte ihnen wirklich kein anderer mehr folgen.
»Mage mir?«, fragte die Baroness mit der ganz kleinen Mädchenstimme, über die sie durchaus auch verfügen konnte.
»Mond, Sterne, alles was duftet«, antwortete er liebevoll, aber etwas zerstreut, denn er hatte auf der anderen Straßenseite eine Buchhandlung entdeckt. In einer Buchhandlung hatten