Eine Urlaubsliebe. Ewald Arenz
hielt inne. Ein eigenartiges Gefühl war da plötzlich in ihm; so ein Gefühl, wie man es von nächtlichen Spaziergängen kennt, wenn man auf einmal merkt, dass da jemand hinter einem geht. Wie weit konnten Zufälle gehen? Er hatte ein braun-rot kariertes Jackett. Er konnte sich gerade nicht erinnern, ob er es schon jemals angehabt hatte, wenn er die Baroness gesehen hatte, aber er hatte eines, und so, wie er sie kannte, würde es ihr nicht gefallen. Verunsichert wog er das Buch in der Hand. Zufall? Wie viele braun-rot karierte Durchschnittsjacketts gab es in der Welt? Er schlug es ein ganzes Stück weiter vorne auf und las:
»Die Strömung im Fluss war viel stärker, als sie gedacht hatte. Sie gab sich Mühe, nicht in Panik zu geraten und schwamm in gleichmäßigen, kraftvollen Zügen, aber sie sah am vorbeiziehenden Ufer, wie schnell sie abgetrieben wurde. Die Doppelspitze des Doms verschwand allmählich, als unter der Brücke der Lastkahn auftauchte …«
Er hielt das Buch geöffnet in der Hand. Das sonderbare Gefühl der Beklemmung war jetzt noch stärker. Er erinnerte sich an einen Tag, an dem sie auf einer Brücke gestanden waren, Hand in Hand, und ins Wasser gesehen hatten und die Baroness auf einmal leichthin gesagt hatte: »Soll ich dir erzählen, wie ich einmal fast ertrunken bin?«
Und sie war in Köln aufgewachsen. Am Rhein. Peter zwang sich zur Vernunft. Es gab auch in anderen Städten einen Dom. Jeder war schon einmal fast ertrunken, weil er leichtsinnig im Meer oder im Fluss geschwommen war. Zufall. Koinzidenz. Natürlich setzte er jetzt alles in Beziehung zur Baroness, weil der Buchhändler behauptet hatte, in dem Buch stehe ihr Leben. Trotzig blätterte er fast bis zum Schluss und las:
»Der Friedhof war voller blühender Bäume und der kühle Aprilwind bewegte die jungen Blätter wie …«
Erschrocken, hastig und mit einem Gefühl wie von plötzlicher Scham klappte er das Buch zu. Wenn, nur einfach mal so gedacht, wenn in dem Buch wirklich ihr Leben stand, wollte er dann wissen, in welchem April es endete? Wollte er das wirklich wissen? Wollte er wissen, was mit ihnen beiden geschah? Wollte er wissen, was ihre Zukunft war und seine, so lange sie mit ihm war, und schließlich: Ob es überhaupt eine gemeinsame Zukunft gab?
Es war jetzt ganz Nacht geworden. Neumond, und der Himmel schwarz. Peter löschte das Licht und stand im Dunkeln, immer noch das Buch in der Hand. Las sie gerade sein Leben? Sie war so neugierig … Und er? Sollte er wissen, was mit ihr geschah? Und was geschehen war? All die kleinen Geheimnisse, die man so hat? Die vergangenen Geliebten, die alten, nur halb vergessenen Lieben? Die Sehnsüchte, die nichts mit einem selbst zu tun hatten? Und wenn sie es las, sollte er dann nicht auch alles über sie wissen? Es würde alle Unsicherheit wegnehmen, die da manchmal zwischen ihnen war. Und er würde wissen, ob sie wirklich liebte. Er müsste ja vielleicht nicht alles lesen. Nur die Kapitel, die ihn angingen. Ob sie las? Ob sie der Versuchung widerstehen würde, und ob sie es überhaupt wollte? Er überlegte, ob er sie anrufen solle, aber dann blieb er doch einfach am Fenster stehen und sah in die Nacht. Irgendwie konnte er jetzt nicht mit ihr sprechen. Er spielte unentschlossen mit dem Buch. Die Baroness. Roman. Dann, mit plötzlicher Entschlossenheit, warf er das Fenster zu und machte in der ganzen Wohnung Licht.
3
Im Sonnenlicht eines richtigen Frühlingstages hatte der Buchladen nicht mehr Zauber als ein Buchladen eben hat, aber dafür sah er jetzt viel freundlicher aus als noch vor drei Tagen. Der alte Parkettboden leuchtete dort, wo die Sonne durch die Fenster hereinfiel, und wie in allen Buchläden glitzerte der Staub in den Lichtbahnen. Die Tür war offen gestanden, als Peter eingetreten war, und so lag der typische Geruch jedes Buchladens nach Papier und ein wenig nach Leinen von den Buchrücken neben den Blütengerüchen von draußen nur wie eine Erinnerung in der Luft. Peter stand in der Mitte des Raumes, hatte das Buch in der Hand und wusste nicht genau, wie er sich fühlen sollte. Es war kein sehr schönes Wochenende gewesen. Sie hatten nicht einmal telefoniert, es war, als hätten die beiden Bücher ihnen mit einem Mal die Sprache genommen. Er hatte die Baroness nicht anrufen können; eigentlich wusste er selbst nicht, wieso. Aber drei Tage Schweigen – das hatten sie bisher noch nie gehabt.
Wieder war der Besitzer nicht zu sehen, und Peter trat ziellos zu den Regalen und sah sich die Bücher an, die dort standen. Die Klassiker in Leinenbindung hier: Goethe, Hesse, Schiller, Mann. Im Regal daneben die leuchtend bunten Taschenbücher mit modernen Titeln wie Seide, Schnee oder Tausend Sachen, die man bei Frauen falsch machen kann! Peter verzog den Mund zu einem halben Lächeln. Davon kannte er auch ein paar. Unschlüssig streifte er zwischen Regalen und Tischchen hin und her, nahm mal dieses, mal jenes Buch auf und wartete höflich, dass sich der Ladenbesitzer zeigte.
»Ach«, kam es aus der Tür zum Nebenzimmer, »sehen Sie, Sie sind doch wiedergekommen.«
Der Ladenbesitzer hatte diesmal kein Glas Wein, sondern eine ziemlich gebraucht aussehende, sehr große Kaffeetasse in der Hand, aus der er angelegentlich einen Schluck nahm, bevor er boshaft fragte:
»Ist meine böse Kundenfangstrategie aufgegangen? Wollen Sie jetzt doch Bücher bei mir kaufen?«
Peter antwortete nicht gleich, sondern sah den Mann sehr aufmerksam an.
»Nein«, sagte er dann langsam, »eigentlich wollte ich kein Buch kaufen. Ich wollte wissen …« Er hob das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten und das ihn drei Tage lang gequält hatte, »… ich will eigentlich nur … also, was ich wirklich wissen will, ist …«
Der Buchhändler unterbrach ihn.
»Beim letzten Besuch haben Sie viel mehr geredet. Was für eine heilsame Kraft Literatur doch haben kann. Also, was genau wollen Sie wissen?«
»Na, das würde auch mich interessieren«, kam es vom Eingang. Peter drehte sich um. Da stand die Baroness. Im Morgenlicht leuchtete ihr Haar. Peter fühlte einen kleinen Stich, als er sie ansah.
»Hallo«, sagte er.
»Selber Hallo«, sagte sie kurz und trat jetzt auch ein. Der Buchhändler hob bloß halb die Hand als Zeichen, dass er sie wiedererkannte, trank aber sonst nur einen Schluck Kaffee und wartete ab. Die Baroness musterte Peter.
»Du siehst aus wie Dresden im April ’45«, sagte sie dann. »Schlecht geschlafen?«
Es klang sorgfältig neutral, und Peter hätte nicht sagen können, ob das eine echte Bosheit war oder ob sie sich einfach an ihrem gewohnt leichten Ton festhielt.
»In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf«, gab er zurück und lächelte schief, »aber so ganz wie der strahlende Morgen siehst du auch nicht aus, mein Herz.«
Sie nickte kurz, aber sie lächelte nicht, und so wusste er nicht, was sie dachte. Ihre Blicke trafen sich, und sie sahen sich eine ganze Zeit lang schweigend an. Er hatte das Buch in ihrer Hand natürlich ebenso gesehen wie sie das seine. Er fragte sich, ob sie ihn so ansah, weil sie das Buch gelesen hatte, und im selben Augenblick wurde ihm klar, dass sie sich das auch fragen musste, egal, ob sie seinen Roman jetzt gelesen hatte oder nicht.
»Na«, sagte sie dann schließlich unvermittelt, »was wolltest du den Herrn fragen?«
Der Buchhändler hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
»Ich«, setzte Peter an, aber dann unterbrach er sich selbst. »Nichts«, erwiderte er dann und streckte dem Buchhändler mit einer plötzlichen Bewegung das Buch hin: »Ich möchte dieses Buch zurückgeben.«
Der Buchhändler nahm es und drehte es ein bisschen hin und her.
»Ich bin keine Leihbibliothek«, sagte er trocken. »Ihr Geld kriegen Sie nicht wieder, das ist Ihnen klar, oder?«
»Das ist mir egal«, antwortete Peter plötzlich sehr erleichtert, »ich bin sogar bereit, ein anderes Buch zu kaufen.«
Die Baroness hatte Peter genau beobachtet. Impulsiv trat sie einen Schritt vor.
»Ich gebe meines auch zurück«, sagte sie und legte es auf die Theke.
»Ich kann dann bald ein Antiquariat aufmachen«, meinte der Buchhändler ungerührt, aber man hatte den Eindruck, dass ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Hat es Ihnen nicht gefallen? Nicht spannend genug?«