Eine Urlaubsliebe. Ewald Arenz
unmöglich hohen Metallzaun passierten und ich sah, wie ein Fallgatter das Tor nach dem Bus sofort wieder verschloss. Wir fuhren jetzt durch ein neues Gelände auf ein Gebäude zu. Hypermodern; kein einziger rechter Winkel; es sah aus wie ein bunter, verzerrter Kubus, gemischt mit einem griechischen Tempel. Vor der Freitreppe hielten die Busse. Wir stiegen aus und wurden zu den aufgestellten Stühlen geführt. Ziemlich weit vorne. Dann redete irgendjemand. Und dann noch einer. Und dann war ich völlig baff, weil nämlich meine Mutter aufstand und zum Rednerpult ging. Die Frau überraschte mich täglich mehr. Vor allem, weil sie das ziemlich gut machte. Sie redete von Fortschritt und einem Traum, der in Erfüllung gegangen sei und so. Seltsam, dass sich so etwas immer ganz anders anhört, wenn mit dir noch hundertfünfzig Leute zuhören. Und dann klatschten die Leute, und die riesigen Flügeltüren aus buntem Glas gingen auf, und die Leute strömten in die Halle. Und da passierte, was ich vorher und hinterher nie wieder erlebt habe, und was mir schon Stöße durch den Magen jagte, als ich noch gar nichts sehen konnte: Die Leute waren alle still geworden. Man hörte nichts als die Schritte der Leute und das Schurren und Rascheln der Kleider. Ein Geruch war in der Luft, der völlig fremd war, scharf und gefährlich. Man hörte gar nichts mehr, als dann die Abdeckungen der Oberlichter zur Seite fuhren und plötzlich zehn, vierzehn Lichtsäulen staubtanzend im Saal standen und zeigten, was es zu sehen gab. Nichts hörte man, außer dem scharfen, plötzlichen Einatmen von über hundert Menschen.
Hier waren Märchen wahr geworden. In solchen Augenblicken denkt man nicht, weil man nur sieht, riecht, lauscht.
Es gab keine Käfige. Die Stäbe waren durch Induktionsfelder ersetzt worden. Nichts hinderte den Blick auf den Vogel Roch, der, gigantische fünf Meter groß, auf einem querliegenden Birkenstamm hockte. Nichts trennte von dem Einhorn, das – von ätherischer Eleganz – verloren im Stroh stand und sein Horn verwirrt und knisternd durch das Induktionsfeld hin und her schwenkte. Und nichts trennte schließlich von einer Sphinx, deren weit, weit ausladende Flügel die Luft bewegten, der Löwenkörper leicht und schmal, muskulös; das Gesicht wie unter dem Altar, den wir in der Lorenzkirche gesehen hatten.
Ich klatschte nicht mit, als der Applaus unvermittelt losbrach und die Tiere von dem plötzlichen Lärm herumgerissen wurden, panisch. Die Induktionsfelder knisterten unerträglich scharf, und es roch nach Ozon. Ich drängte nach hinten auf den Ausgang zu, aber ich musste mich immer wieder nach den Tieren umdrehen. Heute bin ich vielleicht anders. Ich weiß es nicht. Aber damals, als ich fünfzehn war, waren die Tiere so schön, dass es mir im Herzen wehtat und ich nicht richtig atmen konnte. Und mitten im Kreis der lachenden, klatschenden Menge stand meine Mutter, lachend auch sie, gefeiert und fremd.
Ich wanderte vom Tiergarten in die Stadt zurück. Der Wärter hatte mich ohne Weiteres herausgelassen. Der Neid der Menge, die noch immer vor dem Eingang in der Sonne wartete, machte mir keinen Spaß mehr. Und ich hatte das Bild meiner Mutter vor Augen, wie sie lachend und glücklich zwischen den gefangenen, entsetzlich einsamen Märchentieren stand.
»Tin-tin, Philipp!«, sagte Rina, als ich kam und sie schon auf der Burgmauer gewartet hatte.
»Tin-tin«, sagte ich und freute mich. Ich weiß heute noch, wie sie damals lachte, ein wenig heiser, und das gefiel mir.
»Was wollen wir machen?«, fragte sie. »Sollen wir hierbleiben?«
»Du wohnst doch hier«, sagte ich, »zeig mir die Stadt.«
Sie sprang von der Mauer.
»Alles an einem Tag?«
»Alles an einem Tag!«, sagte ich.
Wir fingen am Burggarten an, und dann wanderten wir nach Johannis, wo mir Rina einen Garten zeigte, in dem es Zwerge und Wassermänner und Nixen gab. Aber die waren aus Stein und sahen froh aus. Ich erzählte Rina von den Tieren. Sie war fasziniert; mehr, als ich gedacht hatte.
»Deine Mutter?«, fragte sie. Ich nickte widerwillig.
»Kille!«, sagte sie beeindruckt.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil ich das Gefühl nicht verstand, das ich zu den Tieren hatte. Ich konnte Rina nicht sagen, dass jedes dieser Tiere so ausgesehen hatte, als sei ihm entsetzlich kalt.
Aber dann redeten wir über alles. Mit fünfzehn ist man sich selbst ganz neu. Jeden Tag eine neue Entdeckung; vierzig Kilometer weiter zum Südpol vorgestoßen; man ist ein großes Abenteuer, bei dem man im Packeis erfrieren kann. Darüber redet man. Nie wieder lernt man sich so schnell kennen wie in diesem Alter. Und man glaubt, dass es Schicksal war, dass man sich getroffen hat, weil man Gemeinsamkeiten entdeckt und seine Träume beim Erzählen neu so erschafft, dass sie schon immer auf den anderen passten, dass man schon immer auf den anderen gewartet hat. Man geht spazieren und geht und geht, weil man Angst hat, dass es zu Ende ist, wenn man stehen bleibt.
»Hey«, sagte ich, als es schon Abend war, »hier war ich schon mal.«
»Hier?«, fragte Rina ein bisschen erstaunt. »Hier wohnen die Reichen.«
»Mein Großvater wohnt hier«, sagte ich. Es wurde dämmerig. Dieser Teil der Stadt war wie ein Park. Platanen und Robinien; Sandwege. Ich suchte das Haus und zeigte es Rina. Ein großer Garten. Ein altes Haus mit verfallenden Zäunen um den Garten und dunklen Scheiben, in denen sich glänzend und hell der abendliche Himmel spiegelte.
»Willst du ihn besuchen?«, fragte Rina. Ich schüttelte den Kopf.
»Morgen vielleicht.«
»Morgen ist Mittsommerfest«, sagte Rina zögernd, »ich hab gedacht, dass du vielleicht …«
»Kille«, sagte ich, »klar. Wir können ja zusammen irgendwann dazwischen herkommen. Sollen wir uns wieder an der Burg treffen?«
Rina lachte: »An der Burg? An Mittsommer? Morgen brauchst du Stunden bis zur Burg. Ich kann dich beim Hotel abholen.«
Als wir am Fluss unterhalb des Bades durch den Park zurück in die Stadt gingen, fingen sich unsere Hände. Keiner sah den anderen an. Es war wunderschön.
5
Die Stadt war wie im Rausch. Mittsommerfest. Die Straße ein ohrenbetäubender Korso, der sich an den Cafétischen und -stühlen auf den Gehsteigen entlangschob, lachend, lärmend, trinkend. Überall rasselten Knarren, von Mittsommerhexen geschwungen. Die Plätze öffentliche Ballsäle, der Tanz der Saison war Kataklysma; die Bands hämmerten ihn von Bühnen an jeder Ecke in die tobenden Mengen. Es roch betäubend nach Blüten, Parfum und schwerem Rauch. Nürnberg, Hauptstadt Europas in diesem Jahr, feierte den Mittsommer ’68. Rina hatte mich abgeholt. Ich hatte sie bisher nur in Hosen gesehen, aber jetzt trug sie wie alle anderen Frauen und Mädchen das Mittsommerkleid. Sie war schön.
»Tin-tin«, schrie sie lachend durch den Lärm, »frohen Mittsommer!«, und küsste mich auf beide Wangen. »Frohen Mittsommer!«, schrie ich und küsste zurück. Was für ein Fest! Mittsommer war auch bei uns wunderschön, aber so etwas wie in Nürnberg hatte ich noch nie erlebt. Die Autos! Wer eins hatte, und das waren bestimmt Hunderte, hatte es mit Blumen geschmückt und fuhr hupend und singend und mit dröhnender Musik den Ring entlang. Die Leute hingen aus den Fenstern und saßen auf den Dächern. Die Stadtbahnen hatten offene Wagen angehängt, auf denen Bier und Wein ausgeschenkt wurde; den Ring entlang war die Mauer mit Blumengirlanden geschmückt. Wir ließen uns treiben und schieben. Fliegende Händler mit Getränken zu irren Preisen, meist Inder oder Chinesen, drängten sich geschickt durch die Menge. Tanzen! Überall wurde getanzt. Es war, wie ich mir den Karneval in Brasilien vorstellte. Alles lachte, schrie, sang. Und wir mussten uns an den Händen halten, sonst hätten wir uns längst verloren. Wir ließen uns an der Lorenzkirche vorbei nach unten zum Hauptmarkt schwemmen, über dem in fünfzehn Metern Höhe eine Bühne an Kränen hing; Lascivity spielten dort. Ich wäre gern ein wenig geblieben, aber Rina zog mich weiter. Überall in der Menge konnte ich es glitzern sehen, wenn jemand eine Prise in die Luft warf, um sie einzuatmen, aber die berittenen Polizisten, die rings um den Markt postiert waren, hatten keine Chance, durch die Menge zu kommen, und sahen heute vielleicht auch einfach weg. Auf dem Fluss trieben lange Flöße gemächlich nach Westen; auf ihnen wurde gegrillt, gebacken und ausgeschenkt; die Menschen sprangen in den Fluss und schwammen zu ihnen hin, aßen oder tranken