Eine Urlaubsliebe. Ewald Arenz
Am Morgen nach unserer Ankunft wachte ich auf, wie ich immer aufwachte, plötzlich; hatte noch ein paar Traumfetzen im Kopf und merkte schon durch die geschlossenen Lider, dass die Sonne schien. Das Fenster war offen, und von unten hörte ich das Rauschen der Stadt; erregend, und das wilde Durcheinander von Tönen war ein einziges Versprechen. Ich stellte mich schlafend, als meine Mutter neben meinem Bett stehen blieb, bevor sie ging; genoss ihr Parfum und dass sie mich wohl ansah, bevor sie ging. Dann klappte die Zimmertür, und ich war allein!
Duschen. Keiner sagt: »Hey, lass mal noch ein bisschen Wasser übrig.«
Alleine im Hotel frühstücken. Der Kellner bringt alles. Milch in einem Glas, das beschlägt, während es gebracht wird. Kühles Obst. Und – ohne Wimpernzucken – ein Glas Sekt. Draußen der Sommer. Der Vormittag. Die Stadt.
Ich denke manchmal, dass dieser erste Tag der schönste war. Der Tag, an dem ich durch die Stadt wanderte und hinter allem, was ich sah, ein Anderes war, mehr; jedes Haus und jeder Mensch ein Versprechen; jede Aussicht ein Tor in den verwunschenen Garten; aus jedem Weg sich zehn neue auftaten. Da waren die chinesischen Straßenmusiker, die mit ihren stundenlangen, nie wirklich endenden Zen-Pop-Liedern überall in der Innenstadt zu sein schienen. Und einmal waren da ein E-Saxofonist und ein Gitarrist aus Brasilien. Bei denen saß ich vielleicht eine Stunde und wunderte mich, dass ich jetzt, wo ich doch im Zentrum meiner Sehnsucht saß, mich doch noch fortsehnen konnte, nach einem Brasilien, von dem dieser Mann sang. Später kaufte ich auf dem Markt mein Mittagessen ein. Es war witzig, dass in der Stadt der Genetiker die uralten Verordnungen auf dem Wochenmarkt immer noch galten. Japanische Touristen stellten sich vor den Marktständen unter die vorgeschriebenen Schilder »Genetisch verändert!« und ließen sich fotografieren. Manchmal hatten sie dann noch eine Bananas oder vielleicht auch eine Calla-Chee in der Hand, die sie kaum halten konnten, und zogen wilde Grimassen, als seien sie selbst genetisch verändert. Das fanden sie komisch. Ich kaufte bloß Oliven und Maisbrot und ein paar Tomaten. Tomaten. Meine Mutter sagte immer, dass mit den Tomaten alles angefangen hatte. Die hatten sie zuallererst verändert. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie früher ausgesehen hatten. Tomaten waren schon immer rot.
»Haben Sie auch andere Tomaten, Dom?«, fragte ich höflich.
»Was?« Der Gemüsehändler starrte mich an.
»Na, ungenetische«, sagte ich.
»Die kannst du dir gar nicht leisten, Junge«, grinste der Händler, »biologische kosten das Stück sechs Euro.«
»Ich will sie mal sehen!«, sagte ich. Der Händler bückte sich und holte eine Kiste aus der Kühlung: »Bitte sehr. Aber nur anschauen, nicht anfassen.«
Ich war enttäuscht. Sie waren vielleicht ein wenig kleiner, aber sonst ganz normal.
»Wo ist der große Unterschied?«, fragte ich.
»Sie schmecken nicht nach Tomaten«, grinste der Händler, »sondern …«, er zögerte bewusst.
»Sondern?«, fragte ich.
»Nach Sex«, lachte der schließlich, »die sind fruchtbar. Pflanzen sich fort. Deshalb kaufen sie auch nur … na ja, du verstehst schon.« Er zwinkerte und lachte roh. Ich verstand schon, zumindest in etwa, und wurde rot.
»Danke«, sagte ich rasch und ging schnell weiter. Hinter mir lachte der ganze Marktstand.
Landei!, schimpfte ich mich im Stillen, aber dann musste ich auch lachen. Tomaten!
Später saß ich auf der von der Sonne warmen Burgmauer, aß Maisbrot, Oliven und Tomaten und sah über die westliche Vorstadt ins Weite.
»Tin-tin«, sagte jemand neben mir, »gibst du mir was ab?«
»Tin-tin«, antwortete ich und drehte mich um. Sie stand in der Sonne auf der Mauer, auf der ich saß. Ich musste die Hand vor die Augen halten. Die Sonne schien an den Seiten durch ihr Hemd. Ich nickte und machte eine Handbewegung. Manchmal denke ich, dass ich in der Zeit so viele Gelegenheiten versäumt habe, so oft aus falsch verstandenem Stolz, aus Angst oder Unsicherheit das Falsche getan habe. Aber manchmal, wie zufällig, tut man genau das Richtige, und das war diese Handbewegung. Diesen Nachmittag habe ich neben einem Mädchen auf einer Mauer gesessen. Einen ganzen Sommernachmittag lang. Wir haben zusammen gegessen. Wir haben geredet, so leicht und über so vieles, wie man das manchmal im Sommer tun kann, wenn man sich nicht gegenüber, sondern nebeneinander setzt und denselben Teil des Himmels im Blick hat. Es war ein Nachmittag, der nicht zu Ende ging.
»Bist du morgen auch hier?«, fragte ich am Schluss.
»Vielleicht«, sagte sie und stand auf, »tin-tin!«
»Tin-tin«, sagte ich und sah ihr zu, wie sie weglief. Und dann saß ich noch viel länger auf der Mauer, denn ich wollte mich nicht bewegen, um mein Glück nicht zu verscheuchen. Erst als immer mehr Menschen in den nun abendlichen Burggarten strömten und es laut wurde, ging ich, wie in einem Lied, durch den unendlichen Sommerabend zurück ins Hotel. Sie hieß Rina.
4
Bevor wir unsere kleine Reise unternahmen, hatte ich mir im Stillen zwei Dinge vorgenommen, die ich in Nürnberg tun wollte: einmal Glitzer probieren und meinen Großvater besuchen. Ich wusste nicht genau, was von den beiden Dingen das Schwierigere sein würde, oder wovor ich mehr Respekt hatte. Glitzer war verboten, und keiner von meinen Freunden hatte es schon mal versucht. Ich hatte vorher nichts zu den anderen gesagt, aber ich stellte mir vor, wie es sein würde, zurückzukommen und ein bisschen Glitzer dabeizuhaben. Und mein Großvater … eigentlich war ich bloß neugierig. Ich vermisste meinen Vater nicht, ich kannte ja nichts anderes, und meistens fand ich es sehr bequem, einfach nur mit meiner Mutter zu leben. Aber ich hatte ein romantisches Interesse für ihn entwickelt und malte mir meine Herkunft manchmal in fantastisch bunten Farben aus. Prinzensohn und so. Mein Vater war das einzige Thema, über das meine Mutter nie, niemals sprach. Und deshalb wollte ich Großvater sehen.
Und nun war das Dritte, das ich mir nicht vorgenommen hatte, sondern wovon ich – vor mir selbst verstohlen – geträumt hatte, geschehen und warf meine Pläne durcheinander. Ich hatte mich verliebt.
An diesem Morgen weckte mich meine Mutter.
»Hättest du Lust, in den Tiergarten zu gehen?«, fragte sie mich, während sie die Vorhänge mit einem Schwung aufwarf. Wieder ein Sonnentag.
»Tiergarten!« In meiner Stimme lag alles an Verachtung für die eben vergangene Kindheit, wie sich nur auf ein einzelnes Wort packen ließ. »Nein, danke!« Ich versuchte mir Rinas Gesicht vorzustellen.
»Vielleicht willst du mit, wenn du weißt, dass die Tiergartenkarten für diesen Tag auf dem Schwarzmarkt für über hundert Euro gehandelt werden. Und dass es für die Eröffnungsveranstaltung überhaupt nur hundertfünfzig davon gibt, von denen ich«, sie wedelte fröhlich mit zwei Streifen, »zwei Ehrenkarten habe. Und die kriegst du auf dem Schwarzmarkt nicht mal für tausend. Up up and away, Sohn!«
»Sind wir mittags zurück?« Ich war hin- und hergerissen zwischen Neugier und dem dringenden Wunsch, am frühen Nachmittag wieder auf der Burg zu sein.
»Yessir!«, sagte meine Mutter und zog mir die Decke weg. »Raus mit dir.«
Sie hatte recht gehabt. Als wir zum Tiergarten kamen, konnten wir schon von ferne die Absperrungen und die blauschwarzen Uniformen der verschiedenen Securitydienste sehen, die den Eingang in zwei Ringen abriegelten. Es war ein äußerst killes Gefühl, durch eine Menge von mindestens tausend Leuten zu gehen, die offensichtlich alles dafür gegeben hätten, an meiner Stelle zu sein.
»Was wird denn eigentlich eröffnet?«, fragte ich meine Mutter leise, während wir von zwei Securities zu einem der drei E-Busse gebracht wurden, die hinter dem Eingang standen.
»Die neue Abteilung«, sagte meine Mutter, »Haustiere in ihrer natürlichen Umgebung.«
»Haha«, sagte ich angefasst, »dann verkaufe ich meine Karte eben.«
»Du wirst es sehen, Jung«, sagte meine Mutter, und ich merkte erstaunt, dass sie ein bisschen nervös war. Drei Minuten später setzten sich die