Aurelia. Gérard de Nerval

Aurelia - Gérard de Nerval


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und sie hintergangen hätte. Meine rührenden Geständnisse übten jedoch einigen Reiz aus, und eine in ihrer Zartheit stärkere Freundschaft folgte auf leere Beteuerungen der Zuneigung.

      Später traf ich sie in einer anderen Stadt zugleich mit der Dame, die ich immer noch hoffnungslos liebte. Ein Zufall hatte sie miteinander bekannt gemacht, und die erstere hatte wohl Gelegenheit, die für mich einzunehmen, die mich aus ihrem Herzen verbannt hatte. So sah ich sie denn eines Tages, als ich mich in einer Gesellschaft befand, zu der auch sie gehörte, auf mich zukommen und mir die Hand reichen. Wie war dieser Schritt zu deuten, wie auch der tiefe und traurige Blick, der ihren Gruß begleitete? Ich glaubte, darin Verzeihung für das Vergangene zu erblicken. Ein Tonfall göttlichen Mitleids verlieh den einfachen Worten, die sie an mich richtete, einen unbeschreiblichen Wert, als ob etwas Religiöses sich in die Süße einer bis dahin weltlichen Liebe mischte und ihr den Charakter der Ewigkeit verliehe.

      Dringende Geschäfte zwangen mich, nach Paris zurückzukehren, aber ich beschloß sofort, dort nur ein paar Tage zu bleiben und zu meinen beiden Freundinnen zurückzukehren. Die Freude und Ungeduld versetzten mich in eine Art Taumel, den die Sorge um die Geschäfte, die ich abzuwickeln hatte, noch verstärkte. Eines Abends stieg ich gegen Mitternacht zu dem Vorort hinauf, in dem sich meine Wohnung befand, als ich zufällig den Blick hob und das Nummernschild eines Hauses bemerkte, das von einer Laterne beleuchtet war. Die Nummer entsprach der Zahl meiner Jahre. Als ich den Blick wieder senkte, sah ich vor mir eine bleiche Frau mit hohlen Augen, die mir die Züge Aureliens zu haben schien. Ich sagte mir: »Ihr Tod oder mein eigener wird mir so angekündigt.« Aber irgendwie versteifte ich mich auf die letztere Annahme und verbohrte mich in den Gedanken, daß das Ereignis am nächsten Tage zur gleichen Zeit eintreten würde.

      In dieser Nacht hatte ich einen Traum, der mich in meiner Meinung bestärkte. – Ich irrte durch ein weitläufiges Gebäude mit mehreren Sälen, von denen einige zum Studium, andere zur Unterhaltung und philosophischen Erörterung bestimmt waren. Ich verweilte interessiert in einem der ersteren, in welchem ich meine alten Lehrer und Mitschüler zu erkennen glaubte. Der Unterricht über die griechischen und lateinischen Schriftsteller ging in jenem eintönigen Gemurmel weiter, das wie ein Gebet an die Göttin Mnemosyne ist. – Ich begab mich dann in einen anderen Saal, in dem philosophische Vorträge gehalten wurden. Ich hörte einige Zeit zu und ging dann hinaus, um in einer Art Herberge mit riesigen Treppen voller eiliger Reisender mein Zimmer zu suchen.

      Wiederholt verlor ich mich in langen Fluren, und als ich eine der zentralen Hallen durchschritt, wurde ich von einem sonderbaren Schauspiel überrascht. Ein Wesen von maßloser Größe – ich weiß nicht ob Mann oder Weib – flatterte mühsam über dem Raum und schien in den dichten Wolken um Halt zu kämpfen. Kraftlos und außer Atem stürzte es schließlich mitten in den dunklen Hof, wobei seine Flügel an den Dächern und Galerien Halt suchten und vorüberstreiften. Ich konnte es einen Augenblick lang betrachten. Es war purpurfarbig, und seine Flügel schillerten von tausend Reflexen. Mit seinem langen Gewand in antiker Fältelung glich es dem Engel der Melancholie von Albrecht Dürer. – Ich konnte nicht umhin, Entsetzensschreie auszustoßen und erwachte jählings darüber.

      Am nächsten Tage beeilte ich mich, alle meine Freunde aufzusuchen. Im Geiste nahm ich von ihnen Abschied, und ohne ihnen zu verraten, was mich innerlich beschäftigte, plauderte ich eifrig über Themen der Mystik. Ich setzte sie durch besondere Beredsamkeit in Erstaunen; es kam mir vor, als ob ich alles wisse und als ob die Geheimnisse der Welt sich mir in diesen letzten Stunden enthüllten.

      Am Abend, als die Schicksalsstunde zu nahen schien, erörterte ich mit zwei Freunden an einem Klubtisch Fragen der Malerei und Musik und erläuterte meine Ansicht über die Entstehung der Farben und den Sinn der Zahlen. Einer von ihnen, namens Paul***, wollte mich heimbegleiten, aber ich sagte ihm, ich ginge nicht nach Hause. »Wohin gehst du denn?« fragte er. »Gen Osten!« Und während er neben mir ging, versuchte ich, am Himmel einen Stern zu finden, den ich zu kennen glaubt; als wenn er auf mein Schicksal Einfluß hätte. Nachdem ich ihn entdeckt hatte, setzte ich meinen Weg so fort, daß ich den Straßen folgte, in deren Richtung er sichtbar war. So schritt ich sozusagen meinem Schicksal entgegen, wobei ich den Stern bis zu dem Augenblick gewahren wollte, in dem der Tod mich treffen würde. Als ich jedoch zur Kreuzung dreier Straßen gelangt war, wollte ich nicht weitergehen. Es kam mir so vor, als ob mein Freund mich mit übermenschlicher Anstrengung fortdrängen wolle. Er wuchs vor meinen Augen und nahm die Züge eines Apostels an. Ich hatte den Eindruck, als ob sich die Örtlichkeit, an der wir standen, emporhöbe und die Formen der städtischen Umgebung verlöre. Auf einem Hügel, den weithin Ödland umschloß, wurde der Vorgang zum Kampf zweier Geister wie in einer biblischen Versuchung. »Nein«, sagte ich, »ich gehöre nicht deinem Himmel. Auf jenem Stern sind die, die mich erwarten. Sie waren vor der Offenbarung da, die du gebracht hast. Laß mich dorthin, denn die, welche ich liebe, gehört zu ihnen, und dort müssen wir uns wiederfinden.«

      Hier hat für mich das begonnen, was ich das Hineinwachsen des Traumes in das wirkliche Leben nennen möchte. Von diesem Augenblick an gewann alles manchmal zwei Seiten, wobei jedoch die Urteilskraft niemals der Logik entbehrte und dem Gedächtnis auch nicht die kleinsten Einzelheiten dessen entfielen, was mir begegnete. Allerdings hing mein anscheinend sinnloses Verhalten von dem ab, was man nach menschlicher Vernunft Illusion nennt …

      Sehr oft bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß in gewissen schwierigen Augenblicken des Lebens ein bestimmtes Geisterwesen der äußeren Welt sich plötzlich in der Gestalt einer gewöhnlichen Person verkörperte und auf uns einwirkte oder einzuwirken versuchte, ohne daß jener Person das zu Bewußtsein kam oder in ihr Gedächtnis einging.

      Mein Freund hatte mich verlassen, da er das Unnütze seiner Bemühungen einsah und mich wohl von einer fixen Idee besessen glaubte, die sich beim Weitergehen verflüchtigen würde. Als ich mich allein fand, stand ich mit Mühe auf und wanderte in der Richtung auf den Stern weiter, den ich nicht aus den Augen ließ. Unterwegs sang ich eine geheimnisvolle Hymne, derer ich mich zu erinnern glaubte, als wenn ich sie in einem anderen Leben gehört hätte, und die mich mit unaussprechlicher Freude erfüllte. Dabei legte ich meine irdischen Kleider ab und verstreute sie um mich. Die Straße schien weiter anzusteigen und der Stern größer zu werden. Dann verharrte ich mit ausgebreiteten Armen und wartete auf den Augenblick, da die Seele magnetisch in den Umkreis des Sterns gezogen, sich vom Körper lösen würde. Dabei fühlte ich einen Schauder; Bedauern überkam mich wegen der Erde und derer, die ich auf ihr liebte, und in mir selbst beschwor ich den Geist, der mich an sich zog, so heftig, daß ich meinte, wieder zu den Menschen herabzusteigen. Eine nächtliche Streife umringte mich. Dabei hatte ich die Vorstellung, sehr groß geworden zu sein und daß ich, von elektrischen Kräften ganz überronnen, alles umwerfen würde, was sich mir entgegenstellte. Es lag einige Komik in der Rücksicht, mit der ich die Kräfte und das Leben der Soldaten schonen wollte, die mich aufgegriffen hatten.

      Wenn ich nicht der Ansicht wäre, daß die Aufgabe eines Schriftstellers darin besteht, rückhaltlos zu analysieren, was er in schwierigen Lebenslagen empfindet, und wenn ich keine Absicht verfolgte, die ich für nützlich erachte, würde ich hier einhalten und nicht versuchen zu schildern, was ich danach in einer Reihe von vielleicht sinnlosen oder gemeinhin krankhaften Visionen erfuhr … Auf ein Feldbett hingestreckt, glaubte ich zu sehen, wie der Himmel sich in tausend Bildern unerhörter Pracht auftat und offenbarte. Das Geschick der befreiten Seele schien sich mir zu enthüllen, wie um mich bereuen zu lassen, daß ich mit aller Kraft meines Geistes wieder auf der Erde hatte Fuß fassen wollen, die ich verlassen sollte. Gewaltige Kreise zeichneten sich im Unendlichen ab wie die Wellenringe, die ein ins Wasser geworfener Gegenstand auslöst. Jeder Bezirk war von strahlenden Gestalten erfüllt, gewann immer wieder Farbe, Bewegung und Form, und eine immer gleiche Gottheit warf lächelnd die flüchtigen Masken ihrer wechselnden Verkörperungen ab und floh schließlich ungreifbar in den mystischen Himmelsglanz Asiens. Auf Grund eines der Phänomene, die jedermann in gewissen Träumen erfahren konnte, ließ mich diese himmlische Vision nicht gleichgültig für das, was um mich herum vorging. Auf einem Feldbett liegend hörte ich, wie die Soldaten sich über einen Unbekannten unterhielten, der wie ich festgenommen worden und dessen Stimme


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