Aurelia. Gérard de Nerval

Aurelia - Gérard de Nerval


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Jahrhunderts sich in einer Minute des Traumes zusammenzieht. Mein Erstaunen wuchs, als ich bemerkte, daß diese ungeheure Ansammlung nur aus den Personen entstand, die sich im Zimmer befanden und deren Bilder sich in tausend flüchtige Erscheinungsformen geteilt und neu verbunden hatten.

      »Wir sind zu siebt«, sagte ich zu meinem Onkel.

      Ich kann nicht hoffen, diese Antwort verständlich zu machen, die mir selber sehr dunkel geblieben ist. Die Metaphysik bietet mir keine Ausdrucksmittel für die Wahrnehmung der Beziehung zwischen dieser Personenzahl und der allgemeinen Harmonie, die sich mir dann aufdrängte. In Vater und Mutter erfaßt man leicht die Analogie zu den elektrischen Kräften der Natur, wie aber soll man die aus ihnen hervorgegangenen individuellen Zentren nachweisen, aus denen sie hervorgehen wie eine kollektive seelenhafte Gestalt, deren Gefüge zugleich vielfältig und beschränkt sein würde. Genausogut könnte man die Blume nach der Zahl ihrer Staubfäden oder der Aufteilung ihrer Blütenkrone fragen, den Boden nach den Gestaltungen, die er bildet, die Sonne nach den Farben, die sie erweckt.

      … Blitzartig offenbarte mir meine Einbildungskraft die mehrfachen Götter Indiens als Bilder der sozusagen ursprünglich zusammengefaßten Familie. Ich schauderte weiterzugehen, denn in der Trinität ruht noch ein schreckliches Geheimnis … Wir sind unter dem biblischen Gesetz geboren …

      Alles um mich wechselte seine Gestalt. Der Geist, mit dem ich mich unterhielt, hatte nicht mehr das gleiche Aussehen. Es war ein junger Mensch, der nunmehr eher von mir Ideen aufnahm, als daß er sie mir mitgeteilt hätte … War ich auf diesen schwindelerregenden Höhen zu weit gegangen? Ich meinte zu begreifen, daß diese Fragen selbst für die Geister der Welt, die ich damals gewahrte, dunkel oder gefährlich waren. Vielleicht verbot mir auch eine höhere Gewalt solche Nachforschungen. Ich sah mich in den Straßen einer volkreichen, unbekannten Stadt umherirren. Ich bemerkte, daß sie voller Hügel war und von einem eng bebauten Berg beherrscht wurde. Unter den Einwohnern dieser Hauptstadt bemerkte ich gewisse Leute, die einer besonderen Nation anzugehören schienen. Ihre Lebhaftigkeit und Entschlossenheit, das energische Gepräge ihrer Züge ließen mich an die freiheitsliebenden und kriegerischen Rassen in Gebirgsländern denken oder die Bewohner gewisser, selten von Fremden besuchter Inseln. Sie wußten jedoch ihre unabhängige Eigenart inmitten einer Großstadt und einer gemischten und gewöhnlichen Bevölkerung zu wahren. Was für Leute waren das nun? Mein Führer ließ mich steile Straßen voller Lärm emporsteigen, die von Arbeitsgeräuschen widerhallten. Wir stiegen weiter lange Treppenanlagen empor, bis der Blick frei wurde. Hie und da spalierumzogene Terrassen, kleine Gartenanlagen auf hergerichteten Flächen, Dächer, leicht gebaute Lauben, die mit einfallsreicher Geduld geschaffene Bemalungen und Schnitzereien schmückten. Ausblicke, die durch weithinziehende Kletterpflanzen verbunden waren, verführten das Auge und ergötzten den Geist wie der Anblick einer köstlichen Oase, einer unvermuteten Einsamkeit über dem Getümmel und den Geräuschen der Tiefe, die nur wie ein Gemurmel heraufdrangen. Man hat oft von geächteten Stämmen gesprochen, die im Schatten von Nekropolen und Katakomben hausten. Hier war es wohl das Gegenteil. Eine glückliche Rasse hatte sich diese Zuflucht geschaffen, voller Vögel, Blumen, reiner Luft und Klarheit. Mein Führer erklärte mir: »Das sind die alten Bewohner dieses Berges, auf dem wir uns nun befinden und der die Stadt beherrscht. Lange haben sie hier liebreich und gerecht ihre einfachen Sitten gepflegt und die natürlichen Tugenden der Urzeit der Welt bewahrt. Das Volk ringsum ehrte sie und lebte nach ihrem Vorbild.«

      Vom Punkte, auf dem ich stand, folgte ich nun meinem Führer in eine der hochgelegenen Wohnungen, deren gemeinsame Dächer einen so seltsamen Anblick boten. Ich hatte den Eindruck, daß meine Füße die einander überlagernden Schichten der Gebäude aus verschiedenen Zeitaltern berührten. Diese Gespenster von Bauten gaben immer wieder andere frei, an denen der besondere Geschmack jeden Zeitalters deutlich wurde, und das erinnerte mich an den Anblick archäologischer Ausgrabungen in alten Städten, bis auf den Unterschied, daß hier alles luftig, lebendig und von tausendfachem Lichtgeflimmer erfüllt war. Schließlich befand ich mich in einem großen Raum, wo ich einen Greis erblickte, der an einem Tisch an irgend etwas arbeitete. – In dem Augenblick, als ich durch die Tür kam, bedrohte mich ein weißgekleideter Mann, dessen Gesicht ich kaum erkennen konnte, mit einer Waffe, die er in der Hand hielt. Aber mein Begleiter gab ihm ein Zeichen fortzugehen. Es schien, als ob man mich hätte hindern wollen, das Geheimnis dieser Zufluchtsräume zu lüften. Ohne meinen Führer zu befragen, war mir intuitiv klar, daß diese Höhen und Tiefen zugleich die Zuflucht der ursprünglichen Bergbewohner waren. Indem sie immer wieder der vordringenden Flut der Massen neuer Rassen trotzten, lebten sie da liebreich und gerecht, geschickt, entschlossen und erfinderisch – als friedliche Überwinder der blinden Massen, die so oft über ihr Erbe hergefallen waren. Was denn! Weder verdorben noch vernichtet, noch Sklaven, bewahrten sie, obwohl sie die Unwissenheit überwunden hatten, im Wohlstand die Tugenden der Armut. – Ein Kind ergötzte sich auf dem Boden mit Kristallen, Muscheln und bearbeiteten Steinen, die wohl zu einem Übungsspiel gehörten. Eine bejahrte, aber immer noch schöne Frau kümmerte sich um den Haushalt. In diesem Augenblick erschienen lärmend mehrere junge Leute, die wohl von der Arbeit kamen. Ich wunderte mich, sie alle in weißer Tracht zu sehen; doch scheint das eine Augentäuschung gewesen zu sein. Um sie zu beheben, machte mein Führer sich daran, ihre Kleidung zu zeichnen, die er mit lebhaften Farben ausmalte, um mir so zu verstehen zu geben, wie sie Wirklichkeit waren. Das mich überraschende Weiß rührte vielleicht von einem besonderen Glanz her, einem Spiel des Lichts, in welchem sich die üblichen Farben des Prismas vermischten. Ich verließ den Raum und befand mich auf einer Terrasse mit Gartenanlagen. Junge Mädchen und Burschen ergingen sich dort im Spiel. Ihre Kleider kamen mir weiß vor wie die anderen; sie waren aber mit rosa Stickereien verziert. Diese Gestalten waren so schön, ihre Züge so anmutig, und der Glanz ihrer Seele schimmerte so lebhaft durch ihre zarten Formen, daß sie alle eine wunschlose Liebe ohne Bevorzugung erregten, in welcher der ganze Rausch jugendlicher Schwärmerei sich wiederfand.

      Das Gefühl, das mich unter diesen reizvollen Wesen befiel, die mir teuer waren, ohne daß ich sie kannte, kann ich nicht wiedergeben. Es war wie eine himmlische Urfamilie, deren lächelnde Blicke die meinen in süßem Mitgefühl suchten. Ich begann heftig zu weinen wie bei der Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Hier empfand ich mit Bitterkeit, daß ich mich nur vorübergehend in dieser zugleich seltsamen und teuren Welt befand, und ich zitterte bei dem Gedanken, daß ich ins Leben zurückkehren müsse. Vergeblich umdrängten mich Frauen und Kinder wie um mich zurückzuhalten. Schon lösten sich ihre entzückenden Gestalten in formlosen Dunst auf; die schönen Gesichter verblaßten, und diese ausgeprägten Züge, diese glänzenden Augen verloren sich in einem Schatten, den noch ein letztes Lächeln erstrahlen ließ …

      So also war jene Vision, oder so waren zum mindesten die wichtigsten Einzelheiten, an die ich mich erinnern kann. Der Starrezustand, in welchem ich mich tagelang befunden hatte, wurde mir wissenschaftlich erklärt, und die Berichte derer, die mich so gesehen hatten, ließen mich gereizt werden, als ich feststellte, daß man die Bewegungen oder Worte, die mit den verschiedenen Phasen von Vorgängen zusammenfielen, die für mich eine logische Folge von Ereignissen darstellten, geistiger Verwirrung zuschrieb. Um so mehr liebte ich diejenigen meiner Freunde, die durch ein geduldiges Eingehen darauf oder auf Grund ähnlicher Gedankengänge mich zu ausführlichen Berichten über die Dinge ermunterten, die ich gesehen hatte. Einer davon sagte zu mir unter Tränen: »Nicht wahr, es stimmt doch, daß es einen Gott gibt?« » Jawohl!« pflichtete ich ihm begeistert bei. Dann umarmten wir uns wie Brüder aus dem geheimnisvollen Vaterlande, das ich erschaut hatte. – Welches Glück bereitete mir zunächst diese Überzeugung! So war der ewige Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele, welcher die besten Geister befällt, für mich gelöst. Kein Tod mehr, keine Traurigkeit, keine Unruhe! Diejenigen, welche ich liebte, Verwandte und Freunde, gaben mir sichere Zeichen


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