Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe
Jörg Mauthe
DIE VIELGELIEBTE
Roman
Unveränderte Neuflage, Wien 2011
© Edition Atelier
Erstmals erschienen 1979 im Verlag Fritz Molden, Wien–München–Zürich–Innsbruck; © 1987 Wiener Journal Zeitschriftenverlag Ges.m.b.H.
Lektorat: David Axmann
Covergestaltung: Julia Kaldori
Cover nach einem Foto von john krempl / Quelle PHOTOCASE
Druck: Prime Rate Kft., Budapest
ISBN 978-3-900-3790-32
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Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.
Inhalt
Alle sind sie gekommen, alle sind sie da.
Wir haben heute schon den elften November, aber der Himmel ist dunkelblau wie im Spätsommer, und das Thermometer zeigt zwanzig Grad bei nur schwach fallendem Luftdruck. Es paßt nicht zum Datum, dieses Wetter. Es ist unglaubhaft.
Der Geschiedene ist da und der Medizinalrat und der Fürst und der Legationsrat und …
Ja, es sind alle da.
Wir, einer wie der andere, sind viel zu früh gekommen und wissen nicht, wie das nur alles vor sich gehen soll. Also warten wir schweigsam, bis geschehen wird, was halt geschehen muß.
Da wir deshalb und aus vielerlei anderen Gründen verlegen sind, verharren wir steif und unbewegt; der Fürst und der Legationsrat bringen es jedoch immerhin fertig, selbst dies auf jene gewisse elegante Art zu tun, um die ich sie immer ein wenig beneidet habe. Nur der Medizinalrat bewegt sich; mir gegenüberstehend, verlagert er leise schwankend seinen massigen Leib hin und her von einem Bein auf das andere.
Das Genie ist da und der Brettschneider-Ferdi und der Nagl-Karl; an meinem Ellbogen spüre ich den des Großen Silbernen; und weil der da ist, werden auch der Hansi, der Heinzi und der Horsti nicht weit sein; vermutlich haben sie in einiger Entfernung hinter Büschen und Steinen Position bezogen, von denen aus sie mit ihren so wachsamen Augen unsere Umgebung kontrollieren können; der Silberne ist ein vorsichtiger Mann, der sich wirklich nur im alleräußersten Fall auf Risken einläßt.
Wenn der Medizinalrat sein Gewicht auf den linken Fuß legt, wird neben seinem rechten Oberschenkel ein kleines Stück Landschaft sichtbar, bestehend aus zwei aufeinander zulaufenden Weinberghängen und, über ihrem Schnittpunkt, etwas Überschwemmungsgebiet, hinter dem weiße Flecken schimmern. Die sehen im graublauen Dunst wie Felsufer oder Lößwände aus, aber in Wirklichkeit – freilich, was ist heute schon Wirklichkeit? – handelt es sich wohl um die Wohnblöcke einer dieser großen Stadtrandsiedlungen aus den sechziger oder siebziger Jahren.
Elfter November, aber keiner von uns trägt einen Mantel. Dazu ist es zu warm.
Ich empfinde diese Wärme als unangenehm, ja fast als widerwärtig. Ein November sollte kalt sein, denke ich, oder wenigstens kühl und regnerisch, wie damals in meiner Kindheit, als die Winde, die es heute nicht mehr gibt, die Währingerstraße hinaufpfiffen oder heruntertobten. Aber von der Art sind die November schon seit Jahren nicht mehr. Ob vielleicht doch etwas dran ist an dieser Klimaverschiebung, von der jetzt häufig die Rede ist? Der Kollege Kaiser verficht ja mit einem gewissen Fanatismus sogar die Behauptung, daß wir am Beginn einer neuen Eiszeit stehen; wie sich die mit warmen Novembern verträgt, weiß ich freilich nicht, aber daß die Natur sich neuestens selbst zuwiderläuft und unnatürliche Zustände schafft, heiße Februare, nasse Sommer und nun diese Novemberwärme, das gibt denn doch auch einem laienhaften Verstand zu denken. Vielleicht sollte ich den Medizinalrat, der einem solche Sachen gerne und ausführlich erklärt, gelegentlich fragen, welche Meinung über nahende Eiszeiten er hegt – falls eine Gelegenheit dazu sich noch ergeben wird.
Elfter Elfter: das Datum merkt man sich leicht. Übrigens feiert – feiert? Nein: hat der Legationsrat heute Geburtstag. Den zweioder dreiundvierzigsten, schätze ich, aber vielleicht sind es auch ein paar Jahre mehr oder weniger; Tuzzi gehört zu jenem Typ, der von der Reife an fast alterslos bis zum Alter bleibt; das habe ich an ihm schon oft bewundert.
Alle sind sie gekommen, alle sind sie da.
Der Medizinalrat schwankt langsam hin und her.
Im Landesmuseum in der Herrengasse haben sie ein Diorama, das in anschaulicher Weise die Eiszeit am Donauufer darstellt: wüstes Krüppelgebüsch, in dem sich Schneehasen verbergen; hinten fließt, offensichtlich sehr kalt, die Donau, vorne ducken sich im Schutze großer Steine ein paar Eiszeitmenschen, die wohl Jagd auf das Mammut machen, das vor der Silhouette des Kahlenberges den riesigen Rüssel von der einen auf die andere Seite schwenkt. Auch ein Elch ist in diesem wirklich sehr anschaulichen Bild enthalten, aber vielleicht irre ich mich in diesem Punkt und bringe versehentlich einen wirklichen Elch in die Szene hinein, jenen, der damals plötzlich in Oberösterreich aufgetaucht ist und den Zeitungen eine Weile lang amüsanten Nachrichtenstoff geliefert hat, ehe er spurlos wieder verschwand; das Erscheinen dieses nordischen Riesenviehs inmitten unserer Wälder mag kein Irrtum gewesen sein, sondern schon ein Vorzeichen; aber das konnten wir in jenen Tagen ja noch nicht ahnen.
Alle sind sie gekommen, alle tragen schwarze Anzüge. Sogar das Genie hat einen am Leibe – der Teufel wird wissen, aus welchem Abfallhaufen es sich ihn herausgefischt hat. Natürlich paßt der Anzug nicht und sind die Ärmel über den roten Händen viel zu kurz; immerhin scheint er wenigstens sauber zu sein. Ferner hat das Genie den Bart abrasiert, was wohl als Opferhandlung verstanden werden muß; nun zeigen sich unerwartet viele Falten in seinem Gesicht. Und natürlich murmelt es vor sich hin; anders hab’ ich den Mann noch nie gesehen, als unermüdlich an einem Epos murmelnd, das nach den wenigen Bruchstücken, die wir herausbekommen haben, vielleicht das bedeutendste der Welt wäre, würde es je deren Licht erblicken; aber ach, das Genie schreibt nichts nieder, es kann kaum schreiben; so wird auch dieses Kunstwerk, wie seine anderen in der Abfallgrube dort drüben auf der anderen Donauseite, nie veröffentlicht werden. Ob es weiter an seinen Gängen und Höhlen baut, nach unbestimmten, dem eigentlichen Wesen des Zufalls abgelauschten Regeln? Gleichviel. Das alles hat seine Bedeutung verloren.
An den Bäumen hängen noch viele Blätter, längst abgestorbene, die der leiseste Windhauch wegfegen würde. Aber der Wind weht schon seit Wochen nicht mehr.
Der Nagl-Karl hat eine Harmonika umhängen, nicht eine von diesen Zieh-Orgeln, die er üblicherweise benützt, sondern seine alte Budowitzer mit den Knopfregistern, die er nur zu besonderen Gelegenheiten hervorholt. Ob er beabsichtigt, heute und hier Musik zu machen? Ich fände das unpassend, doch kann, was jetzt nicht stimmt, eine Stunde später plötzlich schicklich werden. Man darf sich da durchaus auf den Nagl-Karl verlassen; seine Einsätze haben noch immer gestimmt. Übrigens ist er natürlich nicht der einzige Abgeordnete der Gilde; auch die Schneider-Brüder und der Zwerschina sind da. Und der Ferdi.
Der schwarze Anzug des Fürsten ist aus feinem Loden. Den hat er schon immer getragen, in der Schule, bei seiner Heirat und, viel später, bei seiner Verlobung.