Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe
schließlich in eine Strafkompanie gesteckt worden; seither trug er ein schwarzes Monokel vor einer leeren Augenhöhle.
»Heute nacht aber hab’ ich Angst gehabt – echte Angst. Man sollt’s nicht glauben.«
Dann, nach dem Krieg, war er zwei Tage und eine Nacht lang mit zerbrochenen Knochen im Steilhang des Mount Cirbiz gehangen, hatte er den zweiten Platz einer Judo-Staatsmeisterschaft (Schwergewicht) errungen und so weiter.
Er war ein Mann von großer Extravaganz, berstend vor Wissen, von lärmendem Wesen und sehr melancholisch; die flache Glasdose auf seinem Schreibtisch enthielt etliche Gelatinekapseln, die, wie er behauptete, mit Zyankali gefüllt waren; ihr Anblick, sagte er, gäbe ihm allerhand interessante und gelegentlich auch köstliche Gedanken ein: Schau dir, sagte er etwa, diese kleinen Dinger an und bedenke, daß in ihnen alles enthalten ist, was du wünschst, das Nichts und die Unendlichkeit, das Absolutum und das endgültige Arkanum! – Ich bin nie dahintergekommen, ob er’s ernst meinte oder ob er mit solchen Bizarrerien nur seinem Drang nachgab, andere zu verblüffen, jenem Drang, der ihn zu einem der begehrtesten Pokerspieler der Welt hatte werden lassen (er ist deswegen oft nach Paris oder New York geflogen, immer angenehm erschöpft zurückgekommen, hat dann umgehend für sein Spital sündteure Apparaturen angeschafft, die ihm von den Beamten verweigert wurden, doch hat er diese Wohltaten jedesmal sorgfältig an die große Glocke gehängt, worauf ihm die Beamten erst recht Scherereien verursachten) – ja, er war stets ein Mann mit vielen Eigenschaften, unter denen Gier und eine ordentliche Portion Narrheit nicht die am wenigsten charakteristischen waren; aber Ängstlichkeit gehörte gewiß nicht zu ihnen.
»Es ist nicht zu glauben«, sagte er und schüttelte den Riesenkopf mit den weißen Stoppeln, »was einem auf dieser Welt nicht alles passieren kann! Zum Beispiel, daß mir ein weibliches Wesen, ich weiß nicht, war es ein Mädchen oder eine Frau, das mir nicht einmal bis zur Brust reichte …«
Er zeigte mit der Hand in eine Gegend, in der sich sein Nabel befinden mochte.
»… daß mir ein solches Geschöpf Angstgefühle verursachen könnte. Kannst du dir das vorstellen? Ist dir schon sowas passiert?«
»Erzähl bitte Genaueres«, sagte ich und war erleichtert, denn er würde anders gesprochen haben, wenn er mich nicht für ahnungslos gehalten hätte.
»Bitte sehr. Und trink einen Schluck – Übung macht den Meister, und vielleicht bring’ ich dir durch allmähliche Gewöhnung doch noch bei, was Rotwein ist. Der Casus ist wirklich exakter Beschreibung wert: Heute nacht also gegen zwei – ich habe wieder einmal hier geschlafen, oder vielmehr: ich schlafe schon seit einigen Wochen hier, denn meine Familie geht mir wieder einmal in unbeschreiblicher Weise auf die Nerven, ja, ich weiß, ich bin ein schwer erträgliches Monstrum, dies ist wahr, gehört aber nicht hierher – wie dem auch sei, heute nacht also gegen zwei erhebt sich draußen am Gang vor meiner Tür, erhebt sich, wie soll ich es definieren: ein Geschrei? ein Getöse? ein Streit? Sagen wir, daß es ein Mordskrawall war, höchst unpassend für ein Institut wie dieses, dem ein Arzt vorsteht, der Schlaf schon deshalb für die beste aller Medizinen hält, weil sein eigenes Schlafbedürfnis ein außerordentliches ist. Ich schlafe gern und tief, und meine Sklaven wissen, daß ich unleidlich bin, wenn ich aus meinen süßen Träumen geweckt werde. Dementsprechend wütend über den Krach vor meinem Zimmer fahre ich auf, sause zur Tür, reiße sie auf – und was finde ich dort draußen vor? Was?«
Der Medizinalrat war, ich bemerkte es verwundert, ziemlich aufgeregt; ich hatte ihn so eigentlich noch nie gesehen. Trotzdem vergaß er auch jetzt nicht seine rhetorischen Kniffe, die er, wie vieles andere, meisterhaft beherrschte: er ließ die unbeantwortete Frage in der Luft hängen, putzte nachdenklich sein schwarzes Monokel – eine Gewohnheit von ihm, die rätselhaft war, denn er sah ohnehin nicht hindurch steckte es wieder vor die Augenhöhle, holte ausreichend Luft und beantwortete seine eigene Frage:
»Ich sah zu meiner Linken die Oberschwester an der Wand lehnen, und zwar bleicher als ebendiese; du wirst nach so vielen Besuchen bei mir vielleicht den Eindruck gewonnen haben, daß es sich bei der Schwester Sigrid um eine ausgesprochene Bestie handelt, und dieser Eindruck wäre richtig, denn die Schwester Sigrid ist wahrhaftig eine solche, ein Dragoner mit Busen, ein Weib aus Eisen, das den Teufel das Fürchten lehren könnte – gottlob, wie ich fromm hinzufüge, denn solcherart werden die Damen und Herren des medizinischen Personals in der Zucht und Ordnung des Herrn gehalten wie in keinem anderen Wiener Spital.«
»Ja, so einen Eindruck habe ich von ihr«, sagte ich.
»Umso besser. Und nun imaginiere bitte weiter, daß diese Oberschwester nach Luft schnappt und der Sprache nicht mehr fähig ist. Denke dir ferner zu meiner Rechten den Portier Brosenbauer, an welchem die Rettungsleute schon so viele Haufen von Blutüberströmten, in Schmerzen sich Windenden und Sterbenden vorbeigetragen haben, daß ihm längst Hornhäute über die Seele gewachsen sind – denke dir diesen Mann in einer Erscheinungsform, in der es ihm vor Wut die Red’ derart in den Hals hinein verschlagen hat, daß er am Rande eines Apoplexus steht. Stell dir ferner einen mazedonischen Krankenpfleger vor, der von unserer Sprache nur die bösen Worte kennt, die ihm der liebe Herr Brosenbauer und die liebe Schwester Sigrid zwanzigmal pro Tag an den Kopf werfen, der aber jetzt vor Glück buchstäblich die Zähne bleckt. Stell dir das vor!«
»Und wo bleibt in diesem Bild der Kranke?« sagte ich.
»Der Kranke? Woher weißt du, daß da ein Kranker vorhanden war?«
»Ich denk’ mir’s halt«, sagte ich und schwor mir, besser auf der Hut zu sein. »In einem Spital? Um diese Zeit?«
»Na ja, ein Kranker war natürlich da. Eine schwere Nierenkolik offenbar oder eine akute Appendicitis. Lag auf der Bahre hinter jenen Vertretern der Spitalsfolklore und war bewußtlos. Und vor alledem stand … ah, ich sage dir!« Das Mammut, viel zu groß selbst für dieses geräumige Zimmer, blieb eine Weile stehen und wiegte sich nachsinnend hin und her; in den Regalen schepperten leise die geschmacklosen, aber massiv silbernen und goldenen Tee-und Kaffeegeschirre, welche dankbare Exoten als Präsente für die Behandlung streng geheimer Krankheiten hinterlassen hatten; in den Fenstern wurde es schon dämmrig, und ich dachte, daß es Zeit würde, endlich die Mariahilfer Straße hinunterzubummeln, um dem ärgerlichen Montag einen harmonischen Abschluß zu geben. Aber der Medizinalrat dachte leider nicht daran; er war begierig, seine Geschichte loszuwerden.
»… Ich sage dir: es hatte dieses Geschöpf, nur wenig über den Nabel reichte es mir, es hatte zu dieser unmenschlichen Zeit von zwei Uhr morgens und in der miserablen Nachtbeleuchtung, die wir draußen haben, etwas von einer Erscheinung an sich. Von einer Erscheinung, jawohl, ich finde kein präziseres Wort dafür, obwohl sich diese Erscheinung in Worten und Wendungen äußerte, die ausgesprochen irdisch klangen und ziemlich bodenständig artikuliert waren, sehr originell, wie ich trotz meiner Verschlafenheit und meines Erschreckens bemerkte, nicht gerade zimmerrein, und in einer Lautstärke vorgetragen, die einem durch Mark und Bein schnitt; es würde mich nicht wundern, wenn der Verputz im Gang seit heute nacht Sprünge zeigte …«
»Na schön«, sagte ich ungeduldig, denn ich begriff noch immer nicht, was den Medizinalrat eigentlich so erregte, »du bist halt von einer nervösen Person beschimpft worden. Trag’s mit Würde, sowas kann schon einmal passieren, auch einem berühmten Mediziner, und wir sollten jetzt endlich …«
»Du verstehst überhaupt nicht, was ich dir erzählen will«, sagte der Medizinalrat. »Laß mich gefälligst ausreden. Wo war ich? Ach ja, bei den Posaunen von Jericho. Trotz dieser Töne also und trotz der unüberhörbaren Ordinärität etlicher Ausdrücke, unter denen der mehrfach wiederholte Hinweis, daß ich ein fettes Arschloch sei, noch vergleichsweise milde war, trotz und bei alldem hatte dieses winzige Frauenzimmer, du wirst lachen, wenn ich es dir sage, etwas Leuchtendes an sich. Eine Aura sozusagen. Einen buchstäblich sinnlich wahrnehmbaren Schein, wenn du willst. Und das war es, was mich erschreckt hat, was mir, glaub’s oder glaub’s nicht, Angst gemacht hat! Ja, ich habe mich vor diesem Geschöpf gefürchtet.«
Ich sagte nichts, denn ich merkte endlich, daß der Medizinalrat nicht, wie so oft, nur ein amüsantes Histörchen erzählen, sondern von einer ernstlichen Beunruhigung berichten wollte.
»Ich