Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe
Hand schiebt sich unter meinen Ellbogen. Ich nehme diese Stütze dankbar an, froh darüber, daß mich nach alldem, was geschehen ist, noch einer so freundlich zu berühren wagt; ehe ich die Augen schließe, sehe ich einen prüfenden Blick aus dem Einauge des Medizinalrats; aber das kränkt mich nicht.
»Und tun S’ Ihnen wegen der Schießerei nicht beunruhigen«, flüstert die Stimme; es ist die des Silbernen. »Das hat weiter nix zu bedeuten. Nicht um diese Zeit.«
»… Sind Ihre Buben da?« frage ich ebenso leise.
»Freilich.«
Da kann ich ja beruhigt die Augen zumachen und mich von der Wärme ein bißchen narkotisieren lassen.
Ja, der Medizinalrat hat den kleinen Vorgang natürlich wahrgenommen. Sicherlich hat er mit dem Computer, der sich neben vielen anderen Sachen in seinem Riesengehirn verbirgt, in Sekundenschnelle meinen Blut-, den Luftund psychischen Druck sowie etliche andere Parameter in Relation gebracht; falls es notwendig sein sollte, wird er sich um mich kümmern. Vorderhand hat er sich damit begnügt, dem Silbernen mit einem Kopfnicken zu bestätigen, daß der Griff unter den Ellbogen schon richtig ist.
Zwischen uns dreien, dem Arzt, mir und dem Silbernen, besteht eine Beziehung besonderer Art. Wir waren dem Geheimnis etwas näher als die anderen. Der Medizinalrat wäre nicht hier, wenn es nicht den Silbernen gäbe, und den Silbernen gäbe es ohne den Medizinalrat nicht mehr. Und wir alle stünden jetzt nicht hier, wenn ich nicht versucht hätte, die unheiligste Pflicht zu erfüllen, die je einem Heiligen auferlegt worden ist.
Unerwartet von jäh einsetzendem Schmerz überfallen zu werden, von so gräßlichem Schmerz, daß man sich, auch wenn man ein starker tapferer Mann ist, wie ein Wurm krümmen und laut stöhnen muß, ist ein widerwärtiges Erlebnis.
Wenn sich dergleichen aber in einem gutbesuchten Heurigenlokal und zu jener nachmitternächtlichen Stunde ereignet, in der das Publikum endlich dahin gekommen ist, seiner Sinne nicht mehr ganz mächtig und somit gut aufgelegt zu sein – dann tritt zum hilflos machenden Schmerz auch noch die Scham hinzu, aus der Rolle gefallen zu sein und ein ganz und gar unpassendes Schauspiel zu bieten. Vollends schlimm wird die Sache, wenn man, sei’s aus Charakter, sei’s aus beruflichen Gründen, viel Wert darauf legen muß, so wenig Aufmerksamkeit wie nur möglich auf sich zu ziehen. Um Haltung zu ringen nützt da wenig, das vermehrt den Krampf der Kolik nur noch. In einem solchen schlimmen Augenblick will man nur eines, nämlich rascheste Hilfe.
Die anderen Gäste aber, die sich nun um den Stöhnenden drängen, reagieren leider panisch. Einer empfiehlt, den Leidenden in die Seitenlage zu bringen; ein anderer rät, gleichfalls aus vagen Erinnerungen an weit zurückliegende Erste-Hilfe-Kurse, die Füße – oder besser den Kopf? – hochzulagern; einer stürzt zum Telefon, aber das ist von einem Betrunkenen blockiert; die Kellnerin ruft laut, ob vielleicht ein Arzt im Lokal ist, aber gerade diesmal ist natürlich keiner da; um den Telefonhörer, den der Betrunkene nicht aus der Hand geben will, entspinnt sich eine Rauferei; der plötzlich Erkrankte stößt nun bereits dumpfe Schreie aus; manche steigen auf Sessel, um besseren Überblick zu haben …
… und dann kann es, wenn der Leidende Glück im Unglück hat, passieren, daß eine kleine Person mit schneidender Stimme für Vernunft sorgt, die zwei relativ Nüchternsten aus der Menge heraussucht, mit deren Hilfe den sich Krümmenden aus dem Lokal schafft, ihn in ihr Auto verlädt und schleunigst zum nächsten Spital fährt.
»Die Ärzte«, sagte diese kleine Person am darauffolgenden Montagmorgen zu mir, ehe wir unsere Arbeit aufnahmen, »gehören vertilgt. Und in die Spitäler sollte man Bomben schmeißen. Aber große!«
»O je!« sagte ich mißtrauisch, denn ich wußte, was von solchen Mitteilungen zu halten war. »Du hast wieder einmal Krach gemacht?«
»Und was für einen!« sagte sie in einem Tonfall, der darauf schließen ließ, daß sie bei der Ausrottung von Ärzten und der Demolierung von Spitälern bereits schöne Anfangserfolge verzeichnen konnte.
»Na, dann schildere, mein Kind.«
»Sag nicht Kind zu mir. Daß ich dir erzähl …«
Sie hatte also den Mann kurzerhand in ihren Volkswagen verladen, um ihn schnellstens ins nächste Spital zu bringen. Auf dem Weg dorthin war die Kolik oder der Anfall oder was immer so überwältigend geworden, daß der Unbekannte schon mehr tot als lebendig, jedenfalls aber bereits bewußtlos schien. Der Nachtportier des Krankenhauses aber war davon keineswegs beeindruckt, sondern eher geneigt gewesen, die Sache als eine gegen ihn persönlich gerichtete Ruhestörung aufzufassen, hatte umständlich wissen wollen, warum man denn da nicht die Rettung oder den ärztlichen Notdienst gerufen hätte, und schließlich wissen lassen, daß man den Erkrankten ins Ferdinand-Spital am entgegengesetzten Ende der Stadt zu bringen habe, wo erstens sowieso Nachtdienst gemacht werde und zweitens freie Betten vorhanden seien.
»Da hab’ ich dann Krach geschlagen!« beendete die Freundin die drastische Schilderung dieses Vorgangs.
»Mit Erfolg?«
»Meine Krachs haben meistens Erfolg.«
»Ich weiß, ich weiß. – In welchem Krankenhaus hat sich denn diese Geschichte abgespielt?«
»Im Dorotheer-Spital. Na, die werden dort noch eine Weile an mich denken!«
Diese Mitteilung am Montagmorgen freute mich wenig, denn es gehörte zu meinen Gewohnheiten, am Abend eines jeden Montags einen alten Freund aufzusuchen, um in seinem Dienstzimmer ein Glas Rotwein zu trinken und gescheit zu plaudern, ehe wir gemeinsam und gemächlich die Mariahilfer Straße hinunter in die Innere Stadt spazierten; Montage pflegen, wie jeder Berufstätige weiß, von Ärgerlichkeiten erfüllte Tage zu sein – und eben drum hatte ich’s mir so eingerichtet, daß ihnen dergestalt wenigstens ein harmonischer Ausklang sicher war.
Jenes bequeme Dienstzimmer jedoch befand sich im Dorotheer-Spital, und sein Inhaber – und Leiter dieses Krankenhauses – war mein Freund, der Medizinalrat.
Ob sie im Spital ihren Namen oder ihre Arbeitsadresse hinterlassen habe, fragte ich sie besorgt. Nein, sagte sie, oder vielleicht doch, das wisse sie nicht mehr so genau. Ob sie nach dem Portier womöglich auch noch einem Arzt Krach gemacht habe? Und wie! sagte sie. Einem großen Dicken, der ein schwarzes Monokel getragen und vor Arroganz gestunken habe.
Was eine ziemlich zutreffende Charakterisierung des Medizinalrates war.
Die kleine Affäre fügte also den üblichen Montag-Widrigkeiten noch eine weitere hinzu. Zwar war der Medizinalrat nie in meinem Büro gewesen, konnte also nicht wissen, daß es sich bei der Krachmacherin der letzten Nacht um meine Mitarbeiterin handelte, wußte andererseits auch sie nicht, daß ich mit jenem einäugigen Arzt befreundet war – aber wenn sie ihren Namen und ihre Adresse doch hinterlassen hatte, war damit zu rechnen, daß über kurz oder lang auch ich in die Angelegenheit einbezogen würde. Und obwohl es sich im Grunde nur um eine Lappalie handelte, ging’s mir doch den ganzen Tag im Kopf herum, wie und mit welchen entschuldigenden Worten ich sie, falls sie zur Sprache käme, ausbügeln sollte. Ich muß in meiner Kindheit ein Trauma erlitten haben, das mich Zwistigkeiten zwischen mir lieben Personen stets über Gebühr fürchten ließ.
Es war aber dann überraschenderweise der Medizinalrat, der, kaum daß ich abends in einem seiner Lederfauteuils versunken war, das Wort ergriff – und wenn ich sage, daß er es »ergriff«, dann meine ich das auch, denn genauso ging er stets mit Worten um: zugreifend und sie packend, ausschweifend mit ihnen und sie so bald nicht wieder hergebend.
»Kannst du dir vorstellen«, sagte er, während er wie ein Elefant durch die üppige Landschaft seines Zimmers stampfte, »daß ich Beängstigung verspüren könnte? Daß ich in Angstzustände, ja aus Angst geradezu in ein, wenn auch nur sekundenlanges, Koma verfallen könnte? Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein«, sagte ich. Ich wußte, daß der Medizinalrat im letzten Krieg als Jagdflieger zweimal abgeschossen worden war, daß sie ihm dafür erst ein Ritterkreuz umgehängt und später aus ähnlicher Ursache noch das Eichenlaub draufgepickt hatten.
»Du kannst es nicht, denn du kennst