Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe

Die Vielgeliebte - Jörg Mauthe


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sie’s konnten? Und würden sie’s nicht wieder tun, wenn sie’s nur könnten? Ich weiß nicht, ob zwischen Abeliden und Kainiten je Liebe möglich sein wird; aber ich, ein Kainit und weiter kein Christ, bin christlicher als sie: Ich habe wenigstens Mitleid mit ihnen. Ob es wohl, nach ihren Maßstäben, eine Sünde wäre, mitleidige Sünden zu erlügen? Ich sollte den Legationsrat danach fragen – als Jesuitenzögling und Jurist müßte er eine so kasuistische Frage beantworten können. Aber dazu wird’s wohl nicht mehr kommen.)

      Ich trat als Fremder ein in diese Kirchen, blieb stehen, atmete ihre Stille – die wahre, echte Stille riecht nach Staub, nach Verwelkung und verbranntem Harz, und dann schritt ich, wie ich es gelernt habe, von rechts nach links an den nördlichen Seitenaltären vorbei, blieb vor dem Hochaltar, höflicherweise, eine Weile stehen und ging dann die Südseite entlang zum Eingang zurück.

      Auf diesen Wanderungen bin ich vielen anderen Heiligen begegnet.

      Sie stehen auf Voluten und Podesten, breiten die Arme aus oder drücken sie ans Herz. Niemals sahen sie mich an, sondern nur still vor sich hin oder auch in einen Himmel hinauf, der, dem Blickwinkel ihrer Augen nach zu schließen, früher viel tiefer herabgehangen sein muß als heute.

      Ich betrachtete sie sorgfältig und versuchte, irgendeine Ähnlichkeit zwischen ihnen und mir zu entdecken, fand aber keine.

      Meistens kam ich nicht einmal hinter die Gründe ihrer Heiligkeit. Viele wurden wohl einfach nur deswegen heilig, weil sie ihres Glaubens wegen auf besonders komplizierte Manier umgebracht worden waren; zur Erinnerung daran tragen sie die Instrumente ihrer Tötung mit sich herum, Pfeile und Lanzen, aber auch Blattsägen, Steine, Roste sowie Hacken und Kreuze in verschiedenen Ausführungen; einer hat ein Schlachtermesser im Schädel stecken, ein anderer zeigt die Haut her, die man ihm heruntergeschunden hat, ein dritter die Spindel, auf die seine Gedärme gewickelt wurden; auch große Wasserkessel, Giftbecher, Schwerter, Nägel, Mühlsteine und Zangen kommen vor; das ist gewiß eindrucksvoll, meiner Meinung nach aber nicht hinreichend: Diese Leute wußten doch wenigstens, warum sie umgebracht wurden oder sich umbringen ließen, und darin lag doch ein gewisser Vorzug, eine Belohnung vielleicht sogar, die mit dem Begriff des Heiligen nicht recht in Einklang zu bringen ist – du liebe Güte, wie viele sind nicht ebenso oder auf noch viel gräßlichere Weise umgebracht worden und mußten dabei noch die zusätzliche Folter erleiden, nicht zu wissen, warum man ihnen das antat? Und doch brachte sie das nicht einmal in die Nähe der Heiligkeit.

      Ich will mich damit nicht an den frommen Märtyrern vergehen – wenn es auch genug fanatische Absonderlinge unter ihnen gegeben hat, die ihrem Tod geradezu nachliefen, so mögen es doch in der Mehrzahl bedeutende und sympathische Leute gewesen sein, sondern will nur sagen, daß ich an dieser Art von Heiligkeit keinerlei Anteil habe; auch zähle ich sowieso nicht zu den Schafen, die ihres Glaubens wegen, sondern eher zu den Böcken, die von Zeit zu Zeit ihres Unglaubens willen vertilgt werden.

      Ich lernte freilich auch andere Gattungen von Heiligen kennen, solche, die sich nicht durch ihren Tod, sondern durch ihr Leben empfohlen haben, Heilige der Sanftund Langmut, der Keuschheit und schieren Güte. Sie tragen ein Kindlein auf dem Arm oder einen Lilienstengel in der Hand und sind gewöhnlich nicht aus Holz geschnitzt, sondern aus Gips gefertigt. Im Gegensatz zu den Märtyrern scheinen sie auch jetzt noch bescheidene gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen; darauf deuten jedenfalls die Kerzlein hin, die bisweilen noch zu ihren Füßen flackern.

      Aber auch mit diesen Heiligen kann – oder von mir aus: darf – ich mich nicht vergleichen; dazu habe ich mich denn doch zu gut durch die Jahre des Dschungels geschlagen, habe ich Fallen nicht nur zu vermeiden, sondern auch zu legen gewußt; ich bin nicht nur gejagt worden, war vielmehr auch selbst Jäger, o ja, ich bin schon auf meine Rechnung gekommen, ich habe mir schon meine Stücke vom Kuchen heruntergeschnitten, mir meinen Anteil am Sozialprodukt und an den Früchten, gelegentlich sogar eine sichere Beute fahrenlassen, ehe ich selbst gebissen wurde; nicht, daß ich mich deshalb schämen müßte, durchaus nicht, im großen und ganzen habe ich mich ziemlich an die Spielregeln gehalten, gelegentlich sogar eine sichere Beute fahrenlassen, auch nie mehr Verletzungen verursacht, als notwendig waren – aber für die Aneignung von irgend etwas Heiligem oder Heiligendem war da weder Zeit noch Raum.

      Nein, die Heiligen in den Kirchen teilten mir nicht mit, was an mir heilig sein könnte, noch auch, wo eigentlich der Punkt ist, an dem irgend etwas – ein Leben, ein Mensch – heilig wird.

      Durch die Stille der Kirchenschiffe erholt, sonst aber verwirrt wie zuvor, ging ich dann zurück unter das Dunkel der Westemporen, sah noch einmal hinüber zu dem schwachen Licht aus den unbenützten Beichtstühlen und bat, ehe ich hinaus in den Lärm zurückkehrte, Gott, an den ich nicht glaube, mir die schwere Last abzunehmen, ein Heiliger sein zu müssen.

      Ich sonderbarer Heiliger ich.

      Immerhin; wenn ich auch nie dahintergekommen bin, was ich mit jenen Heiligen gemeinsam hatte, so kann ich doch definieren, was mich von ihnen zu meinem Nachteil unterschied: Sie dürfen, wenn ihnen Geheimnisse anvertraut werden, in erhabenem oder, je nachdem, gütigem Schweigen, das doch alles ausdrückt, verharren; ich aber mußte darauf jeweils etwas sagen, wenn nicht sogar antworten. Ferner kennt ihre Heiligkeit doch auch Ruhepausen, in denen sie nicht in Anspruch genommen wird; meinen Beobachtungen nach werden die Gläubigen bei ihnen nur zu gewissen Zeiten, des Abends etwa, vorstellig. Und schließlich haben sie ja sonst nichts zu tun, als eben da und heilig zu sein. Mich aber traf’s zu jeder Zeit, während der Arbeit, beim Kaffeetrinken, hinter dem Grüßgottsagen, oft auch durchs Telefon, manchmal unter dem Zeichen der Wichtigkeit, meistens aber nebenbei, ohne Vorankündigung. Und eben in den Tagen vor jener Nacht, in der dem Medizinalrat merkwürdige Leuchtphänomene zuteil wurden, war meine Heiligkeit schon schwer strapaziert worden.

      »Der Tuzzi … Glaubst, sollt’ ich?«

      »Was?«

      »Na ja: ihn heiraten.«

      »Will er denn?«

      »Glaubst, ich hätt’ vielleicht ihn um seine Hand gebeten oder was?«

      »Nein, das nicht, aber …«

      »Na eben. – Also: sollt’ ich?«

      Ich atmete nach dem ersten Schreck ein wenig auf. Wäre sie entschlossen gewesen, hätte sie »soll ich?« gefragt; sie hatte aber den Konjunktiv »sollt’ ich?« gebraucht, und das bedeutete für einen, der sein Österreichisch gut gelernt hatte, daß sie das Problem noch rein abstrakt betrachtete und von mir nur wissen wollte, ob sie sich’s überlegen sollte, es sich zu überlegen.

      Der Legationsrat also …? Nein, überraschend war’s nicht. Ich wußte, daß er sich seit Jahren um sie bemühte, er hatte daraus kein Geheimnis gemacht, ja mich sogar, sobald er meine Relation zu ihr begriffen hatte – und das war ihm schnell gelungen, auf die vornehmste Manier, nämlich die schweigende, um meine Erlaubnis dafür ersucht: Ich habe sie ihm denn auch, hoffentlich ebenso vornehm-diskret, erteilt, obwohl da nichts zu erteilen war und sich Tuzzi möglicherweise nicht einen Pfifferling darum geschert hätte, wäre sie ihm versagt worden; einem Mann wie Tuzzi öffnen sich immer Ausund Umwege; aber er hatte von vornherein auf Geduld gesetzt und auf ein langsames Selbstverständlichwerden dessen, was er anstrebte, nicht aus kühlem Kalkül, sondern weil er es vollkommen ernsthaft meinte; es ging ihm da um Endgültiges, dessen Erreichung er durch keinerlei Sorglosigkeit gefährden wollte. Für mich, den Zuschauer, war sein unermüdliches, leises Werben fast schon zu einem Zustand geworden, an den ich mich gewöhnt hatte, weil er sich kaum zu verändern schien – und drum war ich von der Frage meiner Freundin eben doch überrascht. Was zum Kuckuck hatte den Tuzzi plötzlich bewogen, von seiner Strategie der Geduld abzuweichen?

      »So sag schon was!«

      »Ich möcht’ zunächst wissen: hat er dir wirklich einen Heiratsantrag gemacht? Expressis verbis – ich meine: einen richtigen, deutlichen?«

      »Ha nein! Dazu ist er viel zu diplomatisch. Er hat nur gesagt, daß er mir irgendwann einmal einen machen wird.«

      »Und was hast du gesagt?«

      »Daß er mir schon nicht davonlaufen wird.«

      »Wer?


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