Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe

Die Vielgeliebte - Jörg Mauthe


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mir.

      Ich versuchte, schwächlich genug, noch einmal auszuweichen.

      »O je«, sagte ich, »… nicht in Ordnung? Ist dein bemerkenswerter Patient schließlich doch noch … ?«

      »Mit dem ist alles bestens, ich sagte es schon. Aber diese Person: sie ist verschwunden, während der Appendix in den Operationssaal gerollt wurde. Einfach verschwunden, keinen Namen hinterlassend oder sonst einen Hinweis. Ich habe natürlich den Patienten befragt, kaum daß er aufgewacht war, aber er hat sie nicht gekannt, nie zuvor gesehen, wurde von ihr lediglich in einem Heurigenlokal aufgelesen und hierher gebracht – aus und erledigt. Ich habe inzwischen selbstverständlich Fallen aufgestellt, wenn sie anrufen oder in persona hier auftauchen sollte, um sich nach ihrem Schützling zu erkundigen, aber die sind bis jetzt leer geblieben.«

      »Du scheinst das sehr zu bedauern.«

      »Und du beliebst mich heute partout nicht verstehen zu wollen, guter Freund!« sagte der Medizinalrat wütend. »Bedauern!? Ja begreifst du Idiot denn nicht, was da heute nacht vorgegangen ist? Das passiert mir ja nun wahrhaftig nicht alle Tage beziehungsweise Nächte, daß mich da jemand teils mit deutlich sichtbarer Aura, teils mit Watschendrohungen dazu zwingt, einem Menschen das Leben zu retten! Ist es mir denn wirklich nicht gelungen, dir beizubringen, daß es sich bei diesem furchterregenden Hexengeschöpf um etwas absolut Einzigartiges, schlechthin Einmaliges handeln muß, das einem in solcher Lebendigkeit nur einmal und nicht wieder über den Weg läuft? Wo bleibt deine von uns so hoch gerühmte Einfühlungsgabe?«

      »Gelegentlich versagt sie halt«, sagte ich, »vielleicht, weil es sich da um übersinnliche Erscheinungen handelt. Laß uns endlich gehen. Ich habe einen Montag voll Ärger hinter mir und brauche frische Luft.«

      Es half nichts. Er kannte mich zu gut.

      »Mein lieber Freund«, sagte er, und seine Stimme klang nun gefährlich leise, »ich muß mich heute sehr über dich wundern. Deine Reaktionen sind nicht so, wie ich sie nach langjähriger Freundschaft von dir erwarten darf. Sie gehen daneben; sie sind falsch. Oder sind sie vielleicht gar gefälscht? Es kann nicht sein, daß du mich nicht verstanden und nicht begriffen hast, daß dies das bewegendste Ereignis war, das ich seit – ach, was weiß ich, seit wann erlebt habe. Und doch tust du so, als hätte ich dir lediglich erzählt, daß die Schwester Sigrid mit dem Türhüter Brosenbauer eine Liebschaft hat. Ich werde dich nicht fragen, warum du dich so seltsam verhältst, wenn du mir’s nicht selbst sagst, denn du bist ein so entsetzlich schlechter Lügner, wie du ein recht guter Schweiger bist, und ich will mir deine Freundschaft nicht verderben, indem ich dich zum Lügen zwinge. Aber wenn da etwas verschwiegen wird, was mit jener Person zusammenhängt, dann krieg’ ich’s noch irgendwie heraus aus dir, verlaß dich drauf!«

      »Ich glaube«, sagte ich, »daß ich heute nicht mehr in die Stadt gehen werde. Ich bin müde. Vielleicht bin ich deshalb so wenig einfühlsam heute.«

      »Verstehst du’s denn wirklich nicht?« sagte der Medizinalrat. »Daß ich mich auf meine alten Tage in diese winzige Höllengeburt verliebt habe und voll Angst deswegen bin?«

      Ich fragte sie am nächsten Tag, ob sie wisse, was aus dem Mann geworden sei, den sie da ins Spital geschafft habe, wie es ihm gehe und so weiter. Sie sagte, nein, sie wisse nichts davon und habe auch keine Lust, sich über den Ausgang der Operation zu informieren: »Entweder hält er mich dann von der Arbeit ab, weil er sich bei mir bedanken muß, oder ich müßte womöglich noch zu seinem Begräbnis gehen und kondolieren. Aber was geht denn mich eine wildfremde Witwe an?«

      Das war mit der Vernünftigkeit gesprochen, wie sie heute noch in der Wiener Vorstadt, aus der sie kam, zu Hause ist. Und mir war’s recht, des Medizinalrats halber und weil offenbar auch seitens des unbekannten Erretteten keinerlei unvorhersehbare Verwicklungen zu befürchten waren.

      Denn Verwicklungen gab’s damals nachgerade genug – oder jedenfalls so viele, daß ich mir der Last, ein Heiliger sein zu müssen, mit zunehmender Bestürzung bewußt zu werden begann.

      Die größte Schwierigkeit, die man als Heiliger hat, besteht nämlich darin, daß man von der Macht, die man als solcher hat, praktisch keinen Gebrauch machen darf. Wenigstens sehe ich das so. Denn was wäre das für ein Heiliger, der in das Schicksal seiner Gläubigen eingreift, um es dahin oder dorthin zu wenden, wie er es gerade für notwendig hält? In ein Schicksal einzugreifen heißt, es von sich abhängig zu machen – und das kann doch wohl unmöglich ein heiliges Tun sein?

      Nein, ein Heiliger, der seine Funktion ernst nimmt, darf nichts tun, auch wenn’s ihm schwerfällt; seine einzige Aufgabe ist, dazusein. Er darf lediglich hoffen, daß alles schon irgendwie gut ausgehen wird.

      Nur einer, der selbst ein Heiliger war, kann ermessen, wieviel Sorgen man in dieser Stellung hat und wie miserabel man sich dabei meistens vorkommt.

      Ich glaube nicht, daß sich – außer mir – heutzutage noch irgend jemand den Kopf über die Frage zerbricht, was denn nun eigentlich das Heilige an einem Heiligen ist; das Heilige besitzt derzeit nur einen geringen soziologischen und überhaupt keinen ökonomischen Stellenwert, und was die Träger des Heiligen, also die Heiligen, betrifft, so sind fast alle Funktionen, die sie früher ausübten, von der Sozialgesetzgebung, der neuzeitlichen Medizin, und, soweit Seelisches im Spiele ist, von psychotherapeutischen Beratungsstellen und der pharmazeutischen Industrie zweckentsprechend übernommen worden; und schließlich ist auch das Problem, daß die Gesellschaft (jenes gespenstische Monstrum, von dem keiner recht weiß, was es eigentlich ist) nun einmal aus kollektivpsychohygienischen Gründen eine gewisse Dosis an Verehrungsund vielleicht Anbetungswürdigem benötigt, völlig zufriedenstellend, ja perfekt durch die Massenmedien gelöst worden; deren hauptsächliche, um nicht zu sagen: vornehmste Aufgabe besteht ja darin, der Gesellschaft jene Vorbilder und Devotionsfiguren zu liefern, die gerade gebraucht werden beziehungsweise den aktuellen Trend in idealer Weise personifizieren, Kurzzeitund Wegwerf-Heilige also, die jederzeit zur Hand und anstrengungslos im Gebrauch sind.

      Die Öffentlichkeit hat somit derzeit wirklich kaum Veranlassung, sich über die Frage nach dem Heiligmäßigen Gedanken zu machen.

      Ich freilich habe mir über sie jahrelang und bis vor wenigen Tagen den Kopf zerbrochen. Denn da ich nun einmal ein Heiliger war, wollte ich immer auch dahinterkommen, warum und inwiefern ich einer war.

      Wenn ich durch die Stadt ging oder übers Land fuhr, hielt ich mich oft damit auf, in die eine oder andere Kirche einzutreten, nicht aus Frömmigkeit, auch nicht aus dem Wunsch nach dieser, sondern der Stille wegen, jener unvergleichlichen und endgültigen Stille, die man nur in diesen heiligen Häusern und sonst nirgends findet.

      Fast immer waren sie leer, wenn ich sie besuchte, abgesehen vielleicht von kleinen alten Frauen, die so unbeweglich in den Gestühlen kauerten, daß man sie für Teile der Einrichtung hätte halten können, und – gelegentlich – einem Priester, der geduldig in einem einzigen von vielen Beichtstühlen auf einen Sünder wartete.

      Diese alten Priester haben mir immer leid getan; es muß, denke ich, schrecklich sein, zwar die Macht zu besitzen, andere Menschen von ihren Sünden freizusprechen, aber keine Chance zu haben, von dieser einzigartigen Macht auch Gebrauch zu machen, sondern untätig zusehen zu müssen, wie sich die Sünden dieser Welt ungetilgt zu riesigen Bergen häufen oder zu einer kritischen Masse verdichten, die irgendwann nicht mehr zu beherrschen sein wird.

      Wahrscheinlich ist dieses Mitleid überflüssig, weil die Priester selbst solche Gedanken wohl gar nicht haben, sondern in den Beichtstühlen nur ihre Pflichtstunden absitzen, als Beamte einer zwar höheren, leider aber mit unklaren Kompetenzen ausgestatteten Behörde. Dennoch, oft habe ich das Gefühl gehabt, man sollte den einsamen Männern was Gutes tun, sich hinknien und ihnen irgend etwas beichten, irgendwelche verwickelten und ausgiebigen Sünden, von denen sie ein paar Tage lang zehren könnten. Aber da ich solche Sünden nicht begehe, müßte ich sie erfinden, und das würde von diesen geschulten Spezialisten sicher durchschaut werden; übrigens weiß ich die Worte und Zeichen nicht, mit denen sich ein Gläubiger im Beichtstuhl zu erkennen gibt.

      (Und außerdem geht mich das alles ja gar nichts an; im Gegenteil könnte ich ganz zufrieden sein wenigstens mit diesem Ergebnis einer


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