Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe
erwünscht war. So hätte es nicht viel bedurft, daß wir Freunde wurden; es würde genügt haben, mich zum Beispiel aufzufordern, ihn einmal zu besuchen oder mit ihm ins Stadion zu gehen; aber leider lud er mich nicht dazu ein, sondern fürs nächste Wochenende zu einer Wildschweinjagd; damit wollte er bestimmt nicht Eindruck auf mich machen – sowas hat einer, der Lipkowitz heißt, in Österreich nicht nötig – sondern nur eine Freude; ihm bedeutete dergleichen ja nichts Extravagantes. Mir aber schien das entschieden zu viel des Guten und viel zu feudal. Wenn er’s wenigstens nicht »Sauhatz« genannt hätte! Das paßte auch irgendwie zum Katholischen an ihm und ging schlechterdings nicht an, denn als Republikaner und Klassen-Tribun hielt ich’s nun einmal mit den Kleinbürgern und Proleten, und denen wollte ich mich nicht entfremden. Also lehnte ich etwas zu brüsk ab. Er nahm das lächelnd zur Kenntnis, und so wurden wir damals leider keine Freunde.
Vielleicht aber wären alle diese Hindernisse – der Name, das Lächeln, die lange Lodenhose, die weiße Strähne, der Siegelring und die Sauhatz – die zwischen dem Lipkowitz und der Klasse und ihm und mir die Verständigung erschwerten, doch zu überwinden gewesen, wenn da nicht im Hintergrund noch etwas gewesen wäre, was seiner sowieso schon umwitterten Figur eine nachgerade schon ins Mythische reichende Zusatz-Dimension verlieh – nämlich seine Schwester.
Sie trug den zauberhaft-anspruchsvollen Namen Aglaja und war viel schöner als alle anderen Mädchen, die ich je gesehen habe, eine junge Göttin mit schneeweißer Haut und dichtem blonden Haar, das in der Sonne kupfern schillerte, eine geradezu unirdische Erscheinung, die sich dahinbewegte wie ein Reh oder auch wie Diana auf der Rehpirsch – du lieber Himmel, man kann so pure Schönheit nicht anders beschreiben als durch Vergleiche und gar nicht so viele Vergleiche finden, um sie auch nur halbwegs zu beschreiben: sie war eben schön wie keine andere, sie würde sogar dem damals propagierten Rassenideal entsprochen haben – nordisch blau-blond und herrisch, wenn sie nicht dieses Propagandabild durch den simplen Umstand, daß sie eine Lipkowitz war, lächerlich gemacht hätte.
Wir sahen sie fast täglich, denn fast täglich holte sie, vom benachbarten Mädchengymnasium kommend, ihren Bruder von der Schule ab. Wenn wir Proleten und Bürger uns rudelweise durch das Schultor quetschten, stand sie schon da, angelehnt an das Drahtgitter des gegenüberliegenden Parks, ein wunderschönes, elegant durchgestrecktes Bein vor sich hin gestellt, das andere in Kniehöhe hinten an den Zaun gestemmt, gerade vor sich hinsehend, keinen von uns beachtend, lächelnd erst dann, wenn sie den Lipkowitz sah, ihm halbwegs entgegenund hierauf mit ihm abgehend, eingehängt in seinen Arm und nun auch ihn abschließend von uns.
Ja, das war’s: diese Erscheinungsform des Lipkowitz-Zweyensteynischen überstieg einfach unsere Möglichkeiten, sie lag in einem Bereich, in den selbst unsere verborgensten und verdorbensten Jungmännerträume nicht hineinlangten, vor dem wir uns vielleicht auch fürchteten: wer die Schönheit angeschaut mit Augen und so weiter.
Als der Geschichtstrottel dann seinen Willen durchgesetzt hatte, der Lipkowitz aus der Klasse abging und wir somit um Mittag auch die Göttin nicht mehr sahen, waren wir alle eher erleichtert.
Das Aglaja-Wesen scheint übrigens nicht gekommen zu sein; es war vorhin überhaupt keine Frau in der Gruppe zu sehen außer der Kwapil und der Helga – aber das sind Randfiguren, Statistinnen, nicht vergleichbar mit der Bedeutung, die das Aglaja-Wesen in dieser ganzen Geschichte besitzt. Oder ist sie unterdessen eingetroffen? Ich mag mich nicht nach ihr umsehen jetzt, aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen; selbst wenn sie zufällig gerade im Lande sein sollte, gibt’s ja da unten diese Störungen, von denen der Silberne vorhin gesprochen hat. Ich hoffe, das Aglaja-Wesen heute nicht zu sehen. Es gehört zwar dazu, aber nicht hierher.
Jedoch behielten wir, der Lipkowitz und ich, einander par distance im Auge: ich ihn, weil er nicht aufgehört hatte, mich zu interessieren, er mich, weil er seinerzeit vielleicht gern mit mir Freundschaft geschlossen hätte.
So wußte ich, daß er, sehr jung noch, nach dem Kriegsende und dem Tod seines Vater zurück in das Schloß auf dem Land gezogen war, um den Gutsbetrieb, das Sägewerk und die Papierfabrik weiterzuführen, was er mit überraschender Tüchtigkeit und beachtlichem kommerziellen Geschick tat, wie mir Kollegen aus der Wirtschaftsjournalistik gelegentlich erzählten; und wiederum etliche Jahre später schickte er mir eine Einladung, seiner Hochzeit mit einer ebenfalls sehr vornehm doppelnamigen Gräfin beizuwohnen, eine Einladung, die das Sauhatz-Syndrom in mir heftig aktivierte, denn nicht nur wurde auf diesem Faltblatt von edelstem Papier mit erlesensten Antiqua-Lettern die Hochzeit »Vermählung« genannt und sollte samt feierlicher Brautmesse in der Karlskirche – wo sonst?, doch nicht in St. Stephan, wo höchstens die Bürgerlichen heiraten! – stattfinden, nein, es war ferner als geeignete Kleidung für alle Beiwohnenden ausdrücklich der Frack vorgeschlagen, und, versteht sich, »U.A.W.G.«. Aber wie kommt einer wie ich dazu, sich auch noch Entschuldigungsgründe einfallen lassen zu müssen, wenn er keinen Frack besitzt und zu sowas sowieso nicht gehen will? Ich habe nichts gegen die Papierhandlung Huber & Lerner oder die k.u.k. Hofzuckerbäckerei Demel ihr gegenüber, obwohl ich mich darüber ärgere, daß jetzt auch unsere Sozialisten schon am Kohlmarkt Törtchen verzehren beziehungsweise Stahlstich-Visitkarten bestellen, kaum daß sie ihren elterlichen Hausmeisterund Gemeindewohnungen entronnen sind; für den, der sich in den Grundmustern unseres sonderbaren Landes auskennt, hat so etwas freilich tiefere Bedeutung und vielleicht sogar was Symptomatisches an sich, was man bei der Erstellung längerfristiger Zukunftsprognosen in Rechnung stellen müßte – ach, dieser rote Jungpolitiker mit den berechtigten Hoffnungen auf höhere und, wer weiß, höchste Staatsämter, mit dem ich da, ist auch schon wieder eine Zeit her, im Zuge saß, so schön braungebrannt war er, wohl im Urlaub gewesen?, nein, er hatte sich die gesunde Farbe auf einer Dienstreise geholt, in Triest hatte er geweilt und im Friaulischen, wegen eines Kulturaustausches und weil da irgendwas wegen der Hilfeleistungen für die Erdbebenopfer hatte besprochen werden müssen – es muß so um 1977 herum gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Und in Triest hatten sie gerade ein Wiener Kaffeehaus eröffnet, ein riesiges Franz-Joseph-Bild hing dort an der Wand, und eine Militärmusik spielte – man muß sich das nur vorstellen, sagte der Jungpolitiker, ein Mann aus der dritten Generation, schon aus einer linken Universitäts-Ecke hervor auf den Kohlmarkt geraten – man muß sich das vorstellen, die spielten den Radetzkymarsch! Als ob das nicht etliche Jahrhunderte früher die verhaßteste Melodie gewesen wäre, die je italienische Ohren verletzt hat! Und als ich mich deklarierte, als Österreicher, Wiener, Politiker – na, einen solchen Approach (er sagte wirklich »Approach«!) möcht’ ich in Niederösterreich haben! Den hab’ ich nicht einmal in Ottakring, obwohl schon mein Urgroßvater dort ein alter Sozi war. Aber erst dann in Friaul, sagte die junge, kraftvolle Stütze der Sozialistischen Partei Österreichs, das war direkt schon überwältigend, dort laufen junge Leute mit Leiberln herum, auf denen der Doppeladler drauf ist, reden von Österreich, als wär’ das noch was, und Sie werden es mir nicht glauben, aber um ein Haar hätt’ mir ein altes Mutterl die Hand geküßt, wie sie gehört hat, wer ich bin, grad’ im letzten Momenterl noch hab’ ich’s verhindern können! Ja, dort sind wir noch wer, mehr als bei uns zu Hause! Und wie ich voriges Jahr in Ungarn war, also zunächst war die Atmosphäre ja etwas steif, aber dann, nach ein paar Flascherln Tokayer, also ich sag’ Ihnen, dieses alte Österreich – … Mehr sagte er dann nicht, es war ihm wohl endlich, schließlich war er ja ein gelernter und tüchtiger Politiker, aufgegangen, daß er sich da doch ein bißchen vergaloppiert hatte; nachher gab er mir dann eine Visitkarte mit seiner Privattelefonnummer, auch die eine unverkennbare Geschmacksleistung des Hauses Huber & Lerner, natürlich.
Ach ja, mir ist schon klar, wohin das alles gerichtet ist und wie sich das einrichten wird bei uns, wenn die kommende Eiszeit an den Donauufern überlebt werden sollte: dann wird wohl das alte Grundmuster wieder zum Vorschein kommen, und selbst ich muß zugeben, daß sich’s nach allen Erfahrungen in diesem Muster vielleicht relativ gut und vernünftig leben lassen wird, nicht nur von den neuen und alten Aristokraten, sondern auch von meinesgleichen. Aber mein Vater, ein alter Liberaler, wäre nie zum Demel gegangen, und ich hoffe doch sehr, daß wenigstens einer meiner Enkel Kainit und Republikaner sein wird, wenn die österreichische Geschichte wieder einmal ins Monarchische rutschen sollte.
… Ich habe mich verlaufen. Diese Rückwege in die vergangene Zeit haben halt ihre Abzweigungen, und der da führt weiter