Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe

Die Vielgeliebte - Jörg Mauthe


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clevere junge Manager und Redaktionstypen und hübsche Verkäuferinnen und dazwischen G’scherte vom Land und Balkanesen, die sich von der Mariahilfer Straße hierher verirrt haben; das alles hat’s eilig und muß schnell noch was Wichtiges erledigen, hat eben was erledigt, hat Sorgen und noch was zu besorgen, ist schon erledigt, kriegt keine Luft, läuft in die Autos, rempelt sich an und strampelt wie der Frosch in der Milch. Als Futterplatz, Jagdrevier und Tränke wird es von keinem anderen Stadtteil übertroffen, dieses Neubaugassen-Viertel, in dem sich das Dschungelhafte unserer Zivilisation so deutlich manifestiert (oder manifestierte; wer weiß schon, was morgen sein wird?).

      Da alles erhältlich war in der Neubaugasse, konnte man dort sogar konzentrierte Ruhe bekommen. Ich hatte mein kleines Unternehmen in einer Hinterhofwohnung eingerichet, in welcher der Lärm der Gasse, die doch nur ein paar Dutzend Schritte entfernt war, nur mehr als ein fernes, gleichmäßiges Rauschen hörbar war. In allen anderen Wohnungen dieses Hinterhauses lebten Greisinnen leise wie Zimmerpflanzen dahin, vor unseren Fenstern bildeten nie geschnittene Fliederbüsche einen grünen Schirm, und in den Fenstern selbst standen schön geordnet die vielen Blumen, die meine gänzlich unentbehrliche Mitarbeiterin teils mit Begeisterung kaufte, teils von ihren Gefolgsleuten in Überfülle erhielt; die dunkelroten Rosen des Fürsten, denn dieser Farbe blieb er hinfort treu, wirkten neben den ebenso unveränderlich weißen des Legationsrates nun als eine Dominante dieses floristischen Stillebens.

      Aber so idyllisch das auch aussah, die Arbeit, die wir vor diesem blumigen Hintergrund leisteten, war es leider nicht. Meine anfängliche Hoffnung, daß man mit der Herausgabe hochspezialisierter Fachliteratur und sorgfältig redigierter Dokumentationen Erfolg haben könnte, erfüllte sich zwar, aber auf die gleichfalls erhoffte langsam-gründliche und anständig-geruhsame Weise ging’s leider ganz und gar nicht; die entsprach nun einmal nicht dem allgemein vorherrschenden Trend zum knappen Termin; das zu umgehender Effizienz eingesetzte Kapital wollte raschest auch umgesetzt sein, gut Ding durfte alles, nur keine Weile brauchen; die Qualität der Produktion bestimmte sich nicht nur nach ihrer tatsächlichen Güte, sondern ebenso danach, daß sie im richtigen – und das hieß stets: schnellstmöglichen – Augenblick zum richtigen Platz – nämlich überallhin – gelangte. Auch war Werbung unumgänglich, aber um die finanzieren zu können, mußten wir wohl oder übel selbst ins Werbegeschäft hineinsteigen; das jedoch verlangte erst recht Effizienz und Schnelligkeit und war mit der übrigen oder vielmehr eigentlichen Arbeit nie ganz in Einklang zu bringen – nun ja, am Ende hatte ich mehr Geld, als ich eigentlich brauchte, aber auch einen Haufen Nierensteine, die ich nicht gebraucht hätte, war höchst überanstrengt und zugleich unbefriedigt.

      Darin war ich nicht der einzige, so ging es damals vielen: Überanstrengung war ein Stilmerkmal jener Jahre und einer der Gründe für die ersten Störungen der laufenden Programme, die die große Interdependenzmaschinerie uns lieferte.

      Ans Aufgeben dachten wir deswegen freilich noch lange nicht, sondern arbeiteten uns unter zunehmend mörderischer werdenden Bedingungen fleißig weiter durch Berge von Schwierigkeiten, um jenen magischen Punkt zu erreichen, welcher »der Erfolg« hieß und dessen Vorzug allein darin bestand, daß man dort nicht mehr das tun mußte, was man hatte tun müssen, um ihn zu erreichen. Aber wer durchschaute damals schon diesen Circulus vitiosus, der uns allen die Seelen aus dem Leib sog und den gesunden Kreislauf verdarb?

      Der Medizinalrat, ja, der schon. Der hatte das früher begriffen als seine Patienten.

      »Einer der Gründe dafür, warum unsere Zivilisation zum Teufel gehen wird, ist die ungleiche Verteilung der Arbeitslast«, pflegte er zu lehren. »Früher waren die Gescheiten gescheit genug, den ganzen lieben Tag lang auf der Agora herumzustehen oder über die Piazza zu spazieren, zum einzigen Zwecke des Tratschens, Klatschens, Streitens und Geschichtenerzählens. So entstanden die sokratischen Dialoge, die großen Epen, die Lehrgebäude der Pythagoräer und die Stoa, die Divina commedia und die Vermutung, daß alles Gute auch schön sein müsse. Aus diesem endlosen Gerede erwuchsen Philosophie, Literatur und Theologie, Kunst und was alles sonst noch für wichtig zu erachten ist. Alles. Indessen arbeiteten die Unerfinderischen und Unbegabten, die Trottel und die Armen auf den Feldern und in den Werkstätten, um dem Tratsch und den Diskussionen ihrer Herren die gesunde ökonomische Grundlage zu geben. So und nicht anders entstand Kultur. Unterbrich mich bitte nicht – deinen Einwand, daß dies Systeme schreiender sozialer Ungerechtigkeiten waren, akzeptiere ich sowieso, obwohl ich mir, beim Allmächtigen Baumeister!, wünschte, es würden endlich einmal die statistischen Nachweise dafür veröffentlicht – vorhanden sind sie, daß Armut als kollektives Phänomen nicht nur ökonomische oder soziale Ursachen hat, sondern vielfach einem Mangel an Intelligenz entspringt, insofern nämlich, als ja auch ökonomische und soziale Verhältnisse von Begabung und Intelligenz bestimmt werden. Nur – wie steht’s denn heute mit der Gerechtigkeit? So steht es, daß die Leute mit dem höheren Intelligenzund Bildungsquotienten gar keine Zeit mehr für die Agora haben, sondern sich in Sechzigbis Achtzigstundenwochen bis zum Herzinfarkt schinden, um das große Werkel mit Ach und Krach im Laufen zu halten, während die Herren Kolonen nach Caorle und Riccione fahren, wo sie faul am Strand liegen, um ihrerseits und auf ihre Weise von Gott und der Welt zu reden. Und so sehen heutzutage Gott und die Welt denn auch aus.«

      Ja, das war so die Art, in der mein Freund seine Raisonnements vorzubringen pflegte, leichthin, feuilletonistisch quasi, nicht gleich erkennen lassend, daß dahinter eine Masse von fundiertem Wissen und präzisen Informationen steckte, die sein Gehirn aufgesogen hatte wie ein Schwamm das Wasser. Schade, daß er völlig unfähig war, seine Meinungen niederzuschreiben, es war die reinste Vergeudung, was er da als Wortsteller trieb, als ein unheiliger Nikolaus, der die Kindlein mit skandalösen Erkenntniskletzen beschenkte, mit Milchzuckerln unfrommer Denkungsart und bitteren Denknüssen, aber er war eben kein Festhalter, der Medizinalrat, kein Fixierer, sondern ein eitler Peripatetiker, ein großer Causeur, der auf das Ernstgenommenwerden gerne verzichtete, wenn er nur Verblüffung erzielen konnte. Die freilich war ihm sicher, sobald er nur den Mund auftat, lediglich Tuzzi nahm ihn alsbald ernst und hörte seinen Raisonnements so aufmerksam zu, als müßte er sie in Gedächtnisprotokollen festhalten. Vielleicht hat er das sogar wirklich getan; der Legationsrat und sein Interministerielles Sonderkomitee sind ja an einigen Maßnahmen der letzten Tage sicherlich mitbeteiligt gewesen; etliche Details dieser Maßnahmen (auf deren Wirkung man nur hoffen kann) muten mich denn auch so an, als hätte da jemand aus einigen Thesen des Medizinalrats Konsequenzen gezogen.

      Meine Montag-Besuche in seinem Dienstzimmer setzten sich fort, ohne daß er wieder auf das gewisse Thema zu sprechen gekommen wäre; das hätte mir auffallen sollen, denn der Medizinalrat hatte sich meines Wissens noch niemals auch nur einer Spur von Diskretion befleißigt, wenn ihn etwas interessierte oder er irgendwas in Erfahrung bringen wollte; aber es fiel mir nicht auf, oder vielmehr: ich gab mich lieber dem Glauben hin, er habe die Sache vergessen oder wolle sie ihrer Aussichtslosigkeit wegen nicht weiter verfolgen. Natürlich steckte hinter dieser Selbsttäuschung nicht viel anderes als der Wunsch, den besonderen Geist, der in diesem Raum herrschte, nicht zu verstören.

      Die lange Verbundenheit mit dem Mann, der diesen Geist beschwor, und einige Umstände meiner allzu geschäftigen Lebensweise hatten es nämlich mit sich gebracht, daß ich jenes große Zimmer mit seinen altmodisch hohen Fenstern, seinen dicken Vorhängen und Teppichen als einen Zufluchtsort und Ruhepunkt überaus schätzte. Es war, möchte ich sagen, ein heilsames Zimmer; und der Aufenthalt darin, auch wenn er nur eine halbe Stunde oder nicht viel länger dauerte, wirkte auf die Nerven, auf meine jedenfalls, wie eine gute Massage auf die Muskeln, entspannend und besänftigend über Tage hinaus.

      Nicht, daß es ein besonders schönes Zimmer gewesen wäre; dazu war sein Mobiliar viel zu groß dimensioniert und waren zu viele Erinnerungsstücke, gerahmte Fotografien und Berufstrophäen allzu unbekümmert über sämtliche vorhandenen, horizontalen und senkrechten Flächen verteilt, darunter freilich auch sehr wertvolle, ja kostbare Stücke, denn wenn der Medizinalrat auch keinerlei Geschmack besaß, so hatte er doch einen unbeirrbaren Riecher für hohe Qualitäten; um etliche Bilder und Kleinbronzen in diesem Raum hätte ihn jedes Museum beneidet.

      In meinen Augen war das bedeutendste Stück eine Federzeichnung, darstellend eine Hügellandschaft, in der ein bäuerlicher Leichenwagen auf eine enge Straßenkurve zufuhr; diese sehr gute Arbeit aus der mittleren Zeit Alfred


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