Die Weissen Männer. Arthur Gordon Wolf

Die Weissen Männer - Arthur Gordon Wolf


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andauerte, war es nicht minder beunruhigend. Geradezu unheimlich. In diesen Sekundensplittern hatte er sogar seinen eigenen Namen vergessen. Nun, Brandon Tolliver war auch kein Name, der einen besonderen Erinnerungswert besaß. Wer war er denn schon? Ein unbedeutender Softwareingenieur, der nicht einmal die Hälfte seiner Überstunden bezahlt bekam. Ein winziges Rädchen inmitten einer gigantischen Megamaschinerie. Ein nickendes Hündchen, das gehorsam und freudig die Tritte seines Herrchens hinnahm. Er stöhnte laut auf. Die Wahrheit sah ernüchternd aus. Er war ein Vollidiot, der sich nicht mehr als diese schäbige Bude hier im T- Block leisten konnte.

      Es dauerte eine ganze Zeit, bis es ihm blinzelnd gelang, die roten Lichtzeichen, die seine Uhr an die Decke warf, zu entziffern. ›3:27‹. Verdammt, es war noch mitten in der Nacht! Was hatte ihn nur zu dieser unchristlichen Stunde geweckt?

      Regungslos blieb er liegen und lauschte angestrengt nach der Ursache. Für einige Sekunden hielt er sogar den Atem an, doch das Einzige, was seine Sinne wahrnahmen, war die drückende Hitze im Zimmer. Die Klimaanlage hatte ausgerechnet mitten im Sommer ihren Geist aufgegeben, und da er sich gerade mal wieder in einer finanziellen Notlage befand, kam eine Reparatur nicht in Frage. Stattdessen hatte er das Fenster so weit wie möglich geöffnet. Die kaum wahrnehmbare Brise brachte allerdings keine Linderung. Immerhin wurde er hier, oberhalb des 65. Stockwerks, nicht von Straßenlärm belästigt. Er hielt erneut die Luft an. Wenn man es genau betrachtete, wurde man von überhaupt nichts belästigt. Nicht einmal der leiseste Windhauch war zu hören.

      Brandon dachte gerade drüber nach, sich ein Glas Wasser zu holen, als er doch etwas hörte. Eine Stimme.

      »Alexander? … Alexander! … Alexander?«

      Es war eine alte, brüchige Stimme, die ihm sehr vertraut war. Direkt neben ihm wohnte eine alte, alleinstehende Dame, die er gelegentlich im Aufzug oder im Flur traf. Miss Brookdahl. Eine silberhaarige, stets freundliche kleine Frau, die mit einem seltsam anachronistischen Stolz noch immer auf ihrem mittelalterlichen Titel »Miss« bestand. Er musste auch jetzt wieder darüber lächeln. Miss Brookdahl war ein liebenswürdiges Fossil, dem es auf wundersame Weise gelungen war, in diese Zeit überzuwechseln. Vermutlich durch eine Art Dimensionspforte, dachte er.

      Brandon fuhr plötzlich im Bett hoch. Wen rief die alte Frau dann aber mitten in der Nacht? Sie lebte schließlich schon seit mehr als 40 Jahren allein in dieser Wohnung. Sprach sie etwa im Schlaf?

      »Vermutlich«, murmelte er und stieß wahrscheinlich zum 10.000 Mal in dieser Woche einen Fluch wegen der maroden Bausubstanz des Hauses aus.

      Die einzelnen Wohneinheiten waren zwecks Materialersparnis nur durch sehr dünne Wände voneinander getrennt. Eine hauchdünne Membran im Inneren sorgte allerdings dafür, dass über 98% aller Schallwellen absorbiert wurden. Bislang hatten die Dinger gut funktioniert, doch nun war offenbar auch diese technische Errungenschaft den Weg allen Irdischen gegangen. Entropie und Chaos, wohin man nur blickte; seine Klimaanlage und die hellhörige Wand waren da nur lächerliche Nebenschauplätze.

      Wenn man die gefilterten News richtig interpretierte und nur einem Prozent der Gerüchte glaubte, so waren Ausfälle in weitaus komplexeren elektronischen Schaltsystemen keine Seltenheit. Erst gestern hatte ihm ein Kollege in der Firma erzählt, ein Freund von ihm habe von einer Art Supervirus erfahren, das sogar Virtual Reality Spiele und Replikanten befiel. Angeblich habe es bereits viele Tote gegeben. Natürlich konnte man derlei »Informationen« unter der Rubrik »urbane Legenden« verbuchen, die gleich neben dem Artikel »Elvis lebt auf Beteigeuze« im National Enquirer erschienen, aber irgendwie spürte Brandon, dass mehr dahinter steckte. Glücklicherweise beschäftigte sich seine Firma nur mit der Erstellung und Wartung von Logistik- und Online-Buchungssoftware.

      In der letzten Zeit fiel auf, dass auch ihre Kunden (vornehmlich Konzerne aus dem Bereich der Lebensmittel- und Möbel- Industrie) vermehrt über seltsame Ausfälle klagten. Häufig fanden sich in der Software plötzlich Bugs oder Freezers, die durch die Programmierung eigentlich hätten vereitelt werden müssen. Als Ursache konnten weder Trojaner noch Viren identifiziert werden. Die Umschreibung und Löschung bestimmter Programmteile geschah einfach. Brandon hörte Miss Brookdahl nur noch einmal in dieser Nacht den Namen »Alexander« murmeln, dann kehrte Stille ein. Kurz bevor er endlich wieder einschlief, drang ein helles Kinderlachen an sein Ohr, er konnte aber nicht mehr erkennen, ob es sich dabei nicht bereits um einen Teil seiner eigenen Traumwelt handelte.

      Es sollte mehr als eine Woche vergehen, bevor Brandon überhaupt wieder die Gegenwart seiner Nachbarin bemerkte. Die merkwürdigen Rufe in jener Nacht und das noch seltsamere Lachen waren längst von alltäglichen und nur zu realen Erlebnissen überlagert worden. Danah, seine mehrjährige Freundin, hatte ihm von heute auf morgen den Laufpass gegeben. Und das höchst stilvoll per Holomail.

      »Ich hab lange überlegt, Brandon, aber unsere Beziehung bringt mich irgendwie nicht weiter. Ich hoffe, du verstehst mich.«

      Sie hatte dabei einen rosa farbigen Kaugummi zwischen ihren Lippen hervorgezogen und langsam um den Zeigefinger gewickelt.

      »Nun ja, du weißt ja, wie das ist. Heutzutage muss jeder sehen, wo er bleibt. Tja, und du fährst einfach auf einem zu langsamen Gleis, Baby. Du ENTWICKELST dich einfach nicht.«

      Danah blickte dabei in einen für Brandon unsichtbaren Spiegel oberhalb ihrer Holokamera und zupfte sich ungeniert einige Haare ihrer Augenbrauen zurecht, mit der anderen Hand immer noch den widerlichen Kaugummi in die Länge ziehend.

      »Coraleen meint auch, dass du mich nur bremst.« Sie stöhnte gedehnt. »Und, wenn du mal ganz ehrlich bist, im Bett bist du auch nicht gerade ein Hengst.«

      Bei diesen Worten stand er kurz davor, ein Glas in ihre widerlich grinsende Fratze zu werfen, doch glücklicherweise siegte die Vernunft. Danah hätte ohnehin nichts davon gespürt und ohne Holoscreen würde sich sein Fenster zu der Welt dort draußen für immer schließen. Allerdings begann er sich mehr und mehr zu fragen, ob dieses Fenster nicht besser zubetoniert werden sollte. Selbst die Nachrichten waren doch nichts anderes als aufbereitete virtuelle Fantasien. Glaubte man den strahlend bunten Bildern, befand er sich inmitten eines endlosen Paradieses. Seltsam nur, dass er außerhalb seines Wohnblocks nirgendwo auch nur ansatzweise vergleichbare Szenarien entdecken konnte. Hinter den strahlenden Leuchtreklamen bröckelte der Putz; ohne die künstlichen Lichter bestanden die Hauptfarben aus Grau, Braun und Schwarz. Die Stadt war in Wirklichkeit eine dreckige kalte Wüste, doch niemand schien den Mut zu besitzen, genau hinzusehen. Die heile Virtual Reality Holowelt war doch so viel angenehmer.

      Unseren täglichen virtuellen Traum gib uns heute!

      Das lebensgroße Holobild seiner Verflossenen war jedenfalls alles andere als traumhaft gewesen. Und ähnlich unerfreulich war es auch in der Firma zugegangen. Aus den anfänglich vereinzelten Bugs hatte sich binnen weniger Tage eine regelrechte Plage entwickelt. Die Matrix vieler Tabellen schien sich plötzlich komplett gewandelt zu haben. Und noch immer konnte kein Muster, kein agierender Virus, identifiziert werden. Brandon und seine Kollegen schufteten fast rund um die Uhr, doch sie arbeiteten gegen einen übermächtigen Gegner. War ein String an einer Stelle wieder hergestellt worden, brachen an anderer Stelle wenig später ganze Cluster zusammen. Niemand wagte es laut auszusprechen, doch wenn nicht bald die Ursache für die Fehler gefunden würde, war das gesamte elektronische Netzwerk dem Untergang geweiht. Und dies hätte Auswirkungen auf jeden Aspekt des alltäglichen Lebens – angefangen von sprachgesteuerten Kaffeemaschinen, über Heizungen und Schlösser bis hin zu Verkehrsleitsystemen und jeder Form von Kommunikationsmedien. Y2K-Bug war vielleicht doch kein Mythos. Er hatte zwar eine gehörige Verspätung, dafür kam er nun aber mit Volldampf.

      Es sollte mehr als eine Woche vergehen, bevor Brandon überhaupt wieder die Gegenwart seiner Nachbarin bemerkte. Die merkwürdigen Rufe in jener Nacht und das noch seltsamere Lachen waren längst von alltäglichen und nur zu realen Erlebnissen überlagert worden. Danah, seine mehrjährige Freundin, hatte ihm von heute auf morgen den Laufpass gegeben. Und das höchst stilvoll per


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