Die Weissen Männer. Arthur Gordon Wolf
er laut aus und wäre durch die ruckhafte Bewegung seines Oberkörpers beinahe vom Sims gestürzt.
Im letzten Moment gelang es ihm, mit gestreckten Armen wieder das Gleichgewicht zu erlangen.
»Das würde echt zu dir passen«, kicherte er nervös, »einen Meter vor dem Ziel abzustürzen.«
Als seine Fingerspitzen das nächste Mal Glas ertasteten, gab die Fläche ein wenig nach. Er gestattete sich allerdings keinen Moment der Erleichterung, da ihm jetzt erst der wirklich knifflige Teil seiner kleinen Höhenwanderung bevorstand. Der Sims war zu schmal, als dass er eine Drehung gewagt hätte, und so forschte er blind mit Schuhspitze und Händen nach dem geeigneten Spalt zum Einstieg. Er musste höllisch aufpassen; sollten die Fensterscharniere hier nicht so eingerostet sein wie bei seiner Wohnung, konnte ein zu fester Stoß dazu führen, dass der halbe Flügel plötzlich herum schwang und ihm einen Freiflug hinunter auf die Straße bescherte.
Die Sorge erwies sich als unbegründet; alles an diesem Gebäude befand sich in einem gleichmäßigen Zustand des Verfalls. Die Scharniere bildeten da keine Ausnahme. Als er schließlich vorsichtig mit dem Rücken zuerst in die Wohnung stieg, fiel sein Blick unweigerlich auf den schmalen Sims. Deutliche Risse durchzogen den Stein, saurer Regen und Abgase hatten zudem die Kante an vielen Stellen abbröckeln lassen. Nur gut, dass ich das erst jetzt sehe, dachte er. Wäre ihm die marode Beschaffenheit des Vorsprungs schon vorher aufgefallen, hätten ihn keine zehn Replikanten nach draußen zerren können.
Er war im Schlafzimmer gelandet. Ein kurzer Blick reichte aus, um zu erkennen, dass sich niemand außer ihm im Raum befand. Da alle Wohneinheiten dieses Blocks identisch geschnitten waren, konnte sich seine Nachbarin demnach nur im Wohnzimmer oder der winzigen Nasszelle aufhalten. Er verharrte kurz und lauschte. Keine Schritte. Keine umfallenden Gegenstände. Kein Kinderlachen.
Seltsamerweise wirkte die Stille nun noch bedrohlicher als der Lärm und die Schreie zuvor. Brandon wagte es nicht, laut zu rufen. Etwas Böses schien hier zu lauern, bereit, sich jederzeit auf ihn zu stürzen.
Möglichst geräuschlos öffnete er die Tür zum Wohnzimmer. Schon nach einer Handbreit stieß er jedoch auf ein Hindernis. Durch den schmalen Spalt konnte er umgeworfene Stühle und Scherben am Boden erkennen. Wo war nur Miss Brookdahl?
Er stemmte sich fester gegen die Tür, und schließlich gab sie unter knirschendem Protest nach.
Der Raum sah aus, als sei eine Splittergranate explodiert. Überall lagen Reste von Geschirr und Stofffetzen verstreut. Die einheitlich weißen Wände waren durch wilde rote und grüne Schlieren verunstaltet worden. Brandon, der vergleichbare Szenarien aus diversen Holo-Horror-Thrillern kannte, befürchtete sofort das Schlimmste. Als seine Finger allerdings vorsichtig über die Schmierereien fuhren, ertasteten sie eine gallertartige Masse, die nach Erdbeeren roch. Er atmete erleichtert auf. Die Vandalen hatten die Wände zumindest nicht mit Blut, sondern nur mit Marmelade verziert. Das Gefühl der Befreiung hielt nur wenige Augenblicke an; als Brandon seine Nachbarin zusammengekauert hinter einem umgestürzten Sessel erspähte, waren seine Sinne plötzlich wieder in höchster Alarmbereitschaft.
Er wollte ihr zur Hilfe eilen, doch die alte Dame streckte ihm einen zitternden Arm abwehrend entgegen.
»Nein … «, keuchte sie. »Passen Sie auf, Brandon … er … er steckt hier irgendwo. Und er ist gefährlich!«
»Er? Von wem reden Sie?«, verwirrt blickte er sich um.
»Von Alexander. Er … er reagiert auf keine meiner Anweisungen mehr. Stattdessen … «
Ein ersticktes Weinen hinderte sie daran, weiterzusprechen. Das war aber auch nicht notwendig. Selbst ein Blinder hätte feststellen können, was hier stattdessen geschehen war.
Brandon bewegte sich wie auf einem Minenfeld. Nachdem er umständlich einen halb zersplitterten Beistelltisch und die Reste einer großen Bodenvase umrundet hatte, entdeckte er schließlich den Gesuchten. Das Alexander-Wesen saß hinter einem quer stehenden Sofa an der Wand und schaufelte sich mit den Fingern Marmelade in den Mund. Sein altersloses Gesicht sah aus, als sei es durch die Scheibe eines altertümlichen Autos ohne Airbag oder Antigravitationsschild katapultiert worden. Alexander achtete jedoch nicht auf die rote Masse, die selbst von seinen Haaren tropfte. Vergnügt quietschend angelte er mit seinen verklebten Finger seelenruhig auch nach dem letzten Rest im Glas. Brandon überlief es eiskalt. Das Ding dort war nur die abstoßende Karikatur eines liebenswerten Lausbuben. Schon bei der ersten Berührung hatte er gespürt, dass dieser Zwerg hinterhältig und böse war. Etwas musste bei der Konstruktion des Replikanten furchtbar schief gelaufen sein, und nun hatte das widernatürliche Geschöpf sein wahres Wesen gezeigt.
Er wandte sich zu seiner Nachbarin um.
»Wie lautet sein Codewort?«
Jeder Replikant erhielt von seinem Besitzer ein Codewort, mit dessen Hilfe alle Funktionen der biomechanischen Lebensform in eine Art Standby-Modus geschaltet werden. Dies war eine doppelte Absicherung, falls normale Kommandos wie »Halt!« oder »Stopp!« keine Wirkung mehr zeigen sollten. UMC versicherte zwar, dass es sich dabei um eine vollkommen überflüssige Redundanz handelte; da die Anwender ihrer Produkte aber ›mehr als sicher‹ sein sollten, hatte man sie zusätzlich eingebaut.
»Rumpelstilzchen«, antwortete Miss Brookdahl. »Aber … «
Brandon achtete nicht weiter auf ihre Worte. Er näherte sich der sitzenden Gestalt auf etwa zwei Meter und rief: »Rumpelstilzchen!«
Alexander nahm überhaupt erst jetzt seine Gegenwart wahr. Anstatt jedoch wie eine Marionette alle viere von sich zu strecken, grinste er ihn mit seinem rot verschmierten Clownsmund nur frech an.
»Guten Tag, Mr. Brandon«, kicherte er. »Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Mit zwei seiner dürren Finger klaubte er einen Rest Marmelade aus dem Glas und streckte ihm dann den Arm auffordernd entgegen.
»Auch mal probieren? Ist leeecker!«
»Rumpelstilzchen!«, schrie Brandon nun.
Das Alexander-Ding kicherte lauter. Bösartiger.
»War das jetzt ein Ja oder ein Nein?«
Nur mühsam unterdrückte Brandon einen Fluch. Der Replikant hatte weit mehr als nur eine Fehlfunktion, er unterlief offenbar gezielt unzählige von Not- und Abschaltvorgängen und handelte ausschließlich nach seinem eigenen Ermessen. Er benahm sich fast wie ein selbständiges Individuum. Oder wie ein störrisches kleines Kind.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sich Brandon von dem unheimlichen Wesen ab. Geschlagen und müde schlurfte er mit hängenden Schultern Richtung Ausgang. Er hatte noch keine drei Schritte gemacht, als er plötzlich herumfuhr und sich mit einem lauten Schrei auf den Zwerg stürzte. Der Replikant war über den Angriff so erstaunt, dass er nur unkoordiniert mit seinen Armen fuchtelte. Brandon presste sein ganzes Körpergewicht gegen die kleine Gestalt und entging so den meisten seiner Attacken. Der Schein trog. Das Geschöpf mochte zwar die Größe eines Kindes haben, seine Kräfte überstiegen die eines Erwachsenen aber mindestens um das Doppelte.
Eine klebrige Faust erwischte Brandons Schläfe und ließ ihn fast die Besinnung verlieren. Viel schlimmer als das wilde Schlagen war das Kreischen, das die Kreatur nun unablässig wie eine Sirene ausstieß. Brandon versuchte, den Schwindel und die Schmerzen in seinen Ohren zu unterdrücken und tastete blind im Nacken seines Gegners herum. Endlich fand er die richtige Stelle. Er drückte fester und alles Kreischen erstarb. Glücklicherweise funktionierte immerhin noch die manuelle Abschaltung. Alexanders Arme klatschten wie tote Schlangen laut auf den Boden. Seine offenen Augen hatten jeglichen Ausdruck verloren und starrten ins Nichts. Brandon verpasste ihm dennoch einen Kinnhaken.
»Verdammter Mistzwerg!«, keuchte er.
Es störte ihn nicht, dass er sich dabei über und über mit Marmelade besudelte. Er spürte auch nicht, dass seine Haut an den Knöcheln bei den weiteren Hieben aufplatzte.
»Verfluchte Missgeburt!«
Es tat einfach zu gut, immer und immer wieder in diese teuflische Clownsfratze