Die Sennerin aus der Großstadt. Vroni Müller

Die Sennerin aus der Großstadt - Vroni Müller


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kauten. Sie selbst hatte sich ein Radler in einem Maßkrug geholt und mit Mühe auf einer Bierbank Platz gefunden. Die angebotenen Speisen sahen in ihren Augen alle nicht appetitlich aus, sodass sie sich an eine Laugenbrezel klammerte, die fliegende Händler aus großen Körben für einen unfassbaren Preis an die munteren Zecher verkauften.

      Vielleicht wäre sie, wenn dieser Abend positiv verlaufen wäre, noch einmal hingegangen, aber sie saß eine oder zwei Stunden an ihrem Tisch, ohne auch nur im Geringsten mit den anderen auf der Bank ins Gespräch zu kommen. Lag es an ihrer Schüchternheit? Hätte sie auch mal was fragen sollen oder einfach ungefragt mitplappern sollen? Doch das war gar nicht ihre Art, und sie wäre sich doof vorgekommen, mit Wildfremden einfach so über Gott und die Welt und ihre Alltagsprobleme zu plaudern.

      Die sensationellen Einkaufsmöglichkeiten, die die Bewohner aus ihrem Dorf so sehr lobten, hatten Selma ebenso ernüchtert. In der wahrhaft riesigen und langen Fußgängerzone reihte sich ein großes Geschäft an das andere, jedes lobte das eigene Warenangebot über den grünen Klee, und das am besten noch in leuchtenden Großbuchstaben. In Menschentrauben schoben sich die Kaufwilligen mit ihren sperrigen Einkaufstaschen von einer Ladentür zur nächsten. Das überreiche Angebot erschlug Selma fast.

      Wenn man es etwas exklusiver haben wollte, dann musste man in eine der edlen Boutiquen in der Maximilianstraße gehen, wo sich die ganz großen Namen der Modewelt mit dezenten und wohlklimatisierten Geschäfte ansiedelten. Dort huschten die ausländischen Gäste der naheliegenden Nobelhotels mit ihren goldenen Kreditkarten oder die gut betuchten Damen der Münchner Gesellschaft durch die großen Glastüren, die zumeist ein Sicherheitsmann öffnete. Niemals im Leben, selbst wenn Selma es sich von ihrem schmalen Gehalt hätte leisten können, hätte sie es gewagt, in diese Welt der berühmten Designer einzutreten.

      Natürlich waren sie schön anzusehen, die edlen Modelle, die an klapperdürren Schaufensterpuppen kunstvoll arrangiert waren. Doch wenn sie sich vor Augen hielt, wie ihr Chef oder ihre Kolleginnen reagieren würden, wenn sie in diesen extravaganten Schöpfungen im Büro erscheinen würde –, da musste sie selbst schmunzeln. Das meiste aus diesen Kollektionen war einfach nicht alltagstauglich. Hauchdünne und empfindliche Stoffe, gewagte Schnitte, die man vermutlich nur im Stehen und nicht im Sitzen tragen konnte, ohne zu viel vom Intimbereich preiszugeben, das war nicht ihre Welt.

      Manchmal wurde Selma von den Dorfbewohnern gebeten, am Wochenende doch dies und das mitzubringen, da vor Ort die einzige Auswahl darin bestand, im kleinen Tante-Emma-Laden oder gleich beim Bauern direkt zu kaufen oder eben in die nächstgrößere Kreisstadt, 15 Kilometer entfernt, zu fahren. In den letzten Monaten aber war die bisher so entlegene Gegend mit einem äußerst leistungsfähigen Internetanschluss ausgestattet worden, sodass jeder auch in der entlegensten Berghütte online bestellen konnte. Ein paar Tage nach dem anonymen Klick im weltweiten Netz kamen selbst die exotischsten Lieferungen durch den örtlichen Postboten Paul an. Der ächzte zwar manchmal, was die Leute nur alles bestellen würden, doch Selmas Rucksack für die Heimfahrt zu ihrer geliebten Oma wurde spürbar leichter.

      Oma Rosi hatte nie verlangt, dass Selma an den Wochenenden heimfuhr, doch die junge Frau konnte sich gar nichts anderes oder gar Schöneres vorstellen, als die freien Stunden mit ihrer Großmutter in dem kleinen Haus am Dorfrand zu verbringen. Wie aus einem alten Märchen sah das kleine Zuhause aus. Hinter einer cremefarbenen Fassade verbargen sich niedrige Zimmer mit geringer Deckenhöhe. Das Badezimmer war mit bunten Kacheln aus den Siebzigerjahren eventuell nicht mehr ganz zeitgemäß, und die Küche glänzte nicht durch moderne Elektrogeräte, aber all das hatte Selma nie gestört. Die zwei Schlafzimmer, in denen sie und ihre Großmutter ihre eigenen Königreiche hatten, waren mit Bett und Schrank fast schon überfüllt. Das Ensemble, das heutzutage vermutlich bei den meisten Eigentümern einen massiven Umbaudrang ausgelöst hätte, wurde komplettiert durch ein winziges Wohnzimmer, in dem eine Couch und ein alter Röhrenfernseher die Abende des seltsamen Gespannes abrundeten.

      Was hatte ihre Oma gearbeitet, bevor sie sich in Vollzeit um die Waise Selma gekümmert hatte? Das war eine Frage, die sich kurioserweise zum ersten Mal stellte, als die junge Frau gerade wieder einmal den Zug bestieg, um am Freitag rasch die hektischen Menschen der Großstadt hinter sich zu lassen.

      Der schrille Pfiff des Zugführers am Bahnsteig, bevor er schnell in den Wagen sprang, hörte sich in Selmas Ohren an wie eine Melodie der Glückseligkeit. Ab ins Himmelreich!

Himmelreich

      Kurioserweise hieß das gemütliche Dorf am Rande der Alpen wirklich Himmelreich.

      „Himmelarm müsste die richtige Adresse sein“, schimpfte einmal der Briefträger Klein, der mal wieder mit Briefen und Rechnungen durch die schöne Landschaft radeln musste.

      Die Postverwaltung hatte ihm zwar schon letztes Jahr ein E-Bike in Aussicht gestellt, aber das hatte er empört von sich gewiesen.

      „Wenn ich die paar Hügel nicht mehr radeln kann, dann gehe ich zum Amtsarzt, und der soll mich in den Ruhestand versetzen. So weit kommt es noch, dass ich mir einen Motor unter den Hintern schieben lasse“, schnaubte er damals, beschwerte sich aber trotzdem munter weiter über seine anstrengende Tätigkeit.

      Auf der Hauptstraße, also eigentlich der einzigen Straße, die quer durch die Ortschaft führte, erblickte Briefträger Klein die in den letzten Jahren deutlich geschrumpfte Gestalt von Oma Rosi.

      „Na, Rosi, auf dem Weg zum Bahnhof? Kommt Selma wieder für das Wochenende heim? So ein braves Mädel!“, rief er und winkte zum Gruß, ohne eine Antwort zu erwarten.

      Rosi sah dem auf seinem Fahrrad enteilenden Briefträger nach. Allerdings eher sorgenvoll als fröhlich. Natürlich freute sie sich über die treuen Besuche ihrer Enkelin. Zudem war es für sie in ihrem fortgeschrittenen Lebensalter nicht mehr so leicht, die täglichen Dinge zu erledigen. Natürlich kochte sie für sich selbst, und die paar Schritte zum Dorfladen schaffte sie problemlos, wenn auch mit einer kleinen Rast zwischendurch, gern bei einem Gläschen von einem der selbst hergestellten Stärkungstränke der Frau Oberbichler. Diese experimentierte unentwegt mit Pflanzen aus den Gärten Himmelreichs und servierte den guten Stammkunden und -kundinnen gern mal einen Probierschluck aus ihrer Hexenküche, wie sie ihr eigenes Hinterzimmer oft nannte.

      Doch wenn es an anstrengendere Dinge ging, wie das Auslüften der schweren Federbetten oder eine Komplettreinigung des Hauses mit dem Staubsauger, da war sie über die jungen Hände Selmas und den Tatendrang der Enkelin sehr froh. Natürlich hätte auch jeder im Dorf ihr gern hilfreich zur Seite gestanden, wenn sie nur ein Wort hätte fallen lassen, doch dazu war sie wirklich stolz.

      Allerdings hätte Rosi sich auch sehr gefreut, wenn Selma ihr Glück in der Großstadt gefunden hätte und die Besuche seltener geworden wären. Wie jede Dame fortgeschrittenen Alters träumte sie von – in ihrem Fall – Urenkeln, kleinen Kindern, die ihr den Lebensabend versüßen würden. Ganz selbstverständlich hatte sie sich nach dem tragischen Tod ihres Sohnes und der immer freundlichen Schwiegertochter der kleinen Waise angenommen, doch die tägliche Sorge um ein kleines Kind, für das sie nun vollumfänglich verantwortlich war, unterschied sich doch deutlich von den Freuden des gelegentlichen Kinderhütens.

      Zu Anfang hatte Rosi sich oft erkundigt, wie es denn war in der großen Stadt, ob Selma schon Freunde gefunden hat, wie die Arbeitskollegen waren, ob sie viel unternimmt, doch Selmas Antworten waren stets sehr einsilbig gewesen. Alsbald hatte Rosi dann die Hoffnung aufgegeben, dass ihr mit glühenden Augen und rosigen Wangen von jungen Männern berichtet werden würde. Selma erwähnte nie irgendwelche Verehrer, obwohl sie so ein hübsches Ding war.

      Rosi schaute auf die Bahnhofsuhr, die auf dem schäbigen Gebäude aus den fünfziger Jahren klebte wie ein Abziehbild. Der Bahnanschluss war ein Relikt, ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert, als es noch keinen Individualverkehr abseits der Pferdekutschen gab, aber die Bevölkerung der Stadt die Freuden und Annehmlichkeiten des Landlebens entdeckt hatte. Mit großer Freude und in Scharen kamen damals die sogenannten Sommerfrischler zum Wochenende oder gar zum Urlaub in die unberührte Welt rund um das Dorf Himmelreich. In den dunklen Zeiten der Kriegsjahre des letzten Jahrhunderts waren es dann die vor den Bomben schutzsuchenden Münchner, die aus der zerstörten Stadt flohen. Nach dem Krieg hamsterte


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