Joe 9/11. Thomas Antonic

Joe 9/11 - Thomas Antonic


Скачать книгу
Name ist Peter. Ich bin Fotograf aus San Francisco. Darf ich mir das Foto ansehen?«

      »Ja, Sie können es haben.«

      »Nein, nein, ich möchte es nur ansehen.«

      »Ja, Sie können das Foto haben.«

      Die Frau geht zurück in die Küche. Peter setzt sich wieder an die Bar, nimmt einen Schluck von seinem Bier und betrachtet das Foto. Es wurde vermutlich mit einer Polaroid 909 gemacht. Auf der Rückseite ist das Datum aufgedruckt: 12.06.2000. Ziemlich genau vor einem Jahr. Es handelt sich um einen raren Polaroid-Instant-Film. Peter kennt sich damit aus. Er hat so ziemlich alles über Polaroidkameras und -filme studiert. Er trinkt sein Bier und wirft immer wieder einen Blick auf das Foto. Eigentlich kein großartiges Bild. Peter ist auf Urlaub hier. Er steckt das Foto in seine Tasche und verlässt das Café.

      3

      San Francisco.

      Peter hatte einen furchtbaren Streit mit seiner Freundin. Dieses Mal dürfte es wohl endgültig aus sein. Die Tür wird zugeschlagen, und das Mädchen ist fort. Peter öffnet eine Flasche Rotwein und nimmt einen kräftigen Zug direkt aus der Flasche. Er lässt sich auf das Sofa fallen. Der Monat in Portugal war wohl etwas zu lange gewesen. Er stellt seine Tasche auf den Couchtisch und beginnt, sie auszuleeren. Filme, Filme, Filme. Sein ganzes Leben ist ein einziger Film. Dann zieht er das Polaroid aus der Tasche. Peter betrachtet es erneut und trinkt Wein. Erst jetzt fällt ihm ein winziger schwarzer Punkt auf, ein Schatten, der irgendwie nicht so recht mit der Struktur der Felswand übereinstimmen will, aber auch zu groß für einen Vogel ist. Er geht in den Arbeitsraum und legt das Foto in sein Vergrößerungsgerät, das es ihm durch eine besondere Vorrichtung gestattet, auch Positive zu vergrößern. Er hat sich das Gerät für seine letzte Ausstellung angeschafft, die bereits vor über einem Jahr über die Bühne gegangen ist. Er hatte damals enorm vergrößerte Fotografien ausgestellt. Bis zu zwei mal drei Meter. Die Ausstellung war nicht erfolglos, aber danach war nichts mehr geschehen.

      Er vergrößert das Polaroid auf das Zehnfache, dann auf das Zwanzigfache, dann das Dreißigfache, das Vierzigfache …

      Er schwenkt den Vergrößererkopf in die Waagerechte, projiziert das Foto auf eine Wand und lehnt sich zurück. Es sieht aus, als ob da ein Mensch an den Klippen stehen würde. Peter trinkt von seinem Wein. Und dann sieht es so aus, als ob da eine zweite Person auf dem Bild zu sehen wäre, die gerade von den Klippen stürzt. Er geht zurück zum Gerät und vergrößert nun den konkreten Ausschnitt abermals. Es sieht aus, als ob …

      Es sieht aus, als ob da ein Mann am Rande der Klippen steht und nach unten schaut. Und er beobachtet, wie diese zweite Person in die Tiefe stürzt. Peter ist betrunken und verwirrt, und er ist wütend auf seine Freundin – oder auf seine Exfreundin. Er schläft ein. Das Bild bleibt auf die Wand projiziert.

      4

      »Willst du mich verarschen?«

      »Nein, verdammt noch mal! Schau dir doch das Foto an!«

      Peter hat am folgenden Morgen seinen Freund Martty angerufen und ihn gebeten, vorbeizuschauen. Martty hat sich das vergrößerte Bild einige Minuten angesehen.

      »Kennst du Blow Up?«, fragt Martty schließlich.

      »Blow Up? Den Film? Natürlich kenne ich den. Jeder Fotograf kennt ihn.«

      »Du weißt schon, wo der Typ dieses Foto von der Frau und dem Mann macht, und dann geht er in sein Studio und vergrößert das Foto, und darauf sieht er eine Leiche, die im Gras hinter dem Gebüsch liegt.«

      »Klar kenne ich den Film. Aber das ist ja was anderes. Oder willst du damit sagen, dass ich dieses Foto gemacht habe?«

      »Natürlich nicht, du brauchst nicht gleich verrückt werden.«

      Beide betrachten jetzt das Foto für eine Weile, ohne miteinander zu sprechen.

      Martty: »Und was willst du jetzt machen?«

      Peter: »Keine Ahnung.«

      Martty: »Das ist ein völlig irres Foto. Aber es ist nicht deines.«

      Peter: »Es ist found footage

      Martty: »Du solltest es ausstellen.«

      Peter: »Glaubst du?«

      Martty: »Unbedingt. Also, wer kann schon von sich behaupten, ein Foto von einem Mord gemacht zu haben?«

      Peter: »Ich habe das Foto nicht geschossen. Und vielleicht war es ein Unfall. Vielleicht hat der Typ überlebt. Vielleicht war das so eine Art Acapulco-Springer.«

      Martty: »Andererseits müsstest du dich rechtfertigen, warum du nicht die Polizei verständigt hast.«

      Peter: »Meine Güte, ich hab das Foto nicht gemacht! Ich hab es geschenkt bekommen, ein Jahr, nachdem es gemacht wurde! Derjenige, der das Foto gemacht hat, wusste vermutlich nicht einmal, was er da eigentlich fotografiert hat. Vielleicht wollte er die Klippen fotografieren und hat diese beiden Leute gar nicht gesehen. Du siehst sie nicht, wenn du dir das Foto in Originalgröße ansiehst. Du kannst sie nur sehen, nachdem du es vergrößert hast.«

      Martty: »Es muss doch eine Ermittlung gegeben haben, drüben in Portugal. Wenn der Typ da gestorben ist, muss die Leiche an die Küste gespült worden sein. Oder es muss zumindest einen Vermissten in Portugal gegeben haben. Und was ist mit der Kamera? Du sagtest, es handelt sich um ein rares Modell?«

      Peter starrt Martty an und nimmt einen Schluck Kaffee.

      Peter: »Jesus, du solltest Privatdetektiv werden.«

      Martty lacht.

      Martty: »Du wirst es nicht glauben, aber als Kind wollte ich das wirklich.« (Kurze Pause, Martty lächelt.)

      Peter: »Ja, also dieses Foto wurde ziemlich sicher mit einer Polaroid 909 gemacht, limitiert auf zweihundert Exemplare. Sogar der Film ist selten. Polaroid produziert keine ISO-1200-SchwarzWeiß-Filme mehr.«

      Martty: »Du glaubst also, dass es möglich ist, den Besitzer der Kamera ausfindig zu machen?«

      Peter: »Keine Ahnung. Wie denn? Jeder kann so eine Kamera kaufen, wenn er Glück hat. Anonym. Auf der ganzen Welt.«

      Martty: »Aber es ist doch gut möglich, dass dieser Fotograf aus Sagres ist. Wir sollten mit unserer Suche dort drüben beginnen.«

      Peter: »Suche? Wir? Ich bin gestern erst aus Portugal zurückgekommen! Ich werde da sicher nicht morgen wieder hinfliegen! Und was hätte es überhaupt für einen Sinn, diesen Typ ausfindig zu machen? Du bist mir ein verrückter Kerl.«

      Martty: »Schau dir die Klippen an, Peter. Niemand kann dort runter. Möglicherweise liegt der Leichnam noch immer irgendwo dort unten.«

      5

      Am nächsten Morgen, 8 Uhr.

      Peter liegt noch im Bett.

      Piep. Piep.

      – – – SMS von David Sherlock:

       Grüße aus Kairo von deinem Manager, falls du vergessen hast, wer ich bin! Wie war Portugal? Gute Aufnahmen gemacht? Ich habe eine GROSSE ÜBERRASCHUNG für dich. Falls es dich interessiert …

      – – – SMS an David:

       Okay, Alter, du hast meine volle Aufmerksamkeit.

      – – – SMS von David:

       Sicher?

      – – – SMS an David:

       Hör auf mit dem Scheiß und erzähl’.

      – – – SMS von David:

      


Скачать книгу