Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön. Andrea Drumbl

Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön - Andrea Drumbl


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Furchen und Risse, und die Luft um ihn herum schwamm in Nebeln, die wie dünne Schatten einen Walzer tanzten, die wie dünne Schatten einen Wiener Walzer tanzten, während trübe Luft vom Boden aufstieg und sich mit der Dunkelheit zu einer verzerrten Fratze vermischte. Langsam und leise pirschte sich diese Fratze der Dunkelheit an Günter heran, der wie betäubt in die Finsternis starrte, in dieses furchtbare Grauen, bei dem er sich so verlassen, so alleingelassen fühlte, bis sich das schwarze Loch der Nacht endgültig über die Stadt ausbreitete. In diesem Moment war Günters Gesicht so grau und leer wie seine Zukunft, und der Blick in seinen verhangenen Augen war ein dunkler. Es war der Blick eines Verzweifelten, eines zutiefst gebrochenen Menschen. Günter schaute in das Dunkel, blickte direkt in den Rachen dieses schwarzen Grauens, das ihn umgab, doch der Himmel dieser Nacht starrte ihn nur an, tat ihm nicht mehr weh. Dann trat Günter ans Fenster und sah, wie die Umrisse der Häuser aus den dunklen Schatten hervortraten. Lange schaute er diese Gemäuer an, die vergeblich der Nacht trotzten, bevor sie im Sog der Dunkelheit allmählich verschwanden.

      Verletzt und von großem Schmerz erfüllt dachte Günter, als er am Fenster stand, daran, dass es, seit er Janka nun zum ersten Mal nach Jahren wieder zufällig auf der Straße gesehen hatte, so war, als habe er selbst keinen eigenen Willen mehr. Er spürte, dass er sie tief in seinem Herzen immer noch liebte. Er war betäubt in einem Wirbel sinnlicher Verwirrungen. Und er verzehrte sich nach ihr. Sie jedoch hatte ihn unmissverständlich zurückgewiesen, auch dann noch, als er ihr sein Herz zu Füßen legte. Tief in seinem Inneren fühlte er nun sein Wesen wie eine verschmutzte Wunde, die nicht mehr heilen konnte. Er fühlte sich ratlos und hilflos, er fühlte sich zutiefst verloren, und sein Leben kam ihm so trostlos und unsinnig, vor allem aber so durch und durch verlogen vor.

      Als Kinder, da waren sie wie Bruder und Schwester gewesen, Günter und Janka, das Mädchen, deren Großeltern Emigranten aus Bulgarien waren. Und als sich Jankas Eltern trennten, da schwörten sie sich ewige Freundschaft, wollten immer füreinander da sein, Mädchen und Junge, und als Freundin und Freund berührten sie mit der rechten Hand das Herz des anderen. Die hübsche und so schlanke Janni, wie er sie früher nannte, im viel zu engen T-Shirt, die immer bei ihm war – sie berührte ohne Weiteres mit ihrer schmalen zarten Hand sein viel zu empfindsames Herz. Vieles war so viel einfacher früher, heute war vieles so viel schwieriger geworden, komplizierter, funktionierte nicht mehr so einfach wie früher. Und dennoch waren sie später dann immer noch wie Bruder und Schwester, wenngleich inzwischen ein durch und durch inzestuöses Geschwisterpaar.

      Plötzlich wurde Günter aus seinen Gedanken gerissen, und er merkte, dass er trotz der Wärme im Raum am ganzen Körper fröstelte. Der Boden, auf dem er stand, war kalt, und er spürte auch eine Kälte in der Luft, die unnatürlich war für diese Jahreszeit. Wie scharfes Gift schoss ihm die Kälte in den Kopf, verteilte sich in seinem Körper und bereitete ihm einen stechenden Schmerz. Und am Himmel blickte der Mond zwischen zerrissenen Wolken hervor, warf einsam sein schales Licht in die nachtschwarze Finsternis und verklärte mit seinem blassen Schimmer die ganze Umgebung. Die nächtliche Stadt mit ihren schwarzen Schatten hatte etwas Gespenstisches. Günter schauderte, und eine sonderbare, fieberhafte Unruhe füllte nicht nur das Zimmer, sondern auch seinen ganzen Körper aus. Gedankenfetzen schlichen sich in seinen Kopf und blieben dort hängen. Wie Blut gespuckt.

      Er wollte hinaus aus diesem Zimmer, fort von dieser Stadt und weg von diesem Ort, der so bitter schmerzhaft alle nur erdenklichen Gefühle in sich vereinte. Er musste fort, fort von diesen Dingen, die ihn an so vieles erinnerten, fort von diesen Menschen in dieser Stadt, die er beneidete, da sie nur Angst vor dem Tod hatten, während er sich vor dem Leben fürchtete, das er nicht mehr länger ertragen konnte, weil es einsam machte. Ein zwingendes Gefühl trieb ihn vorwärts und jagte ihn durch das Zimmer, ein zwanghafter, ein unbezwingbarer Drang. Kalten Atem keuchend lief er durch den Raum, riss Schubladen auf und schlug sie wieder zu, starrte auf das Mobiltelefon auf der Kommode und beschloss, es doch nicht zu verwenden. Schweißgebadet zog er weiter seine rasenden Runden, immer wieder und immer mehr, bis er vor einem Fenster endlich wieder zum Stehen kam. Hastig öffnete er es und sah tief unten den dunkelgrauen Fleck Beton vorm Haus, der ihn plötzlich sanft und friedlich stimmte und eine richtige Attraktion für ihn war, ein unwiderstehlicher Kitzel, bei dem ihm schwindelte. Die Versuchung war enorm und die Begierde unersättlich. Günter war fasziniert von diesem dunklen Loch, das sich vor ihm auftat und aus dem eine Melodie traurig und ernst in die Nacht hineintönte. Aber nur Günter konnte diese Musik hören, sie spielte sozusagen nur für ihn ein letztes Stück. Verzweiflung und Einsamkeit waren das Ergebnis, denn die schweren Takte füllten sich mit Angst, Unheil und Schmerz, bis alle Töne in seinem einsamen und verlassenen Herzen erstarben und nur noch eine Ahnung von dieser Musik zurückblieb. Und ein aussichtsloser Wunsch drängte sich ihm auf: Janka, seine Janni, seine Janka – nur noch ein Mal ihren Atem haben, nur noch ein einziges Mal ihre Ruhe spüren. Es wäre so friedlich.

      Es war ein zu einsamer Wunsch.

      Vorsichtig kletterte Günter auf das Fensterbrett. Die schroffen Kanten der Hausmauer und die seltsame Stille der sonst so belebten Stadt hatten etwas Lustvolles, das er begehrte, und mit einem Mal fühlte er sich unendlich frei, frei von allen Zwängen, die ihn so lange nicht leben ließen, die ihn ein ganzes Leben lang nicht leben ließen – sein Leben lang. In diesem Moment lag die Zeit in eisernen Ketten.

      Mondheller Schein fiel auf den Boden, und Erinnerungen donnerten in Günter wirr gegeneinander und durchzuckten seinen Kopf beißend und brennend. Atemerschöpft riss er seine Augen auf, und für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, wesenlosen Schmutz in sich zu spüren. Sauer und heiß begann es, in ihm zu wühlen, in ihm zu stechen und den Ekel der vergangenen Tage aufzustoßen, und er fühlte sich völlig schwerelos, körperfremd und vom Leben eingeengt. Der dunkle Himmel über ihm war voller Schatten mit einem Wind, der sich durch die Lüfte in die Nacht erhob. Es war nur ein einziger zwischen den stillen Häusern erstickter Klagelaut aus Günters von all den unerfüllten Wünschen abgeschnürter Kehle zu hören, dann war alles still.

      Es war wie der Abgesang einer griechischen Tragödie im Wiener-Walzer-Takt.

      Ein kurzer Hauch von Hoffnung überkam Günter, als er so im offenen Fenster stand. Er streckte seine Arme aus, als wolle er sich dadurch Flügel geben. Er starrte in die Tiefe, sein Geist schien in eine leere, unwirkliche Nacht versunken. Nur noch ein kleiner Schritt, dann – –

      Und in dem Moment, in diesem endlos langen Augenblick vor dem Fall, spürte er sich zum ersten Mal, er spürte sich ganz und gar, denn jetzt war er nicht mehr länger profillos und unscheinbar, sondern seltsam mächtig und stolz.

      Kurz darauf streiften, als er so am Fensterbrett stand, die nackten Zehen seines rechten Fußes die Ferse seines linken, verschlangen sich ineinander und wurden im Sprung eins. Was ihn dann umfing, war wie ein weltweites Lachen und Weinen, das ihn davontrug, durch die Lüfte trug, als er plötzlich Janka vor sich sah. Eine reizende junge Frau mit dunklen Locken und leuchtenden Augen über schmalen Lippen, eine Schönheit, die aus dem Mond zu klettern schien. Doch es fehlte ihr der Schatten, sie hatte keinen Atem mehr. Aber sie war schön, so unsagbar schön mit ihrer weißen Haut und den langen zarten Fingern, die ihm, Günter, zuwinkten, ihn greifen wollten. Aber keine Menschenhand bot sich ihm an, es war die Sehnsucht selbst, die seine Brust und seine Schenkel streifte.

      Mit einer beinahe schmerzlichen Deutlichkeit nahm er Janka als eine Frau wahr, als seine Frau, denn sie kam ihm so unerträglich schön und vollkommen vor. Er erkannte sie jedoch nicht, denn sie war kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern nur die Hülle seiner Sehnsucht. In der Hand hielt sie mit ihren weißen Fingern eine kleine schwarze Blume fest umklammert, und die Erde schimmerte unter ihren Füßen. Doch dort unten, auf dem Boden, lagen schon so viele tote Fliegen, mit Sand auf ihren zart geäderten Flügeln. Janka winkte Günter verheißungsvoll zu. Sie blickte ihn an, und er sah, als er in ihre braunen Augen schaute, etwas beängstigend Zeitloses darin. Ein Licht brannte in diesen Augen, als würde das Helle darin ihn zu einem Flügeltanz einladen, mit all den dort verborgenen langen Gedanken. Und Günter nahm die Einladung freudig an, denn nun hatte er alles Licht hinter sich.

      Günter stürzte sich aus dem Fenster, das im vierten Stockwerk lag, er ließ sich in diese alles verheißende, in diese alles versprechende Tiefe fallen, die ihn so freundlich aufnahm, bis ihn schließlich nur mehr eine


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