Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön. Andrea Drumbl
der anderen ausweichen, diesem rot-weiß-rot gestreiften Verhör, und konnte doch nur staunen über ihr Heucheln und Lügen und über das gemeinschaftliche Grinsen hinter ihren Lippen.
Früher, noch vor seiner Depression oder Krise, war er ein stiller, sanfter, ein zutiefst ahnungsloser und unschuldiger junger Mann gewesen, ein unglaublich unverdorbener junger Mensch, der unbefangen in die Welt schauen konnte mit seinen klugen Augen, aus denen dann ein ganz besonderer unbewusster Augenstrahlenglanz blickte. Das sagte zumindest René, sein Geliebter, sein Ein, sein Alles, das dieser damals für ihn war. Mit René war er das erste und vielleicht auch letzte Mal so richtig glücklich im Leben gewesen, mit so einem Gefühl dabei, wenn einem vor Glück in der Seele das Herz überschäumt und einem ganz unvermittelt die Tränen in die Augen schießen, die dann ja doch nicht fließen, weil der Grund dafür, nämlich das Glück in der Seele, ein schöner ist. Aber wenn er dann doch weinte, was manchmal vorkam, wirkten die Tränen, so sagte ihm René, nicht entstellend auf seinem Gesicht, sondern waren nur das sichtbare und unsichtbare Zeichen einer großen Verletzlichkeit.
Das hatte sich mit der Zeit geändert, mittlerweile war er sogar bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wann das passiert war, wusste er nicht mehr, es musste sich unerkannt ereignet haben. Vielleicht war es damals, als er zum ersten Mal von einer Depression als Krankheit hörte, ein Ausdruck, den er für alle Zeiten fürchten sollte, ein Ausdruck, der für ihn für immer mit Leiden und einem großen Traurigsein verbunden war. Ein Traurigsein, das reizbar machte, ein Traurigsein, gegen das er deshalb Tabletten nahm, von denen er wiederum so unruhig wurde. Und des Lebens müde.
Daraufhin trennte er sich von René, seinem Ein, seinem Alles. Daran dachte Piotr jetzt und war überwältigt von der Schwere seiner Gedanken. Sein Kopf wurde bleiern und träge, während sich ein stechender Schmerz durch seine Adern hämmerte. Er stolperte die Gleisanlage entlang und lag plötzlich am Boden, mit dem Kopf quer über dem Schienenstrang. Die blassgelbe Farbe seiner Haut hob sich von der schwarzen Dunkelheit ab, und er roch den metallenen Geruch des Eisens, spürte die scharfen, spitzen Steine, die in seinen Oberkörper drückten, konnte sich aber nicht erinnern, gefallen zu sein oder je gestanden zu sein. Sein Atem bewegte sich in einem seltsamen Rhythmus, drängte aus seinen Lungen und hinterließ nichts als eine abgrundtiefe Leere, als alles vor seinen Augen zu einem Dunstschleier verschwamm, der seinen Blick vollständig vernebelte und sich in der formlosen Unendlichkeit dieser Nacht verlor. Schattenlose Umrisse ohne Geist und ohne Sinn.
Kalte Dunstnebel stiegen lautlos aus der Erde empor, und die Stille der Nacht kämpfte trostlos gegen die Nebelfetzen an. Vage erkannte er den Wassertropfen vor seinem Gesicht, der sich vielleicht einmal in Luft verwandeln würde, während Piotr am letzten Funken seines Lebens hing.
Mit beiden Händen umklammerte er die obere Schiene so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine hohlen, gehetzten Augen waren auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne gerichtet, und ein dunkles Knäuel der Einsamkeit nahm ihn verständnisvoll auf.
Über ihm glänzte der Mond, uralt und grau, und der Himmel nahm sich wie ein hoher Bogen ohne Begrenzung aus. Alles war eins und vereint mit der Nacht.
Eine sonderbare Genugtuung erfüllte seinen Körper, ein merkwürdiger Stolz. Er fühlte sich so leicht und frei und unbeschwert, so ungewohnt sich selbst gehörend. Es war ein so kleiner und so verdammt zerbrechlicher Triumph im Schatten seines Lebens.
Jetzt konnte er es riechen, das neue Leben, diesen grenzenlosen Raum in der Zeit, in den er flüchten wollte, in den er eintauchen wollte mit seinem Körper, mit seinem Geist. Jetzt konnte er es riechen, es roch so bunt.
Und vor seinem geistigen Auge sah er ein letztes Mal die grau schimmernde Fliegenleiche mit den zart geäderten Flügeln, sah ein letztes Mal die Fliege mit ihren hunderttausendfachen toten Augen.
Als er so am Schienenstrang lag, hatte sich der Schatten über seinem Leben mit einem Mal in seiner Not verflüchtigt, und der Funke eines irrenden Lichtes zuckte orientierungslos durch seinen Körper. Er wusste nicht, wohin damit.
Ein heftiges Brennen durchfuhr seine Lenden, eine schwindlige Lust, die seine Erregung in dem Moment, in diesem Augenblick, der ihn noch mit dem Pulsschlag der Welt verband, glutheiß erhitzte. Doch es hing ein bedauerndes Schweigen in der Luft.
Es war ein Trauerspiel, sein Freudenfest, so viel Schmerz in der Lust und umgekehrt: die Lust in seinem Schmerz.
Er bemerkte es kaum, das leichte Vibrieren in den Schienen, das immer stärker und lauter wurde, als der Intercityzug ungebremst und funkensprühend über Piotr hinweg durch die Nacht raste, seiner nächsten Haltestation entgegen, während unausgesprochene Worte am Schienenstrang explodierten und ein höllisches Feuer Piotrs Glieder durchbrannte wie heißes Eisen.
Die Rücklichter des Intercityzuges, blutroten Kugeln gleich, ließen den Himmel brennen, bis sie in weiter Ferne einsam erstarben.
Die Nacht war zu blutiger Asche geworden und kalter Nebel umfing die Dunkelheit, während am Himmel bleiche Sterne klebten. Ruhig und unbeirrbar zogen sie ihre Bahn, gleichgültig vielleicht, gerade so, als könne es auf der Welt keinen Irrtum geben.
Und dann nur noch ein ganz einfaches, alltägliches Bild von aschgrauer, fahler Nacht, in herbstzeitloser Einsamkeit gefangen.
Nichts weiter.
Susana oder
Die Vermählungshochzeitsnacht
Es war eine dieser lauen Frühsommernächte.
Susana ging allein durch die schwüle Nacht, es war spät, fast zu spät für diese Nacht. Graue Nachtfalter und ein paar von diesen sich in die Nacht hinein verirrten Fleischfliegen schwirrten um eine matte Straßenlaterne, und der Geruch der Wiesen neben der Straße dünstete lauernde Bedrohlichkeit aus, während sich die Schattenrisse der Bäume in den nachtschwarzen Himmel erhoben und ihr Angst machten. Susana beeilte sich, sie wollte fort von dieser Straße, fort von diesem Ort, sie wollte fliegen, ein Vogel sein, wollte sich unsichtbar machen, wollte endlich zu Hause sein. Das Blut rauschte in ihren Ohren und machte sie fast wahnsinnig, jeder Atemzug drohte, ihre Lungen zu versengen, jeder Herzschlag, ihren Kopf zu brechen. Sie erstickte fast an ihrem Atem, erstickte fast an ihrem Blut, und wie ein Stachel bohrte sich die Angst in ihr Fleisch und machte es taub für andere Empfindungen. Wie ein beunruhigender Schatten hing die Angst über ihr. Dann hörte sie Schritte hinter sich.
Die Schritte in ihrem Rücken wurden laut, laut wurde auch das rasselnde Atemholen, das sie auf Schritt und Tritt verfolgte. Sie stolperte über einen Stein und konnte sich doch noch auf den Beinen halten, konnte ihre Nerven behalten, doch der Abstand der Schritte wurde zunehmend kleiner, lauter, bedrohlicher und kürzte sich mit Nachdruck, bis er ganz abbrach, in ihr Leben brach. Bis er das Rückgrat ihres Lebens brach.
Es war ein kurzer fester Griff, der ihre Schulter umfasste, ihren Körper anfasste, ihre Angst erfasste. Sie wirbelte herum und drehte sich dabei wie in einer endlosen Abwärtsspirale. Sie starrte dem Fremden mitten ins Gesicht. Und wusste Bescheid.
Sie erstarrte, im ersten Moment panisch vor Schrecken, während er den leisen Hauch eines Lächelns aufsetzte, damit es bei ihr ankam, doch seine widerwärtig stierenden Augen verrieten sein unerträgliches Grinsen. Und dahinter seine Absicht.
Er hob seine Hand und zielte damit direkt in ihr Gesicht, während er etwas voll drohender Genugtuung sagte, das sie nicht verstehen konnte. Für einen schmerzhaft kurzen Augenblick war sie nicht mehr auf dieser Straße, nicht mehr in dieser Nacht und nicht mehr allein mit diesem Fremden. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung war sie aufgelöst im Unerträglichen.
Als sie wieder zu sich kam, sah sie nur seine Augen, sah nur mehr seine rastlosen Blicke, seine Blicke in der Luft und überall, seine Augen, die stierten, seine Augen, die starrten und schauderhaft glotzten und sie verfolgten.
Sie spürte seinen gierigen Blick auf sie gerichtet und hörte sein ekelhaftes Atemziehen dicht an ihrem Ohr, spürte seine schwieligen Lippen auf ihre gepresst, seine Zunge in ihrem Mund, spürte seine ekligen Finger, seinen widerlich schmierigen Leib, seinen schleimigen Speichel in ihrem Gesicht, roch seinen salzigen Atem, seinen säuerlichen Schweiß.
Alles