Die falsche Witwe. Ulrike Schmitzer
ein Mann vor dem Hof. »Gummibandl, Strumpfbandl, Zigaretten, Schoklad!« Die Kinder laufen hinaus. Es ist zwar schon finster, aber noch nicht Schlafenszeit. Anna hat bereits ihren Pyjama an. Der Mann hat einen dicken Rucksack auf den Rücken geschnallt und zieht einen Leiterwagen hinter sich her.
»Komm rein!«, ruft die Mutter, nachdem sie dem Onkel einen Blick zugeworfen und er sich zurückgezogen hat. »Wir werden schon ins Geschäft kommen.«
Der fremde Mann kommt in die Küche. Er stinkt nach Schweiß. Eva starrt auf die dicken schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln. Er packt aus: Nadeln, kleine Seier, Schuhcreme. »Ah, die Zünder«, sagt die Mutter. Sie deutet als nächstes auf die weißen Papierbriefchen und sagt, dass sie davon auch fünf nimmt. »Ein bissl Saccharin macht das Leben gleich viel süßer«, sagt der Mann und grinst Eva an. Er gibt den Kindern jeweils eine Tablette. Eva lässt sie langsam auf der Zunge zergehen. Ein bleiener Geschmack bleibt in ihrem Mund zurück. Die Mutter holt einen Sack Kartoffeln, Gemüse und Butter. »Die Kurgäste im Tal kaufen wie verrückt«, sagt der Mann, »als ob es in Wien gar nichts geben würde. Habt ihr mehr Butter. Die wäre mir lieber als das Gemüse. Ich hätte dann auch Dosen mit Fisch, Corned Beef – die amerikanischen Sachen. Oder den Cheddar. Wenn ihr den wollt? Der wird euch sicher schmecken«, meint er.
Die Mutter sucht sich einen großen Seier und Nadeln aus. Er sieht Eva an und schenkt beiden Mädchen eine ganze Reihe von einer aufgebrochenen Tafel Schokolade. Anna hüpft vor Freude den ganzen Weg zum Tor und begleitet den Mann singend hinaus. Eva hört, wie der Onkel sagt, dass die Schleichhändler immer teurer werden, obwohl doch alles von den Amerikanern kommen würde.
»Ich will nicht, dass wir von den Hilfslieferungen kaufen«, schimpft der Onkel.
»Da fressen wir lieber unser eigenes Zeug. In der Not zeigt sich der wahre Charakter. Die Hilfslieferungen stehlen und dann den Armen um teures Geld verkaufen, da mach ich nicht mit!«
»Jetzt hab ich eine ordentliche große Nadel«, ignoriert ihn die Mutter. »Mit der kann ich jetzt für Anna eine Jacke aus der alten Decke nähen.« Und dann sagt sie noch: »Sei du lieber ganz ruhig.«
»Sie treffen sich noch immer«, sagt er, »in dem kleinen Stüberl in der Alpenstraße«. Die Mutter schält weiter die Kartoffeln ohne sich umzudrehen. Sie deutet mit dem Messer auf Eva und sieht ihn an. Eva tut so, als ob sie mit einem Buch beschäftigt wäre.
»Ich möchte da hingehen«, sagt er.
»Kind, geh doch in den Stall und hol mir ein bisschen Milch für das Kartoffelpüree!«
Das ist eindeutig ein als Bitte getarnter Befehl. Eva geht aus der Küche, bleibt allerdings noch im Vorzimmer stehen. Sie kann die Mutter gut verstehen, weil sie schreit.
»Bist du verrückt? Was fällt dir denn ein?«, hört Eva die Mutter zum Onkel sagen. »Was glaubst du, warum ich das alles gemacht habe? Nicht genug damit, dass du in die Stadt willst, wo dich jemand erkennen könnte. Nein! Der Herr will zu der vertrottelten Kameradenpartie gehen! Was denkst du dir bloß? Willst du mit den alten Kameraden anstoßen und über alte Zeiten plaudern? Woher wissen die überhaupt, dass du da bist?«
»Reg dich doch nicht so auf. Sie wissen es doch gar nicht. Ich hab in der Zeitung einen Artikel gelesen. Da haben sie es einen Skandal genannt, dass sie sich treffen dürfen.«
»Das wird man ihnen wohl nicht verbieten können!«, sagt sie.
»Na eben. Da waren mehr Anständige drinnen als heraußen. Und ich komm überhaupt nie raus, falls dir das nicht auffällt«, sagt er vorwurfsvoll.
»Das haben wir gemeinsam beschlossen und das muss jetzt auch so bleiben«, sagt sie.
Eva kann sich nicht noch langsamer anziehen. Sie geht in den Stall.
»Anna, sag«, flüstert Eva, damit es die Mutter nicht hören kann.
Anna bastelt gerade eine Figur aus Kastanien und will nicht gestört werden.
»Du, Anna … was ist das Erste, woran du dich erinnern kannst?«, fragt Eva ihre Schwester.
»Wie, woran ich mich erinnern kann?« Anna fragt manchmal, obwohl es gar nichts zu fragen gibt.
»Kannst du dich noch erinnern, als Papa daheim war?«, fragt Eva, bevor die Mutter in die Küche kommt. Lange wird sie nicht mehr im Garten bleiben. Anna überlegt. »Weiß nicht … Ich kann mich aber noch erinnern, wie der Grießkoch geschmeckt hat. Der war immer so gut!«
»Ob Papa dich auch gefüttert hat?«, fragt Eva schnell weiter.
»Was fragst du denn immer nach Papa? Mutti und der Onkel mögen das gar nicht.«
»Kannst du dich auch noch erinnern, wie der Nachbar immer herübergekommen ist?«
»Der kommt doch nie«, meint Anna. Sie sieht Eva fragend an und drückt ihr rasch eine Kastanie in die Hand. Sie soll ein Loch hinein machen.
»Der Onkel hat mich nämlich gestern danach gefragt. Ich hab gesagt, ich kann mich nicht erinnern. Dabei stimmt das gar nicht. Die Erwachsenen fragen oft so komisch, dass ich sofort die Antwort weiß, die sie hören wollen. Heute soll ich mich an alles erinnern und das weltbeste Gedächtnis haben und dann soll ich wieder alles vergessen. Denen sage ich überhaupt nichts mehr!«, sagt Eva.
Anna zuckt mit den Schultern.
Eva muss mit Gott sprechen. Am besten dort, wo er wohnt.
»Ich geh ins Dorf«, sagt sie ganz selbstverständlich und hat schon den Türgriff in der Hand.
»Moment, Madame!«, hält sie die Mutter zurück.
»Ich brauche doch einen Bleistift für die Schule«, erklärt Eva.
»Hast du denn Geld?«, fragt die Mutter. Das hat Eva vergessen. Die Mutter öffnet die Küchenlade und nimmt die abgegriffene braune Ledergeldtasche heraus.
»Da. Aber das Restgeld bringst du mir wieder. Und bleib nicht zu lange.«
Eva steckt die Schillinge in den Latz der roten Hose. Das ist ihre Lieblingshose. Sie reicht ihr nicht einmal mehr zum Knöchel. »Hast du schon wieder die Hochwasser-Hose an«, sagt der Onkel immer. Dabei hat sie gar keine andere. Anna läuft sogar mit einer Hose herum, die früher eine Herrenjacke war.
Eva rennt zur Kirche. Sie muss sich beeilen, die Mutter kennt den Weg und hat ein unheimliches Zeitgefühl. Sie weiß genau, wann das Ei fertig gekocht ist, sie weiß auch genau, wann der Regen aufhören wird. Eva war schon ein paar Mal in der Kirche. Sie mag den Duft der Kerzen, die Eiseskälte, die einem entgegenschlägt. Sie setzt sich auf eine Bank. Der Altar ist überall gold, und dicke Engel springen aus dem Altar heraus. Wie fängt man ein Gebet an, mit dem man seine Erinnerung zurück haben will?
»Lieber Gott.« Sie konzentriert sich, bläst die Luft durch die zum Gebet gefalteten Hände. Plötzlich klopft ihr jemand auf die Schulter. Sie dreht sich um.
»Anna! Was willst du da?«, flüstert sie.
»Was willst DU da?«, fragt Anna.
»Psst. Ich bete«, sagt sie.
»Du weißt, dass das Mama gar nicht mag«, sagt Anna.
»Sie mag aber auch nicht, wenn du davonläufst.«
Anna überlegt kurz.
»Hier riecht es unheimlich«, sagt sie. »Ich helfe dir. Wenn zwei beten, wirkt es sicher besser.«
Eva zögert. Sie weiß doch selbst noch nicht, wie sie beten soll.
»Lieber Gott. Mach, dass mir alles wieder einfällt.«
»Das ist ein komisches Gebet«, sagt Anna.
»Geh weg, Anna. Geh!«
Eva nimmt eine Kerze und zündet sie an.
»Du darfst sie nicht stehlen, dann funktioniert es nicht. Das ist eine Todsünde! Du kommst dafür in die Hölle«, flüstert Anna. »Jetzt liegt ein Fluch auf dir, der dich bis zu deinem Tod …«
Eva