Die letzte Nacht. Furio Jesi

Die letzte Nacht - Furio Jesi


Скачать книгу
mir auferlegt, nicht entziehen und zögere daher nicht, euch nach all den tragischen Erfahrungen der Vergangenheit noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, dass die vampirischen Prinzipien von Freiheit und Toleranz sich viel zu lange schon von einem schamlosen Fanatismus haben unterjochen lassen, obwohl es unser Recht und unsere Pflicht wären, uns dagegen zur Wehr zu setzen. Nun werden vampirische Tugend und Adel lernen, den Harnisch zu tragen und gemäß dem Prinzip zu handeln, dass Freiheit nicht das Privileg derjenigen sein darf, die sie zu zerstören trachten.«

      Die Vampire nahmen die Botschaft des Grafen Dracula mit Schweigen auf. Jahrtausende waren vergangen seit dem Tag, an dem die Menschen die Vorherrschaft übernommen hatten. Die Vampire scheuten stets vor dem Gedanken an den Tag ihrer Erschaffung zurück: zu geheimnisvoll und heilig war jene Stunde, die in den Händen des Herrn lag. Aber die großen Daten der Vampirgeschichte hafteten wie leuchtende Embleme und Zeichen in ihrem Gedächtnis. Hehres Glück bedeutete es, sich an die Jahrhunderte der großen Vampirherrschaft zu erinnern und auch an die Urvegetation, die Riesenfarne und Araukarien, unter denen die ersten Vampire gewandelt waren. In naivem Staunen vor ihrem eigenen Geschick – zuerst bloße Klümpchen Schleim in den Ozeanen, sodann Herren über eine reich mit Pflanzen und Tieren gesegnete Welt – hatten die Vampire der am weitesten zurückliegenden Generationen die Erschaffung der Menschen mit angesehen und hatten in ihnen diejenige Tierart erkannt, deren Blut am meisten vom Geschmack der Erde bewahrte. Es schien – und war tatsächlich so –, dass die gute Erde, aus der jegliche Kraft entsprang, ins menschliche Blut eingegangen war, ohne dabei etwas von ihrem Geschmack und ihrer belebenden Kraft einzubüßen, oder doch kaum etwas. Im Vergleich zum menschlichen Blut war das der anderen Tiere ein minderer Saft, eine recht dürftige Quelle der Regeneration. Aber der Widersacher, der grausame Widersacher seit jeher, Samaèl, hatte den Menschen gestattet, mittels unaussprechlicher Gräuel die Herrschaft zu übernehmen.

      Schwerlich wird man in der Geschichte etwas Mitleiderregenderes, etwas Schrecklicheres finden als die ersten Verfolgungen der Vampire durch die Menschen. Gemeinheit, Gier und Ausschweifung, Fanatismus, gepaart mit Anmaßung und Niedertracht, machten den Charakter der Verfolger aus. Ohne den Anteil von Herrschsucht und Korruption schmälern zu wollen, war doch vor allem der Fanatismus anzuklagen und das, was ihm eigen ist: die kalte, überlegte Gräueltat, Grausamkeit, die sich im Exzess der selbst erfundenen Qualen gefällt, willkürlich gesteigerte Wut. Und unter Fanatismus ist der Geist der Intoleranz und der Verfolgung zu verstehen, von Rache und Hass, weil eine Rasse sich für die auserwählte hält.

      Nachdenklich erwog die Versammlung das neue Schicksal, als ein Vampir das Schweigen brach. Francisco Torrado y Asensio, Herzog von Avila, erhob sich von seinem Sessel. Er zitterte und sagte: »Vampire! Brüder! Eines Tages – in der Zeit des Leidens – haben wir auf Hasan-i Sabbah vertraut. Alamut, der Adlerhorst – in unserer Sprache verdiente er wohl den Namen Wolfshöhle! Über dem Chorasan wehte die Vampirflagge, Muselmanen und Christen starben, sobald einer von uns es wollte. Wozu haben uns die Assassinen genutzt? Was hat es uns genutzt, auf die Menschen zu vertrauen, um die Erde wiederzuerobern? Nichts. Weniger als nichts. Das ist nicht unser Schicksal. Brüder! Lassen wir uns nicht täuschen von einem Zeichen am Himmel. Die Verzweiflung schwebt über uns mit den schwarzen Flügeln der Ewigkeit.«

      Bestürzt schwieg die Versammlung. Aber nach kurzer Rücksprache mit seinen Nachbarn erhob sich ein alter, bäuerischer Vampir aus der Bukowina. Er drückte sich aus in dem alten Dialekt, der einst allen Vampiren gemeinsam gewesen war und heute nur auf dem Lande noch überlebte. »Meine Herren Vampire«, begann er, »ich bin ein armer Vampir vom Lande und wurde vor vielen Jahren in dem Dorf der Bukowina geboren, in dem ich noch heute lebe. Wir auf dem Land, wenn wir über den Ausgang eines Unternehmens Zweifel haben – was weiß ich, die Abfüllung von Blut in Flaschen an einem bestimmten Tag oder einen gefährlichen nächtlichen Ausflug –, so wenden wir uns an Unseren Herrn, wir beten zu ihm, und er enthüllt uns Seinen Willen. Warum machen wir es nicht auch jetzt so? Unsere Sache ist gut. Ein Zeichen ist am Himmel erschienen. Unser Herr wird sich nicht verschließen.«

      Angesichts dieses Vorschlags war der Marquis de Pombal unschlüssig.

      Zwei weise Vampire, wahrhaftige Leuchten der Theologie, wurden zum Sitz des Präsidenten gerufen, der seinen Platz dem älteren der beiden überließ. Es war dies der alte Vampir Domingo Josè Gonçalves de Magalhaes, der schon in Antiochien gegen die Byzantiner gekämpft hatte – damals hieß er noch Chrysocheir –, und er galt als der größte Theologe unter den Vampiren. Als der Marquis de Pombal ihm seinen Platz überließ, wandte sich der Greis an ihn statt an die Versammlung und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Der Marquis nickte ehrerbietig, dann wandte er sich an die Anwesenden:

      »Der verehrte Vampir möchte nicht mit lauter Stimme für die Öffentlichkeit sprechen. Ich werde sein Sprachrohr sein«, erklärte er. Dann fuhr er fort: »Unser berühmter, ehrwürdiger Bruder meint, der Vorschlag des Vampirs aus der Bukowina sei sinnvoll. Unseren Herrn um Rat zu bitten, erscheint ihm recht und billig. Er schlägt daher vor, dass auf der Stelle eine Delegation zum Paradies aufbricht und noch heute Nacht zurückkehrt, so dass sie uns sogleich vom Ergebnis der Mission Bericht erstatten kann. Die Zeit drängt.«

      Darauf ergriff der jüngere Theologe das Wort, ein Schüler von Gonçalves de Magalhaes:

      »Wenn die Versammlung einverstanden ist«, sagte er, »so schlage ich vor, die Delegierten sofort zu wählen und ihr Beglaubigungsschreiben aufzusetzen. Denn in der Tat muss klar sein, dass die Delegation in feierlicher Weise die Gesamtheit der Vampire repräsentiert.«

      Die Versammlung bekräftigte die Worte des Vampirs durch Applaus. »Aber«, unterbrach der Marquis de Pombal, »wer unterzeichnet das Beglaubigungsschreiben, wenn es in feierlicher Weise den Willen sämtlicher Vampire zum Ausdruck bringen soll?«

      Das folgende Schweigen wurde von einer harten, rauen und schleppenden Stimme unterbrochen. Gonçalves de Magalhaes hatte schließlich doch seine Stimme erhoben:

      »Wer kann mit seiner Unterschrift alle Vampire vertreten? Wer von allen Vampiren ist der einflussreichste im Paradies? Wer, wenn nicht Graf Dracula?«

      Damit war der einzuschlagende Weg klar. Und ebenso klar war die Wahl der Gesandten. Nomini meo adscribatur victoria. Der Marquis de Pombal und der Herzog von Avila, die einzigen unter den Versammelten, die dem Orden vom Goldenen Vlies angehörten. Niemand außer ihnen wäre würdig gewesen, seinen Fuß in die Andachtburg zu setzen und danach vor Unseren Herrn zu treten.

      II

      Ein tiefgelegenes Netz von Schächten, Kanälen und Gängen verband einstmals die großen Residenzen der Vampire. Dann waren viele der Stollen eingestürzt, andere wurden gesperrt. Es hieß, die Andachtburg, die Residenz Draculas, sei vorsätzlich isoliert worden, um Angriffen von Seiten der Menschen vorzubeugen.

      In Wirklichkeit war die Burg nur kurze Zeit ohne unterirdische Verbindung geblieben. Nachdem sie aus Gründen der Verteidigung genötigt gewesen waren, die alten Schächte zum Einsturz zu bringen, hatten die Vampire bald ein neues unterirdisches Netz ausgehoben, das auf der einen Seite kilometerweit unter den Karpaten dahinlief, bis zu den Durchgängen unter dem östlichen Mitteleuropa, die passierbar geblieben waren; auf der anderen Seite führte es zum Schwarzen Meer und unter ihm hindurch bis zu seiner asiatischen Küste.

      Den beiden Gesandten wurde von der Kanzlei der Vollversammlung ein Bleirohr ausgehändigt, welches das Pergament mit dem Beglaubigungsschreiben für Unseren Herrn enthielt. Dann, nachdem sie eine große quadratische Falltüre angehoben hatten, ließen sie sich in einen der zahlreichen unterirdischen Stollen hinab, die den Turm der Gattelusi mit dem Rest der Welt verbanden.

      Es war ein Gang von beachtlicher Breite, in dem die beiden Vampire rasch ausschreiten konnten. Ein sanftes Licht fiel durch große, oben in das Gewölbe eingelassene Quarzblöcke, weshalb man an die Wände gelehnte zerbrochene Marmortafeln, Architrave und Säulen erkennen konnte. In regelmäßigen Abständen waren alte Reliefs in die Wände eingelassen; die beiden Abgesandten erkannten darauf Szenen aus dem Leben Brufolagas, des großen Fürsten der Vampire, beim Gastgelage oder eine Darstellung seiner Beisetzung.

      Der Marquis de Pombal kannte diesen Weg schon. »Auch Menschen sind hier durchgekommen«, sagte er zum Herzog


Скачать книгу