Der Schmetterlingstrieb. Hanno Millesi
Schließlich, schreibt sie, bin ich es, dem sie gefallen will. Ich vermute allerdings, dass es sich dabei um eine eigens für mich inszenierte Liebenswürdigkeit handelt, liegen die auszuwählenden Kleidungsstücke doch gewöhnlich schon bei ihr zu Hause herum. Diesen Umstand versucht sie nicht einmal zu verheimlichen, als wüsste ich ohnedies, wie das Spiel gespielt wird. Eine Fernbeziehung funktioniert eben nach eigenen Regeln. Wem an der Entfernung zwischen ihm und seinem Partner nicht wirklich gelegen ist, läuft Gefahr, an der Unbequemlichkeit, die ein solches Arrangement bereithält, zu zerbrechen. Auch wir haben Zeit benötigt, uns darauf einzustellen. Angefangen hat es mit eigenen Vorstellungen, dann kamen separate Zimmer, getrennte Wohnungen, unterschiedliche Ernährung und verschiedene Freundeskreise. Mittlerweile wohnt sie am anderen Ende der Stadt, was es unwahrscheinlich macht, dass sich unsere Wege im Alltag kreuzen.
Heute ist Tag der Selbstversorger. Ich verschränke meine Arme auf dem Rücken, beuge mich über die Obstschale und beiße in einen darin liegenden Apfel. Der ist mir bereits aufgefallen, als ich in die Küche gekommen bin. Den Apfel zwischen den Zähnen setze ich mich an den Küchentisch. Ich beiße ab, und die Frucht fällt auf die Tischplatte. Ich kaue, schlucke und beiße noch einmal hinein. Das mache ich so lange, bis nur noch Gehäuse und Stängel übrig sind. Die nehme ich zwischen meine Lippen und deponiere sie im Aschenbecher. Danach gleitet meine Zunge ein paar Mal über jene Stellen, an denen der Apfel, während ich ihn verspeist habe, mit der Tischplatte in Berührung gekommen ist.
Als Selbstversorger lebe ich bewusst und belaste meinen Organismus mit keinerlei industriell hergestellten Lebensmitteln, von deren Zusammensetzung ich keine Ahnung habe; allein schon, weil ich an dergleichen nicht herankomme. Der Einkauf eines Selbstversorgers besteht darin, jene Lebensmittel aufzuspüren, die sich ohne Zuhilfenahme seiner Hände verzehren lassen. Die Kühlschranktür kriege ich mit der Spitze meines Fußes und einem Knie auf. Ich könnte an der Butter lecken. Ein Ei ließe sich mit meinen Lippen aus der Verpackung nehmen, in der Spüle aufschlagen und sein Inhalt von der Nirosta-Oberfläche schlürfen. Diese Form der Verköstigung klärt einen rasch darüber auf, worum es in Wahrheit geht – um Tischmanieren jedenfalls nicht. In der Küche avanciert meine Nase zum wichtigsten Körperteil. Sie hilft mir etwa dabei, ein Käseeck aus der Schachtel mit acht anderen zu bekommen, die Lade mit den Süßigkeiten zu öffnen und eine Schwedenbombe herauszunehmen, indem ich sie zwischen Nasenspitze und Oberlippe klemme.
Manchmal habe ich den Eindruck, der Mensch würde sich am liebsten mit allen Gliedmaßen gleichzeitig verköstigen. Er betrachtet das als Errungenschaft der Zivilisation. Was er Besteck nennt, symbolisiert seine Sehnsucht, die Funktionalität seiner Extremitäten würde seinen abwegigen Vorstellungen entsprechen, und diese ließen sich zu bestimmten Anlässen auswechseln.
In einem geflochtenen Körbchen liegen ein paar Walnüsse. Mit der Nase kicke ich zwei davon auf die Küchenablage und nehme mir vor, es genauso zu machen wie mit dem Ei. Auf die Suppe folgt die Hauptspeise, sage ich mir und verhöhne damit, was man in Kreisen, die von sich behaupten, distinguiert zu sein, die Speisefolge nennt. Ein Großteil der Menschheit ist bereit, sich zu vergiften, Hauptsache niemand verstößt dabei gegen eine der geltenden Regeln. Von einer solchen Politik der verbrannten Erde lasse ich die Finger. Ich will mir selbst demonstrieren, was es heißt, sich nach archaischen Grundsätzen zu ernähren. Kopfnuss, fällt mir ein, und ich haue ohne jegliche Vorwarnung mit der Stirn auf eine der beiden Nüsse. Ein stechender Schmerz fährt mir augenblicklich durch den gesamten Schädel. Als würde ein Nagel in meine Stirn getrieben, von dessen Spitze ausgehend die Schmerzen in jeden Quadratzentimeter meines Körpers ausstrahlen. Die Nuss ist heil geblieben, mir jedoch wird schwarz vor Augen. Ich bin benommen und vergesse beinahe, dass Arme und Hände an diesem Tag nicht zum Einsatz kommen dürfen. Meine Knie fühlen sich an wie aus Gummi, ich kann ihnen nicht länger zumuten, mich auf den Beinen zu halten. Tatsächlich spüre ich, wie ich zur Seite hin wegsacke. Im Grunde geht das einigermaßen sanft vor sich, als nähme mich ein außerirdisches Kommando mit auf eine Spritztour durchs All, da ich auf der Erdoberfläche fortwährend Schwierigkeiten mache. Reaktionsschnell ziehe ich meine Hand zurück, schlage mit der Schläfe an die Kante der Arbeitsplatte und verliere das Bewusstsein.
Für eine gelungene Séance lege ich beide Hände auf den Tisch, spreize die Finger und lasse meine Daumen einander berühren. Ich habe zwei Paar Handschuhe vorbereitet, die meine Gesprächspartner darstellen oder aber gemeinsam mit mir dem Übersinnlichen nachspüren. Braune aus Wildleder, die stumm wie zierliches Gehölz auf mich gewartet haben, und grobe Schihandschuhe, die Sportsgeist und Ausdauer symbolisieren. Die Schihandschuhe erwecken den Anschein, als befänden sich nach wie vor Hände in ihnen, die während eines Wettkampfes vom Körper abgetrennt wurden. Winterhände, denke ich, die man saisonbedingt abschraubt wie entsprechende Reifen, um sie gemeinsam mit der kalten Jahreszeit in der Garage verschwinden zu lassen. Mitsamt meinen Händen bilden die vier Handschuhe einen Kreis. Unmittelbar vor der Kontaktaufnahme fällt mir ein, dass sich einer der beiden Wildlederhandschuhe hervorragend für ein Messerritual eignen würde. Dabei legt man den Handschuh, ganz ähnlich wie ich es für unsere Séance gemacht habe, mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte, nimmt ein Jagdmesser zur Hand und sticht es zwischen Daumen und Zeigefinger. Damit ist das Ritual eröffnet. Als nächstes rammt man das Messer in den Zwischenraum, der Zeige- und Mittelfinger trennt. Dann kehrt man zum Ausgangspunkt zurück, also zwischen Daumen und Zeigefinger, atmet ein, sticht in die Tischplatte, zieht das Messer wieder heraus, springt zwischen Mittelund Ringfinger, atmet aus, setzt erneut beim Daumen an, geht dann weiter zu Ringfinger und kleinem Finger, sticht zu, atmet ein, wieder zurück, zustechen, eins weiter, zurück und so fort. Hinzukommt, dass die Geschwindigkeit von Mal zu Mal gesteigert wird. Zurückspringen, einatmen, zustechen, ausatmen. Ob ich es mit beiden Händen versuchen soll? Schließlich habe ich zwei Handschuhe, und mir fällt kaum eine Tastatur ein, der sich mit fünf Fingern auch nur ein Hauch von Virtuosität entlocken ließe. Außerdem kann ich das Paar ohnedies wegschmeißen, sofern ich einen der beiden Handschuhe demoliere. Ehe eine Entscheidung fällt, hat mich die spirituelle Umnachtung jedoch bereits in ihrem finsteren Griff.
Als ich die Augen wieder aufmache, entdecke ich einen Schillerfalter auf meinem Fensterbrett. Er scheint sich zu überlegen, ob er hereinkommen oder weiterfliegen soll. Immerhin stand das Fenster offen, es spricht also nichts dagegen, sich anzuschauen, wie die Menschen so leben. Sein Flügelpaar weist ein in sich verlaufendes Farbenspiel auf, das an ein Aquarell von Wassily Kandinsky erinnert. Allerdings sind nur etwa zwei Drittel seiner Schuppen davon bedeckt. Als hätte dem Meister nicht ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, oder die Unvollständigkeit verweise auf die mangelhafte Integrität des modernen Menschen. Braune Farbtöne dominieren, vermischt mit etwas Schwarz und Weiß. Der Falter lässt mich an den Herbst denken und den Appell dieser Jahreszeit, zusammenzuräumen, hineinzugehen, die Jacke zuzuknöpfen – vielleicht auch das Fenster zu schließen. Ohne den Falter aus den Augen zu lassen, erhebe ich mich von meinem Sofa und achte darauf, keine überflüssige Bewegung zu machen. Mit rückwärts gesetzten Schritten nähere ich mich der Tür zum Schlafzimmer, als verließe ich die Audienz einer Majestät. Sobald ich an der Tür bin, fällt sämtliche Spannung von meinem Körper ab. Ich verlasse das Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Damit will ich verhindern, dass sich der Falter in meinen Räumlichkeiten verirrt. Durch mein plötzliches Erwachen verunsichert, könnte er sich veranlasst sehen, von einem Zimmer ins nächste zu flüchten, wodurch er sich immer tiefer in die Ausweglosigkeit meines Zuhauses begäbe. Meine Versuche, ihm den Weg in die Freiheit zu weisen, kämen ihm wie Anschläge auf sein Leben vor. Etwa um seiner Schönheit willen. Dabei geht die Gefahr gar nicht von mir aus.
Die Bedrohung lauert in jedem Winkel meiner Wohnung. Betrete ich unangekündigt ein Zimmer, kann ich mich davon überzeugen. Im Normalfall zieht sie sich, ehe ich auf der Bildfläche erscheine, zurück und lässt mich wie eine hysterische Person aussehen, in deren Inneren der Verdacht heranwächst, gegen sie sei eine Verschwörung im Gange. Natürlich glaubt niemand so jemandem, wie auch ich in hellen Momenten an der Stichhaltigkeit meiner eigenen Vermutung zweifle. Dabei spüre ich es ganz deutlich: Meine Wohnung will sich meiner bemächtigen. Etwa, um mich zum Vollstrecker einer obskuren Weissagung zu machen. Einer jener berüchtigten Unterkünfte in der Literatur vergleichbar, blickt sie auf eine dunkle Vergangenheit zurück. Die unvorteilhafte Aura zahlreicher Verfehlungen und die Erinnerung an Versäumnisse