Der Schmetterlingstrieb. Hanno Millesi
Strahlen, Spritzer, die von der Dynamik des Auftreffens an der Wand aus dem chaotischen Zentrum des Flecks getrieben wurden, senken sich. Rinnspuren brechen Richtung Küchenboden auf und ziehen Bahnen wie Tränen, die sich aus dem Einflussgebiet stark geschminkter Augen verabschieden, aber auch wie bunte Vektoren von Feuerwerkskörpern, denen im Anschluss an eine euphorische Kurve unmittelbar nach der Explosion die Energie ausgegangen ist.
Anstatt wütend zu werden und meine Unaufmerksamkeit zu verfluchen, begreife ich, dass ich es mit Malerei zu tun habe. Der Tagesablauf hat mir ein Bild beschert, ohne dass ich mich hingesetzt habe, um irgendetwas zu zeichnen oder auszuschneiden. Hier spricht die andere Seite zu mir, das, was ich ebenfalls bin, sofern meine Vorstellungskraft sich nicht damit begnügt, mich zu versorgen und mit einer Liste von Aufgaben auszustatten. Das dort gebiert mein Sein. Eine solche Spur hinterlässt, was ich so tue, wenn ich mich, aus einer Unachtsamkeit heraus, einmal nicht an die Regeln halte.
Sobald vor meinem Fenster die Dämmerung hereinbricht, gehen in den Häusern gegenüber die Lichter an. Plötzlich muss ich meine Arbeit unterbrechen. Mein Herz hat zu rasen begonnen, und ich befürchte, jeden Augenblick vom Schreibtischsessel zu kippen. Ginge es nach meinem Herzen, würde es aus meinem Brustkorb herausschießen und, einem batteriebetriebenen Kinderspielzeug nicht unähnlich, durch meine Wohnung rollen, hüpfen oder wabern wie eine Blase, in der winzige Lebewesen eingeschlossen sind, die keine Ahnung haben, in welche Richtung sie sich mitsamt der sie umschließenden Ummantelung bewegen. Ich sichere, was ich geschrieben habe, atme durch und entnehme dem Arzneischränkchen im Badezimmer eine Tablette. Ehe ich sie hinunterschlucke, nehme ich mir noch eine zweite heraus, da der Anfall einigermaßen heftig zu werden droht. Dann kehre ich an meinen Schreibtisch zurück. Hoffentlich wirken die Tabletten bald; und zwar in der von mir gewünschten Weise. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht nachgesehen, gegen welche Beschwerden der Hersteller sie empfiehlt. Sie sind einfach da wie all die anderen, die sich im Laufe der Zeit in meinem Schränkchen angesammelt haben, und wurden – da bin ich sicher – ebenso fachmännisch getestet. Meine Herzraserei scheint mir eine günstige Gelegenheit, zumindest die eine oder andere einzunehmen. Mein Vorrat muss reduziert werden! Woanders mangelt es an der simpelsten medizinischen Versorgung, und ich soll mir zu schade sein, meinen wertvollen Organismus wissenschaftlich erprobten Medikamenten auszusetzen? Ich möchte nicht wissen, wie viele Tiere ihr Leben gelassen haben, damit ich keinerlei Unannehmlichkeiten haben muss.
Computer und Tastatur scheinen weiter weg als zuvor. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass ich an meinem Schreibtisch sitze. Die Hose gehört mir, ich erkenne sie wieder. Aber die Beine? Ich habe diese Hose während eines Wandertages im Wald gefunden. Oder war das meine Uhr? Meine Ohren? Im Moment geht es jedoch um mein Herz. Ich spüre es nicht mehr. Als ob es sich innerhalb meines Körpers in nichts aufgelöst hätte. Mir wird schlecht. Allerdings nicht bei dem Gedanken, mein Herz könnte den ihm zugewiesenen Platz verlassen haben, sondern weil sich eine Druckwelle von meinem Magen aus auf den Weg gemacht hat wie auf einem japanischen Holzschnitt. Ich muss mich übergeben, weigere mich jedoch, weil ich befürchte, unter dem, was aus mir herausdrängen würde, könnte sich auch mein Herz befinden. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wo es sich herumtreibt, seit es gefühllos geworden ist. Jedenfalls presse ich meine Lippen aufeinander und halte mir zusätzlich die zur Faust geballte Hand vor den Mund. In meinem Kopf scheint etwas zu zerplatzen. Durch meine Nase verliere ich ein paar Tropfen einer beißenden Lösung. Ein flüssiger Dämon, sage ich mir, der aus mir ausfahren möchte und vorhat, einige der wichtigsten Einrichtungsgegenstände mitzunehmen. Ich muss trotz verschlossenen Mundes husten, und der erste Schwall peitscht wie verwunschene Gischt an meinen Unter- und Oberkiefer. Ich beiße die Zähne zusammen. Aus den Ohren entweicht Druckluft, als tauche in meinem Inneren ein ganzer Ozean auf. Ich muss jetzt erst einmal warten, bis sich alles in mir einigermaßen beruhigt hat. Dann kann ich darangehen, das Abwasser wieder dorthin zu leiten, wo es hergekommen ist. Ich schätze, meine Mundwinkel sind undicht, aber es ist der Wille, der zählt, die Entschlossenheit. Entschlossen hole ich zum Gegenangriff aus, um die Kloake wieder in den Abgrund zu versenken, in den sie gehört. Auf ihrem erzwungenen Rückweg trifft die verfluchte Ladung jedoch auf eine Gegenströmung, woraus ein Strudel entsteht, der dafür sorgt, dass das, was mir an Wahrnehmung geblieben ist, implodiert, sich also in mein Inneres hinein zurückzieht. In der Folge verfinstert sich mein Zustand, ich kippe vom Schreibtischsessel und verliere das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich inmitten einer getrockneten, übel riechenden Lacke und fühle mich … befreit. Das musste früher oder später heraus, sage ich mir und greife instinktiv dorthin, wo mein Herz vor all diesen Ereignissen gewesen ist. Ich spüre es ganz deutlich. Gleichmäßig schlägt es in einem Takt, der mich glauben lässt, es kichere darüber, wie leicht ich aus der Fassung zu bringen bin.
Als ich den Inhalt meiner Wäschelade begutachte, geht plötzlich das Licht aus. Ich begreife recht schnell, dass das nicht ausschließlich mir gilt. Vor meinem inneren Auge sehe ich zahlreiche Haushalte sich verfinstern, Maschinen, die zum Stillstand kommen, Tätigkeiten, die aussetzen. Filme reißen ab, Musik verstummt – es sei denn, sie entstammt einem akustischen Instrument –, Elektrostrahler, Bügeleisen und tröstliche Stimmen in Hörbüchern spenden mit einem Mal keine Wärme mehr.
Ich frage mich, ob etwas daran nicht doch mir gilt. Soll ich regungslos hier sitzen bleiben und im Finstern in die Lade starren, bis um mich herum allesamt den Betrieb wieder aufnehmen? Auf diese Art ließe sich aus der völligen Ereignislosigkeit ein unserer Zeit gemäßer Wettkampf machen. Aber das ist nichts als die faule Ausrede mangelnden Selbstbewusstseins. Ich bin ein Mensch, der begriffen hat, dass die ewige Wiederkehr von Fragen à la wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen lediglich jahrhundertelanger Einfallslosigkeit geschuldet ist. Mittlerweile gilt es, viel mehr und viel Interessanteres herauszufinden. Ich verlasse meine abwartende Position und begebe mich im Dunkeln – was mir nicht schwerfällt – in die Küche, wo ich eine Kerze aus dem Schrank nehme. Die brennende Kerze in der Hand gehe ich zurück in das Zimmer mit der Wäschekommode und komme mir feierlich vor und altertümlich, wie in ein längst vergangenes Zeitalter zurückversetzt. In der Dunkelheit sieht man nicht, was modern ist. Die Kerze beleuchtet nur, was immer so war, seit es dieses Gebäude gibt. Weiter lässt sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Mit einem Mal erfüllt es mich mit großer Zufriedenheit, hier zu stehen und die Dunkelheit zu beleuchten. Ich wäre froh, würde das reichen. Wäre zum Beispiel jemand da, der Licht benötigt, hätte meine momentane Tätigkeit bereits ausreichend Sinn. Dann wieder gefällt mir, dass die Kerze vorwiegend ihr eigenes Leuchten beleuchtet. Außerdem noch meine Hand, in der sie steckt.
In dem vor der Wärme zurückgewichenen Hof unterhalb des Dochtes hat sich flüssiges Wachs angesammelt und beginnt allmählich, am Körper der Kerze herunterzurinnen. Zwischen dem Docht mit der Flamme und meiner Hand befindet sich nichts, um das herannahende Wachs aufzuhalten. Mir fallen Geburtstage, Taufe und Kommunion ein, und ich bedaure, dass sich am Hals der Kerze keine Skala befindet, an der ich ablesen könnte, wie viel Zeit mir noch bleibt. Würde ich die Kerze schräg halten, liefe das Wachs auf der anderen Seite und noch dazu unkontrolliert herunter. Ich antizipiere den Schmerz und nehme mir vor, die Zähne zusammenzubeißen. Es wird kurz wehtun, dann trocknet die Flüssigkeit, wodurch eine undurchdringliche Schicht entsteht, die das nachkommende Wachs auffängt und den zusätzlichen Schmerz mildert. Während das heiße Wachs langsam, aber stetig zu meiner Hand herunterrinnt, bilde ich mir ein, einem immens wichtigen Vorgang, der unter gar keinen Umständen den Blicken entzogen werden darf, Licht zu spenden. Alles hängt jetzt davon ab, ob ich durchhalte. Als das Wachs beinahe schon meine Hand erreicht hat, erscheint mir das plötzlich unsinnig, weil hier ja gar nichts geschieht. Allerdings fällt mir gerade noch ein, dass auch die Tatsache, dass eben nichts geschieht, mitunter von großer Bedeutung sein kann. Dieses Argument überzeugt mich.
Als das heiße Wachs schließlich mit meiner Hand in Berührung kommt, lasse ich die Kerze dennoch fallen. Der Schmerz war größer, als ich erwartet hatte.
II.
Meine Schmutzwäsche sammle ich in einem taillierten Flechtkorb, wie ihn Schlangenbeschwörer verwenden, um ihre gelehrigen Tiere darin aufzubewahren. Die den Schlangen eigene, gespenstische Physiognomie erlaubt es diesen Tieren, in sich zusammengerollt auf jenen Zeitpunkt zu warten, an dem sie von einer